Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 V 153



Urteilskopf

135 V 153

21. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. L. und K.
gegen Visana Versicherungen AG, betreffend P. (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_769/2008 vom 18. März 2009

Regeste

Art. 100 Abs. 5 BGG; Art. 58 ATSG; Art. 28 UVG; Gerichtsstand für Beschwerden
der Hinterlassenen.
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wegen eines negativen
Kompetenzkonflikts zweier kantonaler Versicherungsgerichte über die örtliche
Zuständigkeit zur Beurteilung der Beschwerde der Hinterlassenen, welche
Leistungen aus dem Unfallversicherungsgesetz geltend machen (E. 1-4).

Sachverhalt ab Seite 154

BGE 135 V 153 S. 154

A. Die 1966 geborene, in X. wohnhaft gewesene P. war bei der Visana
Versicherungen AG (nachfolgend: Visana) obligatorisch gegen die Folgen von
Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 10. Juli 2004 erlitt sie bei
einem Messerstich in die Bauchgegend tödliche Verletzungen. Sie hinterliess
ihren Ehemann sowie den Sohn K., die nach dem Tod der Ehefrau und Mutter den
Wohnsitz in den Kanton Tessin verlegten. Mit Verfügung vom 22. März 2005
übernahm die Visana die Kosten für die Überführung der Leiche an den
Bestattungsort und die Bestattungskosten. Einen Anspruch der Hinterbliebenen
auf Versicherungsleistungen verneinte sie, da die Verstorbene sich die zum Tode
führenden Verletzungen selbst zugefügt habe. Daran hielt die Visana mit
Einspracheentscheid vom 4. Juli 2006 fest.

B. Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin trat mit Entscheid vom 2. August
2007 auf die von den Hinterbliebenen gegen den Einspracheentscheid vom 4. Juli
2006 erhobene Beschwerde wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht ein, da sich der
letzte Wohnsitz der Verstorbenen nicht im Kanton Tessin, sondern im Kanton St.
Gallen befunden habe. Gleichzeitig überwies es die Akten dem seiner Ansicht
nach zuständigen Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Dieses trat mit
Entscheid vom 30. Juli 2008 auf die Beschwerde mangels örtlicher Zuständigkeit
ebenfalls nicht ein.

C. L. und K. lassen gegen die Entscheide der Versicherungsgerichte des Kantons
Tessin vom 2. August 2007 und des Kantons St. Gallen vom 30. Juli 2008
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, es
sei das für die Beurteilung der Sache örtlich zuständige kantonale Gericht zu
bezeichnen.
Die Visana schliesst sich diesem Antrag mit dem Hinweis an, das
Versicherungsgericht des Kantons Tessin sei für die materielle Beurteilung der
Streitsache örtlich zuständig. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine
Vernehmlassung.
BGE 135 V 153 S. 155

D. Die I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat bezüglich der
Rechtsfrage, ob Art. 58 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) gegebenenfalls die Zuständigkeit
des kantonalen Versicherungsgerichts am Wohnsitz der Hinterlassenen begründet,
die Zustimmung der II. sozialrechtlichen Abteilung eingeholt (Art. 23 Abs. 2
BGG).

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Nach Art. 100 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde innert 30 Tagen nach der
Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht einzureichen. Bei
Beschwerden wegen interkantonaler Kompetenzkonflikte beginnt die
Beschwerdefrist gemäss Abs. 5 derselben Bestimmung spätestens dann zu laufen,
wenn in beiden Kantonen Entscheide getroffen worden sind, gegen welche beim
Bundesgericht Beschwerde geführt werden kann. Darunter fallen namentlich
Beschwerden wegen Verletzung des Verbots der Doppelbesteuerung oder
beispielsweise auch Kompetenzkonflikte betreffend die Unterstützungspflicht
eines Kantons gemäss Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für
die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1; AMSTUTZ/
ARNOLD, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 19 und 20 zu Art.
100 BGG).

