Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 V 254



Urteilskopf

135 V 254

31. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. L. gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_204/2009 vom 6. Juli 2009

Regeste

Art. 44 ATSG; Art. 59 und 64a IVG; Art. 49 IVV; Art. 57a IVG; Art. 12 lit. e
VwVG; Mitwirkungsrechte bei Begutachtung durch regionale ärztliche Dienste der
IV-Stellen.
Art. 44 ATSG ist auch im Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung
anwendbar (E. 3.2).
Art. 44 ATSG findet auf Untersuchungen regionaler ärztlicher Dienste keine
Anwendung (E. 3.4).

Sachverhalt ab Seite 255

BGE 135 V 254 S. 255

A. Mit Verfügungen vom 10. Dezember 1999 sprach die IV-Stelle des Kantons
Aargau dem 1975 geborenen L. für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 1998 eine
ganze Rente und ab 1. Mai 1998 eine halbe Rente samt Zusatzrente für die
Ehefrau und zwei Kinderrenten zu. Mit Verfügung vom 25. Februar 2002 setzte sie
gestützt auf die Schreiben des behandelnden Psychiaters und Psychotherapeuten
Dr. med. S. vom 30. August und 8. Dezember 2001 die halbe Rente zum 1. Oktober
2001 auf eine ganze Rente herauf. In der Folge bestätigte die IV-Stelle zweimal
die Rente (Mitteilungen vom 28. Januar 2003 und 24. Juni 2005), das zweite Mal
gestützt auf den Bericht des Dr. med. S. vom 17. Juni 2005.
Im August 2007 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revisionsverfahren ein. Unter
anderem holte sie beim behandelnden Psychiater einen Verlaufsbericht ein und
liess den Versicherten durch Dr. med. H., Facharzt FMH für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) untersuchen. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens setzte die IV-Stelle mit Verfügung vom
21. April 2008 die ganze Rente auf Ende Mai 2008 auf eine halbe Rente herab.

B. Die Beschwerde des L. wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit
Entscheid vom 14. Januar 2009 ab.

C. L. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den
Rechtsbegehren, es sei der Entscheid vom 14. Januar 2009 aufzuheben und ihm ab
1. Juni 2008 weiterhin eine ganze Rente zuzusprechen, eventualiter die Sache
zur Ergänzung des Beweisverfahrens, Anordnung eines psychiatrischen Gutachtens,
und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
BGE 135 V 254 S. 256
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhalts ein Gutachten
einer oder eines unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei
deren oder dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen
ablehnen und Gegenvorschläge machen (Art. 44 ATSG; SR 830.1).

3.2 Es stellt sich zunächst die Frage der Anwendbarkeit von Art. 44 ATSG im
Bereich der Invalidenversicherung. Vor Inkrafttreten des Allgemeinen Teils des
Sozialversicherungsrechts richtete sich das Verfahren vor den IV-Stellen nach
Art. 69-77 IVV (SR 831.201) und den kantonalen Vorschriften (BGE 125 V 401).
Insbesondere gab es kein Einspracheverfahren. Die versicherte Person konnte
ihre Mitwirkungsrechte grundsätzlich erst nach Abschluss der Abklärungen im
Rahmen des Vorbescheidverfahrens ausüben (BGE 125 V 401 E. 3b S. 404). Auf den
1. Juli 2006 wurde das seit 1. Januar 2003 bestehende Einspracheverfahren
wieder durch das Vorbescheidverfahren ersetzt, nunmehr kodifiziert in Art. 57a
IVG. Satz 2 dieser Bestimmung hält zudem fest, dass die versicherte Person
Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Artikel 42 ATSG hat. Dies bedeutet
indessen nicht, dass im Sinne der früheren Regelung die Versicherten erst nach
Abschluss der Abklärungen ihre Mitwirkungsrechte ausüben können. Vielmehr
sollte nach dem Willen des Gesetzgebers für Zwischenentscheide im Zusammenhang
mit der Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts, insbesondere bei
Anordnung eines Gutachtens, die Ordnung gemäss ATSG weiterhin gelten (Botschaft
vom 4. Mai 2005 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung [Massnahmen zur Verfahrensstraffung], BBl 2005 3088 Ziff.
2.1 zu Art. 57a Abs. 1 ATSG). Art. 44 ATSG ist somit im Verfahren vor den
IV-Stellen anwendbar, was auch Sinn und Zweck dieser Vorschrift, die
Mitwirkungsrechte der Versicherten einheitlich auszugestalten, entspricht (BGE
132 V 376 E. 7.2.3 S. 383; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 2 zu
Art. 44 ATSG).
BGE 135 V 254 S. 257

