Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 136 III 455



Urteilskopf

136 III 455

65. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_377/2010 vom 4. Oktober 2010

Regeste

Art. 122 und 123 Abs. 2 ZGB; Teilung der Austrittsleistungen aus beruflicher
Vorsorge.
Der Anspruch auf Vorsorgeausgleich besteht voraussetzungslos und unabhängig vom
Nachweis eines ehebedingten Vorsorgeschadens oder von einer bestimmten
Aufgabenteilung während der Ehe. Beträchtliches Vermögen und finanzielle
Sicherheit machen für sich allein die Teilung der Austrittsleistungen nicht
offensichtlich unbillig (E. 2-4).

Sachverhalt ab Seite 456

BGE 136 III 455 S. 456
X. (Ehemann/Beschwerdeführer), Jahrgang 1961, und Y. (Ehefrau/
Beschwerdegegnerin), Jahrgang 1956, heirateten 1988. Die Ehegatten haben keine
Kinder. Die Ehefrau besorgte den Haushalt und arbeitete zu Beginn der Ehe
teilzeitlich. Ihre Erwerbstätigkeit gab sie nach wenigen Jahren auf. Sie
verwaltete ihr Vermögen, bestehend insbesondere aus geerbten Liegenschaften,
und erzielte im Jahr 2005 einen Nettoertrag von rund Fr. 10'000.- monatlich.
Der Ehemann war stets vollzeitlich in leitender Funktion bei einer Privatbank
angestellt. Sein Gehalt belief sich im Jahr 2005 auf rund Fr. 14'000.-
monatlich. Im Oktober 2005 trennten sich die Ehegatten.
Auf Begehren der Ehegatten hin schied das Kantonsgericht die Ehe. Es sprach der
Ehefrau keinen nachehelichen Unterhalt zu, verweigerte die Teilung des
Guthabens des Ehemannes aus beruflicher Vorsorge und genehmigte die
Vereinbarung über die güterrechtliche Auseinandersetzung. Y. legte Berufung
ein. Das Obergericht hiess die Berufung gut und entschied, das während der Ehe
geäufnete Freizügigkeitsguthaben von X. werde hälftig geteilt.
Das Bundesgericht weist die von X. dagegen erhobene Beschwerde ab, soweit es
darauf eintritt.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. In tatsächlicher Hinsicht hat das Obergericht festgestellt, dass das
Vermögen der Beschwerdegegnerin rund 3,1 Mio. Fr. (Steuerwert) betrage, während
der Beschwerdeführer über kein Vermögen verfüge. Der Vermögensunterschied sei
auf eine Erbschaft der
BGE 136 III 455 S. 457
Beschwer degegnerin zurückzuführen. Der Beschwerdeführer habe 2007 als Banker
einen jährlichen Nettolohn von Fr. 190'567.- (inklusive Bonus von Fr. 70'000.-)
erzielt, d.h monatlich Fr. 15'880.- bzw. Fr. 12'057.70 inklusive 13. Monatslohn
ohne Bonusanteil. Die Beschwerdegegnerin habe aus ihrem Vermögen einen
monatlichen Nettoertrag von durchschnittlich Fr. 9'216.- erwirtschaftet. Gegen
diese Tatsachenfeststellungen erhebt und begründet der Beschwerdeführer keine
ausnahmsweise zulässigen Sachverhaltsrügen (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts ist damit für das Bundesgericht verbindlich und
dem vorliegenden Urteil zugrunde zu legen (Art. 105 Abs. 1 BGG). Soweit der
Beschwerdeführer von einem abweichenden Sachverhalt ausgeht, sind seine
Vorbringen nicht zu hören (BGE 135 II 313 E. 5.2.2 S. 322; BGE 134 I 65 E. 1.5
S. 68). Keinerlei Feststellungen finden sich im angefochtenen Urteil zur
Behauptung, hinter dem Antrag der Beschwerdegegnerin, das Vorsorgeguthaben
hälftig zu teilen, stünden keine berechtigten Ansprüche, sondern die reine
Habgier und das Bemühen, den Beschwerdeführer materiell zu schädigen. Mangels
entsprechender Tatsachenfeststellungen kann der Vorwurf des Beschwerdeführers,
das geschilderte Verhalten der Beschwerdegegnerin erscheine als krass
rechtsmissbräuchlich, nicht beurteilt werden (vgl. BGE 133 III 497 E. 5 S. 505
ff.; BGE 134 III 52 E. 2 S. 58 f.).

3. In rechtlicher Hinsicht hat das Obergericht die unterschiedlichen
Auffassungen der Gerichtsmehrheit und der Gerichtsminderheit dargelegt. Die
Gerichtsmehrheit ist davon ausgegangen, nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung sei das Vorsorgeguthaben hälftig zu teilen. Die
Gerichtsminderheit hat angenommen, dass sich der vorliegende Fall von den
bundesgerichtlich bisher beurteilten Fällen unterscheide, die hälftige Teilung
deshalb unbillig sei und das Vorsorgeguthaben im Verhältnis von^5 /^8 zugunsten
des Beschwerdeführers und von^3 /^8 zugunsten der Beschwerdegegnerin zu teilen
sei. Der Beschwerdeführer schliesst sich der Ansicht der Gerichtsminderheit an,
beantragt gestützt darauf aber, die Teilung seiner Austrittsleistung ganz zu
verweigern.