1.2 Nach dem im Abschnitt Rechtspflegeverfahren unter der Überschrift
"Zuständigkeit" stehenden Art. 58 Abs. 3 ATSG überweist die Behörde, die sich
als unzuständig erachtet, die Beschwerde ohne Verzug dem zuständigen
Versicherungsgericht. Mit der Einreichung der Beschwerde bei der unzuständigen
Behörde wird die Beschwerdefrist gewahrt (Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. Art. 39
Abs. 2 ATSG). Dabei kann das sich als unzuständig betrachtende kantonale
Versicherungsgericht einen Nichteintretensentscheid erlassen oder sich darauf
beschränken, die Sache an das als zuständig betrachtete Versicherungsgericht
eines anderen Kantons weiterzuleiten. Unabhängig davon, ob das erste Gericht
die Beschwerde formlos weiterleitet oder einen förmlichen
Nichteintretensentscheid erlässt, welcher von der rechtsuchenden Person im
Hinblick auf die vorgenommene Weiterleitung der Sache an das zweite Gericht
unangefochten blieb, ist bei Verneinung der örtlichen Zuständigkeit in einem
Nichteintretensentscheid des zweiten Gerichts im Rahmen des dagegen
eingeleiteten Beschwerdeverfahrens die Zuständigkeit beider infrage kommenden
Gerichte vom Bundesgericht ohne Bindung an den Nichteintretensentscheid des
ersten kantonalen Gerichts zu prüfen.
BGE 135 V 153 S. 156
Da bei fehlender Zuständigkeit des zweiten Gerichts keine Instanz nach Art. 58
ATSG zur Verfügung stünde, kann bei einer solchen Verfahrenskonstellation die
Rechtskraft des Nichteintretensentscheids des ersten kantonalen Gerichts nicht
eintreten (ULRICH MEYER- BLASER, Die Rechtspflegebestimmungen des
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG],
HAVE 2002 S. 330; anders noch altrechtlich die Urteile des ehemaligen Eidg.
Versicherungsgerichts U 356/01 vom 24. September 2002 und H 236/00 vom 29.
Januar 2001, welche von der Nichtigkeit des ersten rechtskräftigen kantonalen
Nichteintretensentscheids ausgingen). Massgebend für die Fristwahrung ist somit
der am 14. August 2008 versandte Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 30. Juli 2008. Die Beschwerdeeinreichung erfolgte daher
fristgerecht.

1.3 Beim Entscheid, mit welchem das kantonale Gericht mangels örtlicher
Zuständigkeit auf die Beschwerde nicht eintritt, handelt es sich um einen
Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG (BGE 133 V 477 E. 4.1.1 S. 480; Urteil
5A_398/2007 vom 28. April 2008 E. 2.2).

1.4 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG).

2. Nach Art. 58 Abs. 1 ATSG (in Verbindung mit Art. 1 UVG [SR 832.20]) ist das
Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem die versicherte
Person oder der Beschwerde führende Dritte zur Zeit der Beschwerdeerhebung
Wohnsitz hat. Befindet sich der Wohnsitz der versicherten Person oder des
Beschwerde führenden Dritten im Ausland, so ist das Versicherungsgericht
desjenigen Kantons zuständig, in dem sich ihr letzter schweizerischer Wohnsitz
befand oder in dem ihr letzter schweizerischer Arbeitgeber Wohnsitz hat; lässt
sich keiner dieser Orte ermitteln, so ist das Versicherungsgericht desjenigen
Kantons zuständig, in dem das Durchführungsorgan seinen Sitz hat (Art. 58 Abs.
2 ATSG).

3.

3.1 Das Versicherungsgericht des Kantons Tessin begründet seine örtliche
Unzuständigkeit zur Behandlung der Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom
4. Juli 2006 im Wesentlichen damit, dass die Hinterlassenen nicht Dritte im
Sinne von Art. 58 Abs. 1 ATSG seien. Zuständig sei daher das Gericht des
letzten Wohnsitzkantons der versicherten Person und somit dasjenige am
ehemaligen
BGE 135 V 153 S. 157
Wohnsitz der Verstorbenen. Dabei stützt es sich auf BGE 124 V 310, wo das
damalige Eidg. Versicherungsgericht in E. 6c erwogen habe, dass im Bereiche der
Unfallversicherung ein einheitlicher Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt am
Wohnsitz der versicherten Person geschaffen werden sollte, und auf das Urteil
des Eidg. Versicherungsgerichts U 269/99 vom 3. Dezember 1999, auszugsweise in:
RKUV 2000 S. 112, gemäss welchem die Hinterlassenen nicht als Betroffene im
Sinne von aArt. 107 Abs. 2 UVG zu qualifizieren seien. Art. 58 Abs. 1 ATSG habe
am bestehenden Rechtszustand nichts ändern wollen.