3.3

3.3.1 Nach der kraft Art. 55 ATSG sinngemäss anwendbaren Rechtsprechung zu Art.
12 lit. e VwVG (SR 172.021) wird mit Gutachten von Sachverständigen gestützt
auf besondere Sachkenntnis Bericht über die Sachverhaltsprüfung und -würdigung
erstattet (BGE 132 II 257 E. 4.4.1 S. 269). Ob eine solche medizinische
Expertise vorliegt, beurteilt sich im Einzelfall aufgrund der
verfahrensmässigen Bedeutung und des Inhalts der ärztlichen Meinungsäusserung.
Eine generelle, schematische, formalen Gesichtspunkten folgende Abgrenzung ist
nicht möglich (BGE 122 V 157 E. 1b S. 160). Immerhin handelt es sich in der
Regel da um ein Sachverständigengutachten, wo ein Arzt im Hinblick auf den
Abschluss eines Versicherungsfalles beauftragt wird, einen auf den gesamten
medizinischen Akten und allenfalls eigenen Untersuchungen beruhenden
zusammenfassenden Bericht zu erstatten (Urteil U 65/06 vom 14. Februar 2007 E.
2.2 mit Hinweisen; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 91/95 vom 9. März
1998 E. 3c).

3.3.2 Gemäss dem intertemporalrechtlich hier anwendbaren Art. 59 Abs. 2^bis IVG
(in Kraft seit 1. Januar 2008) setzen die regionalen ärztlichen Dienste die für
die Invalidenversicherung nach Artikel 6 ATSG massgebende funktionelle
Leistungsfähigkeit der Versicherten fest, eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder
Tätigkeit im Aufgabenbereich auszuüben. Nach Art. 49 IVV (in der seit 1. Januar
2008 in Kraft stehenden Fassung) beurteilen sie die medizinischen
Voraussetzungen des Leistungsanspruchs. Die geeigneten Prüfmethoden können sie
im Rahmen ihrer medizinischen Fachkompetenz und der allgemeinen fachlichen
Weisungen des Bundesamtes frei wählen (Abs. 1). Die regionalen ärztlichen
Dienste können bei Bedarf selber ärztliche Untersuchungen von Versicherten
durchführen. Sie halten die Untersuchungsergebnisse schriftlich fest (Abs. 2).
(...) Der RAD-Bericht vom 10. Januar 2008 stellt einen Bericht nach Art. 49
Abs. 2 IVV dar. Er wurde von einem Facharzt erstellt, welcher Kenntnis aller
relevanten medizinischen Akten hatte und eine eigene Untersuchung durchführte.
Unabhängig von der Frage, ob der Bericht als Gutachten im Sinne von Art. 44
ATSG zu qualifizieren ist, hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn
sie ihm Beweiswert zuerkannte und in dem von der Beurteilung des
RAD-Psychiaters abweichenden Verlaufsbericht des behandelnden Psychiaters Dr.
med. S. vom 16. November 2007 keinen Anlass für weitere Abklärungen erblickte
(vgl. nicht publ. E. 4.3).
BGE 135 V 254 S. 258