4. Die Gerichtsmehrheit kann ihre Entscheidung auf die Rechtsprechung des
Bundesgerichts stützen. Davon abzuweichen, geben weder die Überlegungen der
Gerichtsminderheit noch die Einwände des Beschwerdeführers begründeten Anlass.
Im Einzelnen geht es um Folgendes:
BGE 136 III 455 S. 458

4.1 Anders als die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführer ab der
Eheschliessung bis zur Ehescheidung einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge
angehört. Für diesen Fall sieht Art. 122 Abs. 1 ZGB vor, dass die
Beschwerdegegnerin Anspruch auf die Hälfte der nach dem Freizügigkeitsgesetz
vom 17. Dezember 1993 (SR 831. 42) für die Ehedauer zu ermittelnden
Austrittsleistung des Beschwerdeführers hat. Der gesetzliche Anspruch auf
Teilung der Austrittsleistungen bezweckt einen Ausgleich für die
vorsorgerechtlichen Nachteile der während der Ehe erfolgten Aufgabenteilung und
dient der wirtschaftlichen Selbstständigkeit jedes Ehegatten nach der
Scheidung. Daraus folgt, dass jeder Ehegatte in der Regel einen
voraussetzungslosen Anspruch auf die Hälfte der während der Ehe erworbenen
Anwartschaften aus der beruflichen Vorsorge hat (BGE 135 III 153 E. 6.1 S.
155). Diese in der Rechtsprechung wiederholt anzutreffende Formulierung darf,
wie das Bundesgericht mehrfach hervorgehoben hat, nicht in dem Sinne verstanden
werden, dass ein Anspruch auf Vorsorgeausgleich nur besteht, wo auf Grund der
Aufgabenteilung während der Ehe ein vorsorgerechtlicher Nachteil entstanden und
insoweit eine Art ehebedingter Vorsorgeschaden nachgewiesen ist. Der
Teilungsanspruch hat zwar den erwähnten Zweck, ist damit aber Ausdruck der mit
der Ehe verbundenen Schicksalsgemeinschaft und als Folge der
Schicksalsgemeinschaft nicht davon abhängig, wie sich die Ehegatten während der
Ehe in die Aufgaben geteilt haben. Wie im Güterrecht findet auch hier der
Ausgleich der während der Ehe erworbenen Rechte grundsätzlich voraussetzungslos
statt. Die Ausnahmen von diesem Grundsatz ergeben sich aus Art. 123 Abs. 1 und
2 ZGB und - in beschränktem Umfang - aus dem Verbot des offenbaren
Rechtsmissbrauchs (Urteil 5A_623/2007 vom 4. Februar 2008 E. 5.2, in: FamPra.ch
2008 S. 390 f., und die seitherige ständige Rechtsprechung, insbesondere Urteil
5A_79/2009 vom 28. Mai 2009 E. 2.1). Soweit der Beschwerdeführer einen
vorsorgerechtlichen Nachteil auf Seiten der Beschwerdegegnerin bestreitet oder
dessen fehlenden Nachweis bemängelt, gehen seine Vorbringen an der massgebenden
Rechtslage vorbei.

4.2 Das Gericht kann die Teilung gemäss Art. 123 Abs. 2 ZGB ganz oder teilweise
verweigern, wenn sie aufgrund der güterrechtlichen Auseinandersetzung oder der
wirtschaftlichen Verhältnisse nach der Scheidung offensichtlich unbillig wäre.
Der Begriff "offensichtlich unbillig" meint absolut stossend, äusserst
ungerecht und völlig unhaltbar (vgl. Urteil 5C.49/2006 vom 24. August 2006 E.
3.1, in:
BGE 136 III 455 S. 459
FamPra.ch 2006 S. 930). Die Bestimmung ist restriktiv auszulegen (BGE 135 IIII
153 E. 6.1 S. 155). Die Tatsache, dass der anspruchsberechtigte Ehegatte über
beträchtliches Vermögen verfügt und deshalb für die Zukunft finanziell
abgesichert ist, rechtfertigt den Ausschluss der Teilung für sich allein nicht
(BGE 133 III 497 E. 4.5 S. 503; vgl. zitiertes Urteil 5C.49/2006 E. 3, in:
FamPra.ch 2006 S. 929 ff., und zitiertes Urteil 5A_79/2009 E. 2). Entgegen der
Darstellung des Beschwerdeführers begründen Vermögen und finanzielle
Sicherheit, wie sie bei der Beschwerdegegnerin vorhanden sind, für sich
genommen keinen Ausschlussgrund im Sinne von Art. 123 Abs. 2 ZGB.