3.2 Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen geht zur Begründung seiner
örtlichen Unzuständigkeit zur Behandlung der Beschwerde davon aus, dass die
materiellrechtlichen Ansprüche auf eine Witwer- bzw. eine Halbwaisenrente
gemäss Art. 29 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 1 UVG aus dem Versicherungsverhältnis
zwischen der Verstorbenen und der Visana entstanden seien. Nachdem die
Verstorbene selber keinen Wohnsitz mehr begründen könne, komme subsidiär der
Wohnsitz des Beschwerde führenden Dritten zur Anwendung. Da die
Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ihren Wohnsitz im Kanton
Tessin gehabt hätten, falle die materielle Beurteilung in die Zuständigkeit des
dortigen kantonalen Gerichts. Sofern die Beschwerdeführer nicht als Dritte im
Sinne von Art. 58 Abs. 1 ATSG zu betrachten seien, wäre davon auszugehen, dass
sie als Hinterlassene eigene Versicherungsansprüche durchsetzen wollten und
somit selber als versicherte Personen zu betrachten seien, was wiederum die
Zuständigkeit des Versicherungsgerichts des Kantons Tessin begründen würde.

3.3 Die Beschwerdeführer vertreten ebenfalls die Auffassung, dass bezüglich der
Verstorbenen keine örtliche Zuständigkeit im hängigen Beschwerdeverfahren
abgeleitet werden könne, weshalb zur Bestimmung des örtlich zuständigen
Gerichts am Wohnsitz der Hinterbliebenen im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung
anzuknüpfen sei.

4.

4.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der
Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss
nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller
Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die
Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde
liegenden Wertungen
BGE 135 V 153 S. 158
sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen
zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend,
dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich bei
neueren Texten kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil
veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung
weniger nahelegen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen
stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das
grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich
richtige Lösung ergab (BGE 134 I 184 E. 5.1 S. 193; BGE 134 V 1 E. 7.2 S. 5;
BGE 133 III 497 E. 4.1 S. 499).

4.2 Der am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Art. 58 Abs. 1 ATSG nennt für die
Ordnung der örtlichen Zuständigkeit in der deutschsprachigen Fassung den
Wohnsitz der versicherten Person oder des Beschwerde führenden Dritten zur Zeit
der Beschwerdeerhebung. Der italienische Gesetzestext spricht von "... dove
l'assicurato o il terzo è domiciliato nel momento in cui interpone ricorso",
während die französische Version lautet: "... celui du canton de domicile de
l'assuré ou d'une autre partie au moment du dépôt du recours". Der Wortlaut der
Bestimmung erscheint nicht als derart klar, dass er aus sich selbst heraus zu
einem unzweifelhaft richtigen Ergebnis zu führen vermöchte.

4.3 Während das Gesetz sich zu dem im deutschen und im italienischen Text
verwendeten Begriff "Dritte" nicht weiter äussert, definiert es im Abschnitt
Sozialversicherungsverfahren des vierten Kapitels "Allgemeine
Verfahrensbestimmungen" in Art. 34 ATSG die Parteien wie folgt: "Als Parteien
gelten Personen, die aus der Sozialversicherung Rechte oder Pflichten ableiten,
sowie Personen, Organisationen oder Behörden, denen ein Rechtsmittel gegen die
Verfügung eines Versicherungsträgers oder eines ihm gleichgestellten
Durchführungsorgans zusteht." Ausser den unter den Parteibegriff im engeren
Sinne fallenden Personen, die aus der Sozialversicherung Rechte oder Pflichten
ableiten, ordnet diese Bestimmung somit auch Dritten den Parteistatus zu. Denn
nebst dem Verfügungsadressaten, zu dem regelmässig die versicherte Person
selbst gehört, können verschiedene Dritte durch die Verfügung in ihren Rechten
und Pflichten berührt sein (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N.
2 ff. zu Art. 34 ATSG).