3.4

3.4.1 Nach dem Wortlaut des Gesetzes gilt Art. 44 ATSG, wenn der
Versicherungsträger ein Gutachten einer oder eines "unabhängigen
Sachverständigen" einholen muss. Unklar ist, ob "unabhängig" meint
versicherungsextern oder unabhängig im medizinischen Sachentscheid im
Einzelfall, wie in Art. 59 Abs. 2^bis IVG in Bezug auf die regionalen
ärztlichen Dienste festgehalten (vgl. auch BGE 132 V 376 E. 6.2 S. 381). Gemäss
dem vor Inkrafttreten des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts u.a.
im Verfahren der Unfallversicherung (sinngemäss) anwendbaren Art. 57 Abs. 1 BZP
(SR 273) gelten als Sachverständige Drittpersonen, die - von einer Verwaltungs-
oder Gerichtsbehörde - aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse zur Aufklärung
des Sachverhaltes beigezogen werden. Dazu zählen ungeachtet ihrer fachlichen
Qualifikation nicht Personen, die eine Verfügung zu treffen oder vorzubereiten
haben (vgl. Art. 10 Abs. 1 VwVG und Art. 36 Abs. 1 ATSG). Auf die
Stellungnahmen von Verwaltungsärzten sind deshalb die nach Art. 19 VwVG i.V.m.
Art. 57 ff. BZP geltenden Verfahrensvorschriften nicht anwendbar, auch wenn sie
materiell Gutachtenscharakter aufweisen (BGE 123 V 331 E. 1b S. 332). Die
Entstehungsgeschichte von Art. 44 ATSG, soweit vorliegend von Bedeutung, zeigt
Folgendes: An der Sitzung der Subkommission ATSG der Kommission für soziale
Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 8. Mai 1995 wurde bei der
Diskussion der bei der Bestellung der Gutachter zu wahrenden Garantien die
Frage aufgeworfen, ob der ärztliche Dienst der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) abgelehnt werden könnte. Die Frage wurde
verneint u.a. mit dem Hinweis darauf, dass es hier um die Begutachtung durch
den Experten gehe, der von der Versicherung unabhängig sei. In der
parlamentarischen Debatte vom 17. Juni 1999 führte der Berichterstatter der
Kommission aus, dass das Recht, einen ernannten Gutachter aus triftigen Gründen
abzulehnen, für die verwaltungsinternen Gutachter - beispielsweise für
diejenigen der SUVA - nicht gelte (AB 1999 N 1244 [Rechsteiner]). Die
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates stimmte an
ihrer Sitzung vom 6. September 1999 dem Beschluss des Nationalrates
diskussionslos zu. Im Plenum führte der Kommissionssprecher aus, es sei klar
festzuhalten, dass die aus der Militärversicherung übernommene Regelung, wonach
ein ernannter Gutachter aus triftigen Gründen abgelehnt werden könne, für die
verwaltungsinternen Gutachter,
BGE 135 V 254 S. 259
beispielsweise für diejenigen im Bereich der Träger der obligatorischen
Unfallversicherung, nicht gelte. Daran habe die Kommission nichts ändern wollen
(AB 2000 S 182 [Schiesser]). Der Gesetzgeber wollte somit klar Art. 44 ATSG
(Art. 52 des Entwurfs) nicht auf versicherungsinterne Ärzte angewendet haben.
Dies hat als Auslegungsergebnis zu gelten (vgl. zur Bedeutung der
Gesetzesmaterialien bei der Interpretation neuerer Texte BGE 131 II 710 E. 4.1
S. 716; in diesem Sinne auch ANDREAS FREIVOGEL, Zu den Verfahrensbestimmungen
des ATSG, in: Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts [ATSG], 2003, S. 100 ff.; a.M. KIESER, ebd., N. 9 zu
Art. 44 ATSG und dort erwähnte Lehre). Es entspricht auch der Regelung im
allgemeinen Verwaltungsrecht: Wo die Verwaltung mit eigenem Sachverstand
Untersuchungen durchführt, gelten diese nicht als Gutachten im Sinne von Art.
12 lit. e VwVG, so dass nicht die Verfahrensvorschriften von Art. 57 ff. BZP
(i.V.m. Art. 19 VwVG) anwendbar sind (KRAUSKOPF/EMMENEGGER, in: VwVG:
Praxiskommentar Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2009, N. 147 zu
Art. 12 VwVG; CHRISTOPH AUER UND ANDERE, Kommentar zum Bundesgesetz über das
Verwaltungsverfahren [VwVG], 2008, N. 55 zu Art. 12 VwVG). In Bezug auf
gesetzliche Ausstands- und Ablehnungsgründe gemäss Art. 36 Abs. 1 ATSG resp.
Art. 10 Abs. 1 VwVG, welche auch bei versicherungsinternen Gutachtern gelten,
werden in der Beschwerde mit Bezug auf den RAD-Bericht vom 10. Januar 2008
keine substantiierten Einwendungen gemacht.

3.4.2 Nach Art. 59 IVG haben sich die IV-Stellen so zu organisieren, dass sie
ihre Aufgaben nach Artikel 57 unter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften
und der Weisungen des Bundes fachgerecht und effizient durchführen können (Abs.
1). Sie richten interdisziplinär zusammengesetzte regionale ärztliche Dienste
ein (Abs. 2 Satz 1). Die regionalen ärztlichen Dienste stehen den IV-Stellen
zur Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs zur
Verfügung (Abs. 2^bis Satz 1). Die IV-Stellen können Spezialisten der
Invalidenhilfe, Experten, medizinische und berufliche Abklärungsstellen sowie
Dienste anderer Sozialversicherungsträger beiziehen (Abs. 3). Das Bundesamt übt
die fachliche und administrative Aufsicht über die IV-Stellen und über die
regionalen ärztlichen Dienste aus. Insbesondere erteilt es den regionalen
ärztlichen Diensten im medizinischen Fachbereich allgemeine Weisungen (Art. 64a
Abs. 1 Ingress und lit. c und Abs. 2 IVG). Das Gesetz
BGE 135 V 254 S. 260
unterscheidet somit klar zwischen regionalen ärztlichen Diensten, welche unter
fachlicher (und administrativer) Aufsicht der zuständigen Bundesbehörde stehen,
einerseits, und (externen) medizinischen Experten, welche im Einzelfall
beigezogen werden können, anderseits. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten
die regionalen ärztlichen Dienste nach dem Vorbild der im Bereich der
Unfallversicherung geltenden Regelung die Kompetenz haben, selber medizinische
Untersuchungen durchzuführen, um sich bei unklaren und komplexen Situationen
ein Bild im Hinblick auf Zusatzabklärungen machen zu können (vgl. die Voten in
der parlamentarischen Debatte zur 4. IV-Revision gemäss Bundesgesetz vom 21.
März 2003 [AS 2003 3837], AB 2001 N 1965 ff., AB 2002 S 771 ff. und N 1903
sowie 2003 S 102 f.; vgl. auch Botschaft vom 22. Juni 2005 zur 5. IV-Revision,
BBl 2005 4572 Ziff. 2.1 zu Art. 59 IVG, wo die Ärzte und Ärztinnen der RAD als
Versicherungsärzte und -ärztinnen bezeichnet werden). Die regionalen ärztlichen
Dienste gehören somit zur Verwaltung und deren Berichte und Gutachten stellen
versicherungsinterne Dokumente dar, welche von Art. 44 ATSG nicht erfasst
werden.

3.5 Es stellt somit keine Verletzung von Art. 44 ATSG dar, dass dem
Beschwerdeführer im Hinblick auf die psychiatrische Untersuchung vom 10. Januar
2008 durch den regionalen ärztlichen Dienst weder vorgängig der Name des
untersuchenden Arztes bekannt gegeben noch erwähnt wurde, es handle sich um
eine Begutachtung. Die erstmals vor Bundesgericht erhobene Rüge, er habe vor
Erlass der rentenherabsetzenden Verfügung vom 21. April 2008 keine Gelegenheit
erhalten, zum RAD-Bericht vom 10. Januar 2008 Stellung zu nehmen, ist
unbegründet, wurden ihm doch im Rahmen des Vorbescheidverfahrens die Akten
zugestellt und hat er sich mit Eingabe vom 21. Februar 2008 auch zum Bericht
vom 10. Januar 2008 geäussert.