4.3 Die Beurteilung der offensichtlichen Unbilligkeit gemäss Art. 123 Abs. 2
ZGB beruht auf Ermessen (Art. 4 ZGB; BGE 129 III 577 E. 4.2.2 S. 578). Im
Rahmen der gesetzlichen Ausschlussgründe sind deshalb sämtliche Umstände des
konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen (anschaulich: zitiertes Urteil 5A_79/
2009 E. 2). Das Obergericht (Mehrheit) hat denn auch die lange Ehedauer und die
Aufgabenverteilung in der Ehe und die Tatsache in die Beurteilung einbezogen,
dass der bald achtundvierzigjährige Beschwerdeführer in den verbleibenden
Erwerbsjahren bis zu seiner Pensionierung bei seinem Verdienst noch ein
deutlich grösseres Vorsorgeguthaben werde ansparen können als die
dreiundfünfzigjährige Beschwerdegegnerin, die mangels beruflicher Erfahrung und
aufgrund ihres Alters kaum eine (annähernd gleichwertige) Arbeit finden dürfte.
Die obergerichtlichen Ausführungen tragen sämtlichen Umständen des zu
beurteilenden Falls Rechnung. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
darf die Ehe, die bis zur tatsächlichen Trennung siebzehn Jahre und bis zur
Scheidung über zwanzig Jahre gedauert hat, auf Grund der sog. klassischen
Rollenverteilung unter den Ehegatten als lebensprägend betrachtet werden,
selbst wenn die Ehegatten kinderlos geblieben sind. Kinderlosigkeit schliesst
die Annahme einer lebensprägenden Ehe nicht von vornherein aus (vgl. Urteile
5C.169/2006 vom 13. September 2006 E. 2.5, in: FamPra.ch 2007 S. 147 f., und
5C.149/2004 vom 6. Oktober 2004 E. 4.4 und 4.5, in: FamPra.ch 2005 S. 354 ff.).

4.4 Die Gerichtsminderheit, deren Ansicht sich der Beschwerdeführer
anschliesst, hat gegenüber einer hälftigen Teilung der Austrittsleistung zu
Bedenken gegeben, dass die Beschwerdegegnerin keine Kinder habe aufziehen
müssen und daher grundsätzlich auch die Möglichkeit gehabt hätte, ein eigenes
Vorsorgeguthaben
BGE 136 III 455 S. 460
aufzubauen, was sie jedoch - aus Gründen, die dahingestellt bleiben könnten -
nicht getan habe, und dass der Beschwerdeführer - abgesehen vom
Vorsorgeguthaben - über keinerlei Vermögen verfüge, weil die Parteien offenbar
einen hohen Lebensstandard geführt hätten. Zu diesen beiden Punkten ist
lediglich festzuhalten, dass sich kein Ehegatte nach einer langjährigen Ehe
seinen Beitrag an den gebührenden Unterhalt der Familie muss vorwerfen lassen,
den er aufgrund der - allenfalls konkludent erfolgten - Verständigung der
Ehegatten geleistet hat (Art. 163 Abs. 2 ZGB). Haben sich die Parteien hier
darauf verständigt, dass die Beschwerdegegnerin ihren Beitrag durch das
Besorgen des Haushaltes leistet, ist es müssig und unzulässig, der
Beschwerdegegnerin vorzuhalten, sie hätte in Anbetracht ihrer Kinderlosigkeit
die Möglichkeit gehabt, einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die von
beiden Ehegatten während langer Ehe gelebte und damit gewollte Aufgabenteilung
schafft berechtigtes Vertrauen, das im Zeitpunkt der Scheidung nicht enttäuscht
werden darf. Die Tatsache sodann, dass der Beschwerdeführer heute über kein
Vermögen verfügt, liegt nicht darin begründet, dass er mit seinem monatlichen
Einkommen für einen Zweipersonenhaushalt allein hätte aufkommen müssen. In
tatsächlicher Hinsicht verhält es sich vielmehr so, dass die Ehegatten ihre
Errungenschaftsmittel, d.h. sowohl den Arbeitserwerb des Beschwerdeführers von
über Fr. 10'000.- monatlich (Art. 197 Abs. 2 Ziff. 1 ZGB) als auch die Erträge
des Eigenguts der Beschwerdegegnerin in vergleichbarer Höhe (Art. 197 Abs. 2
Ziff. 4 ZGB), vollständig für den Familienunterhalt verwendet und deshalb keine
hälftig zu teilende Errungenschaft (Art. 215 ZGB) gebildet haben. Die während
langen Ehejahren gelebte und damit gewollte Verwendung der vorhandenen Mittel
ist auch im Zeitpunkt der Scheidung zu beachten, so dass es grundsätzlich kein
Ehegatte dem anderen Ehegatten zu entgelten hat, dass im Scheidungszeitpunkt
kein während der Ehe erwirtschaftetes Vermögen in Form von Ersparnissen
vorhanden ist, die geteilt werden könnten.

4.5 Insgesamt kann der auf Ermessen beruhende Entscheid nicht beanstandet
werden, in Anbetracht der konkreten vorsorgerechtlichen Situation sei die
Austrittsleistung des Beschwerdeführers hälftig zu teilen und diese Teilung
weder ganz noch teilweise zu verweigern (vgl. zum Ermessensentscheid und dessen
Überprüfung: BGE 135 III 121 E. 2 S. 123 f. und 259 E. 2.5 S. 264).