4.4 Nach Art. 28 UVG haben der überlebende Ehegatte und die Kinder Anspruch auf
Hinterlassenenrenten, wenn die versicherte
BGE 135 V 153 S. 159
Person an den Folgen des Unfalles stirbt. Sie besitzen kraft Gesetzes einen
selbständigen Anspruch, der sich aber aus dem (unfallbedingten) Tod der
versicherten Person ableitet. Davon ging auch das damalige Eidg.
Versicherungsgericht in RKUV 2000 S. 112, U 269/99 aus. Mit Bezug auf die
Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts hat es in diesem Urteil erwogen, da
die Hinterlassenen somit nicht Versicherte im Sinne des Art. 1 UVG (neu: Art.
1a UVG) seien und auch nicht als "Betroffene" im Sinne von aArt. 107 Abs. 2 UVG
gelten könnten, sei nicht an ihrem Wohnsitz anzuknüpfen. Die Beschwerde müsse
daher beim kantonalen Gericht am Wohnsitz der (verstorbenen) versicherten
Person erhoben werden.

4.5 Der bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandene aArt. 107 Abs. 2 UVG lautete:
"Zuständig ist das Versicherungsgericht desjenigen Kantons, in welchem der
Betroffene seinen Wohnsitz hat. Befindet sich der Wohnsitz im Ausland, so ist
das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in dem sich der letzte
schweizerische Wohnsitz des Betroffenen befand oder in dem sein letzter
schweizerischer Arbeitgeber Wohnsitz hat; lassen sich beide nicht ermitteln, so
ist das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in dem der Versicherer
seinen Sitz hat." Aufgrund dieser Bestimmung war bezüglich
Leistungsstreitigkeiten das Sozialversicherungsgericht am Wohnsitz der
versicherten Person zuständig, und zwar unabhängig davon, ob die versicherte
Person selbst, ein Versicherer (BGE 124 V 310; SVR 2001 UV Nr. 10 S. 37, U 85/
98) oder die Hinterlassenen (RKUV 2000 S. 112, U 269/99) Beschwerde führten.

4.6 So hat das Gericht in BGE 124 V 301 E. 6a/bb S. 312 erwogen, die Wortwahl
in aArt. 107 Abs. 2 UVG sei klar auf die natürliche Person zugeschnitten, um
deren Versicherungsleistungen es gehe oder deren Versicherteneigenschaft
streitig sei. Dies bedeute, dass der Gesetzgeber einen einheitlichen
Gerichtsstand mit dem Anknüpfungspunkt des Wohnsitzes der versicherten Person
habe schaffen wollen. Damit werde auch dem Gedanken Rechnung getragen, dass
sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit befassen
sollten, die dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten stünden. Der
Wohnsitz der versicherten Person müsse daher auch dann massgebend sein, wenn
diese nicht Beschwerde erhebe, sondern allein ein anderer Versicherer. Zum
gleichen Ergebnis führte nach den Erwägungen des Gerichts auch die
Entstehungsgeschichte der fraglichen Gerichtsstandsbestimmung. Zudem habe der
Gesetzgeber einen einheitlichen Gerichtsstand schaffen und
BGE 135 V 153 S. 160
den bisherigen Wahlgerichtsstand (Wohnsitz des Klägers oder Sitz der Anstalt)
fallen lassen wollen, um der Überlastung des Versicherungsgerichts am Sitz der
SUVA und dem Nachteil der Versicherten, die örtlichen Verhältnisse nicht zu
kennen und die Verhandlung in einer Sprache führen zu müssen, welche sie nicht
verstehen, entgegenzuwirken (vgl. BGE 124 V 310 E. 6c S. 313). Nebst dem
grammatikalischen und entstehungsgeschichtlichen Auslegungselement veranlasste
sodann auch die Vermeidung von Mehrfachprozessen mit der Gefahr sich
widersprechender Urteile das Gericht dazu, den Begriff "Betroffene" eng
auszulegen und als örtlichen Anknüpfungstatbestand nach aArt. 107 Abs. 2 Satz 1
UVG allein den Wohnsitz der Person, um deren Versicherungsleistungen es geht
oder deren Versicherteneigenschaft streitig ist, zu interpretieren (BGE 124 V
310 E. 6d/aa S. 314).

