Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 V 74



Urteilskopf

135 V 74

10. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. N. gegen
Ausgleichskasse Schwyz (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_473/2008 vom 19. Dezember 2008

Regeste

Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG; Art. 60 und 135 ff. OR; Unterbrechung der Verjährung
des Schadenersatzanspruchs. Der Schadenersatzanspruch nach Art. 52 Abs. 1 AHVG
kann auch während des Einspracheverfahrens oder verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahrens verjähren (E. 4.2.2).

Sachverhalt ab Seite 74

BGE 135 V 74 S. 74

A. N. war seit 1991 Mitglied des Verwaltungsrates, vom 13. Dezember 1998 bis
14. März 2002 Delegierter mit Kollektivunterschrift zu zweien, der Firma X. Die
Firma war der Ausgleichskasse Schwyz angeschlossen. Am 22. April 2002 wurde
über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet und danach im summarischen Verfahren
durchgeführt. Am 5. Dezember 2003 erfolgte die Auflage des Kollokationsplanes
samt Lastenverzeichnis und Inventar. Am 2. April 2004 wurde der Konkurs
geschlossen. Die von der Ausgleichskasse eingegebene Forderung u.a. für nicht
oder zu wenig bezahlte Sozialversicherungsbeiträge des Bundes sowie nach
kantonalem Recht für 2001 und 2002 blieb bis auf eine Konkursdividende von Fr.
3'163.15 ungedeckt. Mit Verfügung vom 20. September 2004 forderte die
Ausgleichskasse von N. Schadenersatz in der Höhe von Fr. 59'248.45.
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Mit Einspracheentscheid vom 28. Januar 2008 bestätigte sie die
Schadenersatzpflicht in der verfügten Höhe.

B. Die Beschwerde des N. wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit
Entscheid vom 17. April 2008 ab.

C. N. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem
Rechtsbegehren, der Entscheid vom 17. April 2008 und demzufolge die
Schadenersatzverfügung vom 20. September 2004 seien aufzuheben.
Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht
und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Der angefochtene Entscheid bestätigt den Einspracheentscheid vom 28. Januar
2008, womit die Ausgleichskasse den Beschwerdeführer - gestützt auf Art. 52
AHVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) - zur Bezahlung
von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 59'248.45 für entgangene
Sozialversicherungsbeiträge des Bundes sowie Beiträge an die Kantonale
Familienausgleichskasse (nachfolgend: FAK-Beiträge) samt Verwaltungskosten,
Mahngebühren und Verzugszinsen für 2001 und 2002 verpflichtete.
Der Beschwerdeführer bestreitet eine Schadenersatzpflicht. Die geltend gemachte
Forderung sei verjährt, weil die Ausgleichskasse über die Einsprache gegen die
Schadenersatzverfügung vom 20. September 2004 erst am 28. Januar 2008
entschieden habe. In dieser Zeit habe die Verwaltung keine
verjährungsunterbrechende Handlung unternommen, sodass der
Schadenersatzanspruch spätestens zwei Jahre nach Einspracheerhebung erloschen
sei. Sodann entfalle eine Schadenersatzpflicht u.a. auch, weil es sich, wie in
BGE 121 V 243, lediglich um Ausstände von kurzer Dauer gehandelt und ohnehin
keine Schädigungsabsicht bestanden habe.

3. Die Vorinstanz hat, wie die Ausgleichskasse im Einspracheentscheid, nicht
danach unterschieden, ob die Forderung entgangene Sozialversicherungsbeiträge
des Bundes oder FAK-Beiträge betrifft. Gemäss § 30 Abs. 2 des schwyzerischen
Gesetzes vom 11. September 1991 über die Familienzulagen (in der bis 31.
Dezember 2002 in Kraft gestandenen Fassung) hat ein Arbeitgeber den durch
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vorsätzliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften verursachten
Schaden der Kasse zu ersetzen. § 31 erklärt die Bestimmungen der
Bundesgesetzgebung über die Familienzulagen in der Landwirtschaft sinngemäss
als ergänzendes Recht anwendbar, soweit dieses Gesetz keine Regelung enthält.
Es ist zweifelhaft, ob dies eine genügende gesetzliche Grundlage für eine
(subsidiäre) Schadenersatzpflicht der Organe einer Aktiengesellschaft darstellt
(vgl. BGE 134 I 179), und bejahendenfalls, ob die Haftungsgrundsätze nach Art.
52 AHVG, in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung, wenigstens
sinngemäss anwendbar wären. Dieser Punkt kann indessen offenbleiben. Die Frage
der Verjährung des Schadenersatzanspruchs für entgangene
Sozialversicherungsbeiträge des Bundes beurteilt sich intertemporalrechtlich
nach Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung
(vgl. E. 4.1 hienach). Der Anspruch war in diesem Zeitpunkt nach der bis 31.
Dezember 2002 gültig gewesenen Regelung gemäss aArt. 82 Abs. 1 AHVV (SR
831.101) noch nicht verwirkt. Die Ausgleichskasse musste frühestens mit der
Auflage des Kollokationsplans (mit Lastenverzeichnis und Inventar) am 5.
Dezember 2003 fristauslösende Kenntnis vom Schaden haben (BGE 119 V 89 E. 3 S.
92 mit Hinweisen; BGE 134 V 353). § 32 Abs. 2 des seit 1. Januar 2003 in Kraft
stehenden kantonalen Gesetzes vom 17. April 2002 über die Familienzulagen (SRSZ
370.100) bestimmt: "Verursacht ein Arbeitgeber durch vorsätzliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden, so hat er diesen
der Kasse zu ersetzen. Art. 52 AHVG ist sinngemäss anwendbar." Nach dieser
Regelung ist somit die im Vordergrund stehende Verjährungsfrage auch in Bezug
auf die kantonalrechtlichen FAK-Beiträge ebenfalls im Lichte von Art. 52 Abs. 3
und 4 AHVG zu prüfen.