4.7 In RKUV 2000 S. 112, verwarf das damalige Eidg. Versicherungsgericht die
Ansicht des kantonalen Gerichts, wonach mit "Betroffener" im Sinne von aArt.
107 Abs. 2 Satz 1 UVG nicht nur der Versicherte selbst gemeint sei, sondern
auch allfällige Dritte, die aus dem Unfallversicherungsgesetz eigene Rechte
oder Leistungen ableiten können. Dabei hat es erwogen, da bereits die
Versicherteneigenschaft umstritten sein könne, lasse sich die Verwendung des
Begriffes "Betroffene" statt "Versicherte" ohne weiteres erklären. Zudem liess
es sich im Wesentlichen von der Gefahr von Mehrfachprozessen leiten, welche es
darin erblickte, dass die Wohnsitze des hinterlassenen Ehegatten und der Kinder
(sowie der Pflegekinder; vgl. Art. 30 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 40 UVV
[SR 832. 202]) nicht identisch seien und der geschiedene Ehegatte der Witwe
oder dem Witwer gleichgestellt sei, sofern die verunfallte Person ihm gegenüber
zu Unterhaltsbeiträgen verpflichtet gewesen sei, wobei der Unfallversicherer an
mehrere geschiedene Ehegatten eine Hinterlassenenrente zu entrichten habe.

4.8 Die vom Sozialversicherungsgericht des Kantons Tessin wiedergegebene, zu
aArt. 86 Abs. 3 Satz 1 KVG ergangene Rechtsprechung (Luzerner Gerichts- und
Verwaltungsentscheide, LGVE 1998 II Nr. 47), ist für die vorliegend zu
beurteilende Frage insofern nicht von Belang, als das
Krankenversicherungsgesetz keinen Leistungsanspruch der Hinterlassenen kennt.
In jenem Entscheid ging es denn auch nicht um Hinterlassene, sondern um den
Gerichtsstand für die Beurteilung einer Beschwerde des Erben einer (ehemals)
versicherten Person.
BGE 135 V 153 S. 161

4.9 Aus den Materialien zu Art. 58 ATSG ergibt sich, dass dessen Wortlaut im
Wesentlichen aArt. 86 Abs. 3 KVG entliehen worden ist, weil es sinnvoll
erschien, den in den meisten Sozialversicherungsbereichen geltenden
Gerichtsstand am Wohnsitz des Beschwerdeführers als Grundsatz ins ATSG
aufzunehmen (vgl. Bericht vom 26. März 1999 der Kommission des Nationalrates
für soziale Sicherheit und Gesundheit, BBl 1999 4620 ad Art. 64 E-ATSG). In der
Folge wurde die Bestimmung dann jedoch dahingehend angepasst, dass die
zuständige kantonale Gerichtsinstanz nicht alternativ durch den Sitz der
Versicherung, sondern ausschliesslich durch den Wohnsitz der versicherten
Person bestimmt wird. Diese einschränkende Regelung wurde aus der Befürchtung
heraus getroffen, die luzernischen Gerichte wegen des Sitzes der SUVA im Kanton
nicht zunehmend mit Beschwerden zu belasten (AB 2000 S 184; AB 2000 N 650 f.).
Dieselben Überlegungen lagen bereits aArt. 107 Abs. 2 UVG zugrunde (vgl. dazu
BGE 124 V 310 E. 6c S. 313).