4. Das kantonale Gericht hat die Verjährungseinrede des Beschwerdeführers als
unbegründet erachtet. Für die Frage der Fristwahrung käme weder der Dauer
zwischen Einsprache und Einspracheentscheid Bedeutung zu, noch seien nach dem
fristgerechten Erlass der Schadenersatzverfügung weitere die Frist
unterbrechende Massnahmen erforderlich.

4.1 Gemäss Art. 52 AHVG macht die zuständige Ausgleichskasse den
Schadenersatzanspruch durch Verfügung geltend (Abs. 2). Der
Schadenersatzanspruch verjährt zwei Jahre, nachdem die zuständige
Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat, jedenfalls fünf Jahre nach
Eintritt des Schadens. Diese Fristen können
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unterbrochen werden (Abs. 3 Satz 1 und 2). Wird der Schadenersatzanspruch aus
einer strafbaren Handlung hergeleitet, für die das Strafrecht eine längere
Verjährung vorschreibt, so gilt diese Frist (Abs. 4).
Bei den Fristen nach Art. 52 Abs. 3 und 4 AHVG handelt es sich um
Verjährungsfristen, die unterbrochen werden können (BGE 131 V 425 E. 3.1 S. 427
mit Hinweis; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 136/05 vom 23. November
2006 E. 4.1; UELI KIESER, Alters- und Hinterlassenenversicherung, in: Soziale
Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 1308 Rz. 322; MARCO REICHMUTH, Die
Haftung des Arbeitgebers und seiner Organe nach Art. 52 AHVG, 2008, S. 194 Rz.
813).

4.2

4.2.1 Das Gesetz regelt nicht, durch welche Handlungen der Ausgleichskasse und
der Beschwerdeinstanzen (kantonales Versicherungsgericht, Bundesgericht) sowie
der in Anspruch genommenen Person die Verjährung unterbrochen wird und die
Dauer der nach der Unterbrechung neu laufenden Frist. Mit Blick auf die
Entstehungsgeschichte von Art. 52 Abs. 3 AHVG (vgl. Parlamentarische Initiative
Sozialversicherungsrecht, BBl 1994 V 983 Ziff. 62, Begründung ad Art. 52 Abs. 2
und 3 AHVG, und Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit
und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4763 Ziff. 67 ad Art. 52 Abs. 3 und
4 AHVG) sind subsidiär die im Rahmen von Art. 60 OR (Verjährung des Anspruchs
auf Schadenersatz aus unerlaubter Handlung [Art. 41 ff. OR]) massgeblichen
allgemeinen Bestimmungen nach Art. 135 ff. OR (BGE 123 III 213 E. 6a S. 219 mit
Hinweisen auf die Lehre) heranzuziehen (REICHMUTH, a.a.O., S. 194 Rz. 814; vgl.
auch BGE 131 V 55 E. 3.1 S. 56 sowie BGE 129 V 11 E. 3.5.1 und 3.5.2 S. 14).
Die Verjährung wird unterbrochen u.a. durch Klage oder Einrede vor einem
Gerichte (Art. 135 Ziff. 2 OR). Mit der Unterbrechung beginnt die Verjährung
von neuem (Art. 137 Abs. 1 OR). Wird die Verjährung durch eine Klage oder
Einrede unterbrochen, so beginnt im Verlaufe des Rechtsstreites mit jeder
gerichtlichen Handlung der Parteien und mit jeder Verfügung oder Entscheidung
des Richters die Verjährung von neuem (Art. 138 Abs. 1 OR). Bei einer
gerichtlich angeordneten Sistierung des Verfahrens steht jedoch - analog zu
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR - die Verjährung bis zum Wegfall des
Sistierungsgrundes still (BGE 130 III 202 E. 3.2 S. 206). Diese
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Grundsätze gelten auch für allenfalls längere strafrechtliche
Verjährungsfristen. Bei Unterbrechung der Verjährung durch eine richterliche
Verfügung erst nach Eintritt der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung wird
aber nur eine neue - in der Regel kürzere - zivilrechtliche Verjährungsfrist
ausgelöst (BGE 131 III 430 E. 1 S. 433 ff.). Bei der Anwendung dieser Regelung
im Rahmen von Art. 52 AHVG ist zu beachten, dass im Unterschied zum
Privatrecht, wo die Verjährung nur durch die in Art. 135 Ziff. 1 und 2 OR
genannten Handlungen unterbrochen werden kann, alle Akte, mit denen die
Schadenersatzforderung gegenüber dem Schuldner in geeigneter Weise geltend
gemacht wird, verjährungsunterbrechende Wirkung haben (vgl. BGE 133 V 579 E.
4.3.1 S. 583 mit Hinweisen; RtiD 2005 I S. 40, 2P.327/2003 E. 3).

4.2.2 Geht es um die Haftung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 AHVG, stellt die
Schadenersatzverfügung eine, in der Regel die erste, verjährungsunterbrechende
Handlung dar. Ergeht sie rechtzeitig innert der relativen zweijährigen
Verjährungsfrist seit Kenntnis des Schadens, beginnt mit Erhebung von
Einsprache eine neue zweijährige Verjährungsfrist zu laufen. Entgegen der
Auffassung von kantonalem Gericht und Ausgleichskasse wird mit der
Schadenersatzverfügung die Verjährungsfrist nicht ein für allemal gewahrt,
sodass die Forderung nicht wegen Zeitablaufs während des Einspracheverfahrens
oder des nachgelagerten verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens nicht
mehr klagbar werden kann. Dies entspräche der Rechtslage bei einer
Verwirkungsfrist, namentlich auch derjenigen vor der Änderung von Art. 52 AHVG
im Rahmen der Schaffung des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts
(Urteil H 99/06 vom 11. September 2007 E. 5; Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts H 260/03 vom 19. Februar 2004 E. 3; H 183/01 vom 5.
Februar 2003 E. 3.2 sowie ZAK 1991 S. 125, H 116/85 E. 2c; THOMAS NUSSBAUMER,
Das Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG, in: Aktuelle Fragen aus dem
Beitragsrecht der AHV, 1998, S. 115). Nach dem klaren Wortlaut von Art. 52 Abs.
3 AHVG können aber die relative zweijährige und die absolute fünfjährige
Verjährungsfrist unterbrochen werden. Dabei ist für die Beantwortung der damit
zusammenhängenden Fragen, insbesondere welchen Handlungen der Ausgleichskasse
und der Beschwerdeinstanzen verjährungsunterbrechende Wirkung zukommt,
sinngemäss die Regelung für Forderungen aus unerlaubter Handlung (Art. 60 und
Art. 135 ff. OR) anwendbar, was auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht
BGE 135 V 74 S. 79
(E. 4.2.1). Der Schadenersatzanspruch nach Art. 52 Abs. 1 AHVG kann somit auch
während des Einspracheverfahrens oder verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahrens verjähren (offengelassen in: SVR 2005 AHV Nr. 15 S. 48, H
96/03 E. 5.2.1 und im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 136/05 vom 23.
November 2006 E. 4.2; unklar KIESER, a.a.O., S. 1309 Rz. 328; mit Bedenken
REICHMUTH, a.a.O., S. 214 Rz. 894 f.). Es ist denn auch nicht einsehbar,
weshalb die Ausgleichskasse zunächst innert zweier Jahre seit Kenntnis des
Schadens die Verfügung erlassen, dann aber beliebig lange mit dem Erlass des
Einspracheentscheids soll zuwarten können.

4.3 Vorliegend hat die Ausgleichskasse mit der Schadenersatzverfügung vom 20.
September 2004 unbestritten die zweijährige Verjährungsfrist seit Auflage des
Kollokationsplanes am 5. Dezember 2003 unterbrochen. Mit der Einsprache vom 7.
Oktober 2004 begann die Verjährung von neuem. Danach erfolgte aktenkundig keine
prozessuale Handlung der Ausgleichskasse oder des Beschwerdeführers (Art. 138
Abs. 1 OR) bis zum Einspracheentscheid vom 28. Januar 2008. In diesem Zeitpunkt
war aber die zweijährige Frist gemäss Art. 52 Abs. 3 AHVG seit dem 7. Oktober
2004 längst abgelaufen.
Die von Amtes wegen vorfrageweise zu prüfende Frage, ob die
Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge im Zusammenhang mit einem
strafrechtlich relevanten Verhalten steht (BGE 113 V 256 E. 4a S. 258) - zu
denken ist in erster Linie an den Tatbestand der Zweckentfremdung vom Lohn
abgezogener Arbeitnehmerbeiträge (Art. 87 AHVG) - und daher nach Art. 52 Abs. 4
AHVG eine längere - fünfjährige (aArt. 70 StGB; BGE 112 V 161) -
Verjährungsfrist gelten würde, ist zu verneinen. Weder hat die Ausgleichskasse
diese Frage aufgeworfen und dazu Unterlagen eingereicht (BGE 113 V 256 E. 4a in
fine S. 259), noch enthalten die Akten diesbezügliche Hinweise. Im Gegenteil
wird dem Beschwerdeführer gerade vorgeworfen, die Firma habe Löhne
ausgerichtet, ohne die Sozialversicherungsbeiträge bezahlen zu können.