4.10 Gemäss KIESER (a.a.O., S. 724 f.) soll mit Art. 58 Abs. 1 ATSG, welcher
die Regelung von aArt. 86 Abs. 3 KVG übernommen habe, am bestehenden
Rechtszustand nichts geändert werden. Nach der bisherigen - auf aArt. 107 Abs.
2 UVG bezogenen - Rechtsprechung (BGE 124 V 310 ff; SVR 2001 UV Nr. 10 S. 37, U
85/98) habe der Gesetzgeber eine einheitliche Anknüpfung am Wohnsitz der
versicherten Person schaffen wollen, um dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass
sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit befassen
sollen, die dem zu beurteilenden Sachverhalt am nächsten stünden. Mit der
Bezugnahme auf den "Wohnsitz" habe er die örtliche Zuständigkeit desjenigen
Gerichts festlegen wollen, das einen besonderen Bezug zur Beschwerde führenden
natürlichen Person habe. Daraus schliesst der Autor, der Wohnsitz der
Beschwerde führenden Drittperson sei nur dann von Belang, wenn ein solcher der
versicherten Person nicht bestehe. Dies sei der Fall, wenn der Anspruch auf
Versicherungsleistungen der Hinterlassenen strittig sei.

4.11 Zusammenfassend ergibt sich aufgrund des Wortlautes, der
Entstehungsgeschichte sowie von Sinn und Zweck von Art. 58 Abs. 1 ATSG der
Grundsatz, dass Verfahren vor derjenigen Instanz durchzuführen sind, zu welcher
die Parteien den direktesten Bezug haben. Aufgrund des in allen
Sprachregelungen insoweit übereinstimmenden Wortlautes wird dabei an den
hauptsächlichen Sachverhalt angeknüpft, dass die versicherte Person selbst
Beschwerde erhebt. Sie ist Partei im engeren Sinne und regelmässig auch
primärer
BGE 135 V 153 S. 162
Verfügungsadressat. Partei im engeren Sinne sind auch die Hinterlassenen, die
aus dem Unfallversicherungsgesetz direkt einen selbständigen Leistungsanspruch
geltend machen. An die Beschwerdeführer war denn auch der Einspracheentscheid
der Visana vom 4. Juli 2006 gerichtet. Sie gelten zwar selber nicht als
versicherte Person, fallen jedoch ohne weiteres unter die Begriffe "autre
partie" gemäss französischsprachigem Gesetzestext und "Dritte" im Sinne der
deutschen und italienischen Sprachfassung. Durch die alternative Anknüpfung in
Art. 58 Art. 1 ATSG können sie Beschwerde beim Versicherungsgericht des
Wohnsitzkantons erheben. Sie stehen zudem im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung
dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten, zumal der zu fällende
Entscheid auf die verstorbene (ehemals) versicherte Person keine Rechtswirkung
mehr entfalten kann. Aufgrund des Wegfalls des Wohnsitzes der versicherten
Person hat die Subsumtion des überlebenden Ehegatten und der Kinder der
verstorbenen Person unter den Begriff Dritte ("autre partie") im Sinne der
obigen Gesetzesbestimmung keine ungewollte Ausdehnung der
Anknüpfungstatbestände zur Folge. Die Gefahr von Mehrfachprozessen allein,
welche sich im vorliegenden Fall jedenfalls nicht stellt, rechtfertigt es
nicht, die Hinterlassenen nicht unter den Begriff Dritte fallen zu lassen.
Sollten in einem Fall aus dem gleichen Todesfall verschiedene Gerichte
zuständig sein, worüber jedenfalls der Versicherer aufgrund der
Beschwerdeerhebung gegen den von ihm erlassenen Einspracheentscheid informiert
wäre, könnte zur Vermeidung von widersprüchlichen Gerichtsurteilen die
Sistierung der in anderen Kantonen anhängig gemachten Prozesse verlangt werden.

4.12 Aus dem Gesagten ergibt sich somit die Begründung der örtlichen
Zuständigkeit des Sozialversicherungsgerichts am Wohnsitz der Beschwerdeführer
im Kanton Tessin. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde.