Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 I 302



Urteilskopf

135 I 302

34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Politische Gemeinde St. Gallen gegen GSoA Schweiz sowie Sicherheits- und
Justizdepartement des Kantons St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
1C_434/2008 vom 28. September 2009

Regeste

Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative auf öffentlichem Grund;
Gemeindeautonomie.
Zulässigkeit der Autonomiebeschwerde (E. 1).
Die Begriffe des schlichten und gesteigerten Gemeingebrauchs sind
kantonalrechtlich bestimmt; Umschreibung in Praxis und Lehre; es verletzt die
Gemeindeautonomie nicht, in den umstrittenen Unterschriftensammlungen keinen
gesteigerten Gemeingebrauch zu erblicken und eine Bewilligungspflicht zu
verneinen (E. 3).
Es besteht weder hinsichtlich der Wahrnehmung politischer Rechte noch zum
Schutze von andern Grundrechtsausübungen ein hinreichendes
verfassungsrechtliches Interesse, die umstrittenen Unterschriftensammlungen
einer Bewilligungspflicht zu unterstellen (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 303

BGE 135 I 302 S. 303
Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) ersuchte die Stadtpolizei St.
Gallen um Bewilligung von Unterschriftensammlungen für die von ihr lancierte
"Volksinitiative für ein Verbot von Kriegsmaterialexporten". Sie forderte die
Bewilligung für 13 Tage im Dezember 2006 und für 12 Tage im Januar 2007 an
bevorzugten Standorten in der Innenstadt. Sie wies darauf hin, dass die
Unterschriftensammlung ohne Stand erfolge.
Die Stadtpolizei erteilte der GSoA je 6 ganztägige Bewilligungen für
Unterschriftensammlungen im Dezember 2006 und Januar 2007 und bezeichnete die
Örtlichkeiten in der Innenstadt. Sie wies darauf hin, dass nach ihrer
Bewilligungspraxis maximal 6 Aktionstage pro Monat bewilligt würden.
Die GSoA gelangte an den Stadtrat St. Gallen (Exekutive), welcher deren Rekurs
im Wesentlichen mit der Begründung abwies, Sammelaktionen stellten an den stark
frequentierten Orten der Innenstadt gesteigerten Gemeingebrauch dar und
bedürften daher einer Bewilligung. Dieses Erfordernis diene dem Schutz von
Polizeigütern, der Koordination unterschiedlichster Aktivitäten und der
Sicherstellung einer Prioritätenordnung.
BGE 135 I 302 S. 304
Gegen den Stadtratsentscheid erhob die GSoA Rekurs beim Justiz- und
Polizeidepartement des Kantons St. Gallen (heute Sicherheits- und
Justizdepartement). Das Departement hiess den Rekurs im Sinne der Erwägungen
unter Aufhebung des Stadtratsentscheides gut. Es hielt fest, dass für eine
umfassende Bewilligungspflicht zur Sammlung von Unterschriften eine gesetzliche
Grundlage fehle und die anbegehrte Unterschriftensammlung nicht
bewilligungspflichtig sei. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen
bestätigte diesen Entscheid auf Beschwerde der Politischen Gemeinde St. Gallen
hin. Es führte im Wesentlichen aus, aufgrund der konkreten Verhältnisse könne
bis zu einer Zahl von drei Personen kein gesteigerter Gemeingebrauch angenommen
werden, weshalb eine Bewilligungspflicht entfalle.
Diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts hat die Politische Gemeinde St. Gallen
beim Bundesgericht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
angefochten. Sie macht eine Verletzung der Gemeindeautonomie geltend und bringt
vor, zum Schutz der Polizeigüter, zwecks Koordination unterschiedlichster
Aktivitäten und im Hinblick auf die Sicherstellung einer Prioritätenordnung sei
eine Bewilligungspflicht für Unterschriftensammlungen an den konkret
betroffenen, besonders neuralgischen Orten in der Innenstadt erforderlich. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Die Politische Gemeinde St. Gallen ist durch den angefochtenen Entscheid
des Verwaltungsgerichts, mit dem ihr Bewilligungsentscheid aufgehoben und ihre
Bewilligungsbefugnis verneint werden, in ihren hoheitlichen Befugnissen
betroffen. Sie ist daher nach Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG legitimiert, mit
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unter Berufung auf Art. 89
der Verfassung vom 10. Juni 2001 des Kantons St. Gallen (KV/SG; SR 131.225)
eine Verletzung ihrer Gemeindeautonomie geltend zu machen (vgl. BGE 135 I 43 E.
1.2 S. 45; BGE 131 I 91 E. 1 S. 93; BGE 128 I 136 E. 1.2 S. 139; je mit
Hinweisen). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Beschwerde kann
eingetreten werden.

1.2 Nach Art. 89 KV/SG sind die Gemeinden im Rahmen der Gesetzgebung
hinsichtlich des Erlasses von Verfügungen und in Bezug auf die Gesetzgebung
autonom. Das Strassengesetz des
BGE 135 I 302 S. 305
Kantons St. Gallen vom 12. Juni 1988 (sGS 732.1; nachfolgend: StrG) überlässt
das Verfügungsrecht über die öffentlichen Strassen weitestgehend den Gemeinden
und räumt ihnen die Befugnis ein, den Gemeingebrauch einzuschränken und den
gesteigerten Gemeingebrauch zu ordnen (vgl. Art. 20 f. StrG). Damit steht der
Beschwerdeführerin im hier betroffenen Bereich Autonomie zu, was von keiner
Seite in Frage gestellt wird.
Somit kann sich die Beschwerdeführerin dagegen zur Wehr setzen, dass eine
kantonale Behörde in einem Rechtsmittelverfahren ihre Prüfungsbefugnis
überschreitet oder die den betreffenden Sachbereich ordnenden Vorschriften
unrichtig auslegt und anwendet. Ferner kann sie geltend machen, die kantonale
Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet.
Schliesslich kann sie sich auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgrundrechte
berufen, soweit diese Vorbringen mit der behaupteten Rüge der
Autonomieverletzung in engem Zusammenhang stehen. Die Anwendung von
eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit
freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem
Gesichtswinkel des Willkürverbots (BGE 131 I 91 E. 1 S. 93; BGE 129 I 290 E.
2.3 S. 295, BGE 129 I 410 E. 2.3 S. 414; BGE 128 I 136 E. 2.2 S. 140; BGE 126 I
133 E. 2 S. 136). Das Bundesgericht auferlegt sich Zurückhaltung, soweit die
Beurteilung der Streitsache von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse
abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken (vgl. BGE 132 II 408
E. 4.3 S. 415; BGE 129 I 337 E. 4.1 S. 344; BGE 126 I 219 E. 2c S. 222).

2. Ausgehend vom Ersuchen der Beschwerdegegnerin sowie den Entscheidungen der
Stadtpolizei und des Stadtrates bildet Gegenstand des vorliegenden Verfahrens
einzig das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts mit dem zugrunde
liegenden Sachverhalt. (...)
Hinsichtlich des Sachverhalts ist auf folgende Gegebenheiten abzustellen: Die
Beschwerdegegnerin ersuchte um Bewilligung für Unterschriftensammlungen an 12
bzw. 13 Tagen im Dezember 2006 bzw. Januar 2007. Die Stadtpolizei erteilte -
mit nachträglicher Zustimmung des Stadtrates - die Bewilligung für je 6 Tage;
sie untersagte damit zusätzliche Sammeltage. Die Örtlichkeiten sind zwischen
der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin nicht umstritten. Es handelt
sich um bestimmte Orte in der Innenstadt, die sich
BGE 135 I 302 S. 306
für das Sammeln von Unterschriften eignen. So erteilte die Stadtpolizei
Bewilligungen für die Spisergasse (beim Brunnen), die Multergasse, die Neugasse
(beim Brunnen), den Bärenplatz, den Rösslitorplatz, die Marktgasse (beim
Brunnen), den Neumarkt III und die Fussgängerzone. Für diese Orte verneinte das
Verwaltungsgericht das Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch und eine
Bewilligungspflicht. Alle befassten Instanzen gehen weiter davon aus, dass die
Unterschriftensammlung ohne einen Stand erfolgt. Das Verwaltungsgericht legt
seinem Entscheid ferner zugrunde, dass an einem bestimmten Ort von Seiten der
Beschwerdegegnerin höchstens drei Personen Unterschriften sammeln; es hat offen
gelassen, wie es sich mit der Bewilligungspflicht bei einer grösseren Anzahl
von Personen verhielte. Schliesslich steht die Erhebung einer Gebühr, die der
Stadtrat aufgehoben hatte, nicht in Frage.
Zusammenfassend befand das Verwaltungsgericht entgegen dem Stadtrat, dass das
Sammeln von Unterschriften durch Einzelpersonen bzw. durch zwei oder drei
Personen je bezogen auf die genannten Örtlichkeiten keinen gesteigerten
Gemeingebrauch darstelle und dass diese Tätigkeit keiner Bewilligungspflicht
unterstellt werden dürfe. Es ist zu prüfen, ob dieser Entscheid vor der
angerufenen Gemeindeautonomie standhält.

3. Im Folgenden ist vorerst zu prüfen, ob die Annahme des Verwaltungsgerichts
vor der Verfassung standhalte, dass die Unterschriftensammlung im genannten
Rahmen keinen gesteigerten Gemeingebrauch darstelle und deshalb keiner
Bewilligung bedürfe.

3.1 Die Nutzung von öffentlichen Sachen richtet sich in erster Linie nach
kantonalem Recht. Dieses umschreibt insbesondere, in welchem Rahmen und Ausmass
öffentliche Sachen im Gemeingebrauch genutzt werden dürfen und wie namentlich
öffentlicher Grund von der Allgemeinheit benützt werden darf. Dabei
unterscheiden die kantonalen Rechtsordnungen und die Praxis meist zwischen
schlichtem Gemeingebrauch, gesteigertem Gemeingebrauch und Sondernutzung. Die
Rechtsprechung und die Verwaltungsrechtswissenschaft haben diese Einteilung
konkretisiert (vgl. zur Lehre HÄFELIN/MÜLLER/ UHLMANN, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2006, S. 507 ff. Rz. 2371 ff.; TOBIAS JAAG,
Gemeingebrauch und Sondernutzung öffentlicher Sachen, ZBl 93/1992 S. 150 ff.;
ANDRÉ GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II, 2. Aufl. 1984, S. 543 ff.;
PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. III, 1992, S. 282 ff.). Dies ändert
nichts am
BGE 135 I 302 S. 307
Umstand, dass insbesondere die Begriffe des schlichten bzw. des gesteigerten
Gemeingebrauchs kantonalrechtlich bestimmt sind. Das kantonale Strassengesetz,
welches auf öffentliche Plätze sachgemäss angewendet wird (Art. 1 Abs. 3 StrG),
verwendet die Begriffe des einfachen bzw. des gesteigerten Gemeingebrauchs an
verschiedener Stelle, ohne sie im Einzelnen näher zu umschreiben (vgl. Art. 1
Abs. 1, Art. 17, Art. 20, Art. 21 und Art. 29 StrG; vgl. ferner Art. 24 ff.
StrG zur Sondernutzung).

3.2 Nach Rechtsprechung und Lehre gehören zum schlichten Gemeingebrauch die
Nutzungen öffentlicher Sachen und all jene Tätigkeiten auf öffentlichem Grund,
die entsprechend der breit umschriebenen und weit verstandenen Widmung der
Allgemeinheit voraussetzungslos offen stehen. Merkmal des schlichten
Gemeingebrauchs - und zugleich wesentliches Kriterium der Abgrenzung zum
gesteigerten Gemeingebrauch - bildet die Gemeinverträglichkeit. Eine Nutzung
wird als gemeinverträglich betrachtet, wenn sie von allen interessierten
Bürgern gleichermassen ausgeübt werden kann, ohne dass andere an der
entsprechenden Nutzung übermässig behindert werden. Wesentlich ist, dass im
fraglichen Bereich gesamthaft eine gleichartige Benutzung durch alle
Interessierten praktisch möglich ist (BGE 122 I 279 E. 2e/cc S. 286 mit
Hinweisen). Die Grenze des einfachen Gemeingebrauchs wird indes überschritten,
wenn eine Nutzung ihrer Natur oder Intensität nach den Rahmen des Üblichen
übersteigt, nicht mehr der bestimmungsgemässen Verwendung entspricht, den
rechtmässigen Gebrauch durch andere Benützer beeinträchtigt und somit nicht
mehr gemeinverträglich ist. Für die Abgrenzung im Einzelnen ist auf die
konkreten örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten sowie die Art und das Ausmass
der üblichen Benützung abzustellen (BGE 126 I 133 E. 4c S. 139; BGE 105 Ia 91
E. 2 S. 93; je mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O.,
S. 507 ff. Rz. 2371 ff.; GRISEL, a.a.O., S. 543 ff.). Gesteigerter
Gemeingebrauch unterliegt im Allgemeinen einer Bewilligungspflicht, welche
nicht so sehr dem Schutz von Polizeigütern als vielmehr der Koordination und
Prioritätensetzung zwischen verschiedenen Nutzungen des öffentlichen Raums
dient (BGE 127 I 164 E. 3b S. 169; BGE 126 I 133 E. 4d S. 139; je mit
Hinweisen). Nach der unter der alten Bundesverfassung ergangenen Rechtsprechung
durfte gesteigerter Gemeingebrauch auch ohne gesetzliche Grundlage von einer
Bewilligung abhängig gemacht werden (vgl. BGE 121 I 279 E. 2b S. 283; BGE 105
Ia 91 E. 2 S. 93; je mit Hinweisen). Unter der neuen
BGE 135 I 302 S. 308
Bundesverfassung wird von der Lehre eine gesetzliche Grundlage für eine
Bewilligungspflicht gefordert (vgl. HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., S. 512 Rz.
2404; MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 428 f.;
BEATRICE WEBER-DÜRLER, Grundrechtseingriffe, in: Die neue Bundesverfassung
[BTJP 1999], 2000, S. 137 f.). Wie es sich mit dieser Frage verhält, kann im
vorliegenden Fall offen bleiben. Bei der Bewilligungserteilung oder
-verweigerung ist der mit dem gesteigerten Gemeingebrauch verbundenen
Grundrechtsausübung Rechnung zu tragen. In diesem Sinne wird im Allgemeinen ein
bedingter Anspruch auf Bewilligung von gesteigertem Gemeingebrauch anerkannt
(vgl. BGE 132 I 256 E. 3 S. 260; BGE 127 I 164 E. 3b-c S. 168; BGE 126 I 133 E.
4d S. 139).
In diesem Sinne stellen Kundgebungen auf öffentlichem Grund klar gesteigerten
Gemeingebrauch dar und dürfen unter Bewilligungsvorbehalt gestellt werden (vgl.
BGE 127 I 164 E. 3b S. 168 mit Hinweisen). Gleich verhält es sich, wenn für
eine bestimmte Tätigkeit Installationen wie Informationsstände oder Tische und
Ähnliches aufgestellt werden (BGE 105 Ia 91 E. 2 S. 92). Beim Verteilen von
Druckerzeugnissen in der Zürcher Innenstadt zum Zweck eines entgeltlichen
Vertriebes von Kursen und Büchern ist das Bundesgericht von gesteigertem
Gemeingebrauch ausgegangen, unter Hinweis darauf, dass Gespräche mit Passanten
geführt würden und dadurch Ausweichbewegungen der Strassenbenützer,
Menschenansammlungen oder gar Auseinandersetzungen in stark frequentierten
Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen könnten (BGE 126 I 133 E. 4 S.
137). Das Sammeln von Unterschriften auf öffentlichem Grund ist unterschiedlich
beurteilt worden. In BGE 109 Ia 209 liess das Bundesgericht offen, ob es
gesteigerten Gemeingebrauch darstellt (E. 4a S. 210). Auch in BGE 97 I 893
blieb die Frage offen; gleichwohl wurden bei einer Unterschriftensammlung das
Vorliegen von gesteigertem Gemeingebrauch und ein entsprechendes
Bewilligungserfordernis letztlich bejaht (E. 5 S. 896). In beiden Fällen wurde
nur wenig Bezug genommen auf die konkreten örtlichen Gegebenheiten.
Schliesslich hat das Bundesgericht unter Bezugnahme auf das Grundrecht der
Meinungsäusserung erkannt, dass das unentgeltliche Verteilen einer
vervielfältigten Schrift durch eine Einzelperson vor einem Fabrikgebäude nicht
von einer Bewilligung abhängig gemacht werden dürfe; das Vorliegen von
gesteigertem Gemeingebrauch blieb offen (BGE 96 I 586; vgl. zum Ganzen
BÉNÉDICTE TORNAY, La démocratie directe saisie par le juge, 2008, S. 192 f.).
BGE 135 I 302 S. 309

3.3 Für die Beurteilung der vorliegenden Angelegenheit ist, wie dargetan, davon
auszugehen, dass das Sammeln von Unterschriften für eine Volksinitiative durch
Einzelpersonen bzw. durch zwei oder höchstens drei Personen an den genannten
Örtlichkeiten in Frage steht. Es handelt sich um Orte in den Fussgängerzonen
der St. Galler Innenstadt. Diese Situation ohne motorisierten Verkehr
unterscheidet sich demnach erheblich von den Entscheiden BGE 126 I 133 und BGE
97 I 893, wo die Rede war von Ausweichbewegungen von Passanten,
Menschenansammlungen, Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen, welche in
stark frequentierten Lagen zu Störungen des Verkehrsflusses führen könnten (BGE
126 I 133 E. 4c S. 139; BGE 97 I 893 E. 5 S. 897). Bei den vorliegenden
Örtlichkeiten ist weiter davon auszugehen, dass sie eine für Fussgängerzonen in
der Altstadt übliche Frequentierung aufweisen und daher kaum mit eigentlichen
Durchgangspassagen verglichen werden können, in denen grosse Passantenströme
durch Unterschriftensammlungen erheblich gestört werden könnten (vgl. BGE 132 I
49 E. 7.2 S. 63). Aus den Akten ergibt sich, dass die betroffenen Orte und
Gassen an jenen Stellen, etwa mit alten Brunnen, eine gewisse Verengung
aufweisen. Gleichwohl kann nicht angenommen werden, dass das Zirkulieren von
Passanten durch das Sammeln von Unterschriften erheblich beeinträchtigt oder
gestört würde und die Unterschriftensammlung vor dem Hintergrund der
allgemeinen Zweckbestimmung zugunsten der Fussgänger nicht mehr
gemeinverträglich wäre. Die Beschwerdeführerin räumt denn auch ein, dass die
Unterschriftensammlung durch eine Einzelperson kaum zu erheblichen "Störungen
des Verkehrsflusses" führen würde. Entgegen ihrer Auffassung kann aus BGE 96 I
586, wo eine Bewilligungspflicht für das Verteilen einer Schrift vor einer
Fabrik durch eine Einzelperson aus grundrechtlicher Sicht als verfassungswidrig
bezeichnet worden ist, nicht abgeleitet werden, dass Unterschriftensammlungen
durch drei Personen oder gar durch eine einzige Person gesteigerten
Gemeingebrauch darstellen würde.
Bei dieser Sachlage ergibt sich gesamthaft, dass das Verwaltungs gericht die
kantonalrechtlich bestimmten Begriffe des schlichten bzw. gesteigerten
Gemeingebrauchs weder willkürlich ausgelegt noch mit Blick auf die konkreten
Verhältnisse willkürlich angewendet hat. Vor diesem Hintergrund ist es sachlich
haltbar, dass das Verwaltungsgericht eine Bewilligungspflicht für entsprechende
Unterschriftensammlungen verneint hat. Daraus ergibt sich, dass das
BGE 135 I 302 S. 310
Verwal tungsgericht mit dem angefochtenen Entscheid in dieser Hinsicht die
Autonomie der Stadt St. Gallen nicht verletzt hat. Insoweit erweist sich die
Beschwerde als unbegründet.

3.4 Diese Einschätzung stellt auf die heutigen konkreten Verhältnisse ab.
Änderungen sind indes nicht ausgeschlossen. Sollten im Einzelfall namhafte
Störungen auftreten, so können allgemeine polizeiliche Massnahmen zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ergriffen werden,
ohne dass eine präventive Regelung notwendig wäre (vgl. BGE 96 I 586 E. 4c S.
591). Ferner hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine Tätigkeit, die
gemeinverträglich ist, solange sie nur von wenigen ausgeübt wird, bei
häufigerem Vorkommen zu gesteigertem Gemeingebrauch werden und insoweit von
einer Bewilligung oder andern Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann (BGE
122 I 279 E. 2e/cc S. 287). Dies gilt auch für die vorliegende Konstellation.

4. Ausgehend von der vorstehenden Erwägung stellt sich die weitere Frage, ob
die Unterschriftensammlung an den entsprechenden Orten auf unterschiedlicher
Grundlage gleichwohl einer Bewilligungspflicht unterstellt werden dürfe. Die
Beschwerdeführerin erachtet die Bewilligungspflicht nicht in erster Linie wegen
des von ihr angenommenen gesteigerten Gemeingebrauchs für erforderlich. Sie
bringt vielmehr vor, die betroffenen Orte seien für verschiedenartigste
Tätigkeiten äusserst attraktiv, insbesondere für unterschiedlichste Aktionen
politischer, religiöser, gemeinnütziger oder kultureller Art. Es gelte, diese
allesamt grundrechtlich geschützten Interessen bestmöglich zu koordinieren und
ungestört zur Verwirklichung kommen zu lassen sowie eine Überbelastung der
betroffenen Örtlichkeiten durch eine gleichzeitige Beanspruchung verschiedener
Interessenten zu verhindern. Vor diesem Hintergrund und im Sinne einer
umfassenden Grundrechtsgewährung rechtfertige sich eine Bewilligungspflicht
gerade auch für das Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren.

4.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass Bewilligungen für gesteigerten
Gemeingebrauch nicht nur dem Schutz von Polizeigütern, sondern der Koordination
und Prioritätensetzungen zwischen verschiedenen Nutzungen des öffentlichen
Grundes dienten. Das Bundesgericht hat sich in der Tat in dieser Weise
geäussert (BGE 127 I 164 E. 3b S. 168; BGE 126 I 133 E. 4d S. 139). Dabei geht
es um Tätigkeiten, welche gesteigerten Gemeingebrauch darstellen und die
BGE 135 I 302 S. 311
gleich artige Mitbenutzung durch unbeteiligte Personen einschränken. Das macht
eine Koordination unter den verschiedenen Benutzern erforderlich, umso mehr als
etwa für die Durchführung einer Demonstration ein bedingter Anspruch auf
Benützung von öffentlichem Grund besteht (vgl. BGE 132 I 256 E. 3 S. 258; BGE
127 I 164 E. 4c S. 171; Urteil 1C_140/2008 vom 17. März 2009 E. 5). Die
Koordination ist dabei ausgerichtet auf die Sicherstellung der ursprünglichen
Funktion des betroffenen öffentlichen Grundes zugunsten von unbeteiligten
Dritten. Ein solches Bedürfnis ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Es
steht nach dem Gesagten eine Tätigkeit wie das Sammeln von Unterschriften in
Frage, die vom Verwaltungsgericht als gemeinverträglich befunden worden ist.
Bei dieser Sachlage ist eine Koordination bzw. eine Sicherstellung der
ursprünglichen Funktion nicht wirklich erforderlich und eine Steuerung mit
einem Bewilligungsverfahren grundsätzlich entbehrlich.

4.2 An diesen Erwägungen vermag auch eine grundrechtliche Optik nichts zu
ändern. Es wird angenommen, dass bereits die Anordnung einer
Bewilligungspflicht einen Grundrechtseingriff bedeutet (vgl. BGE 96 I 219 E. 5
S. 225; WEBER-DÜRLER, a.a.O., S. 135; MÜLLER/ SCHEFER, a.a.O., S. 427; AUER/
MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 2. Aufl. 2006, N.
690 ff.). Das Bewilligungserfordernis für Kundgebungen auf öffentlichem Grund
bewirkt Beschränkungen der aus Art. 16 und 22 BV fliessenden Gewährleistungen.
Gleiches gilt für das Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren. Zur
Garantie der politischen Rechte gemäss Art. 34 Abs. 1 BV im Allgemeinen sowie
der Initiativ- und Referendumsrechte im Besondern (auf Bundesebene nach Art.
136 Abs. 2 BV) gehört auch das Sammeln von Unterschriften, das weitgehend auf
die Benützung von öffentlichem Grund angewiesen ist (vgl. BGE 97 I 893 E. 2 S.
895; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2.
Aufl. 2007, § 51 N. 9). Erforderlich ist daher, dass entsprechende
Beschränkungen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von
Grundrechten Dritter gerechtfertigt sind.
Unter diesem Gesichtswinkel ist im vorliegenden Fall ein öffentliches Interesse
an einer Beschränkung zurzeit nicht ersichtlich. Es wird von Seiten der
Beschwerdeführerin nicht nachgewiesen, dass die Freigabe der
Unterschriftensammlung im Sinne der verwaltungsgerichtlichen Erwägungen zu
konkreten Schwierigkeiten führen könnte. Es wird auch nicht dargelegt, dass
sich in der Vergangenheit
BGE 135 I 302 S. 312
zahlreiche Gruppierungen um gleichzeitige Bewilligungen an gleichen Orten
bemüht oder dass mehrere gleichzeitige Unterschriftensammlungen zu Nachteilen
oder Störungen geführt hätten. Insoweit erweisen sich die Bedenken der Stadt
St. Gallen als hypothetisch und vermögen daher kein aktuelles öffentliches
Interesse an einer Einschränkung von Unterschriftensammlungen und einer
entsprechenden Steuerung mit einem Bewilligungsverfahren zu begründen.
Auch ein Bedürfnis nach Schutz von dritten Grundrechtsträgern ist entgegen der
Auffassung der Beschwerdeführerin zurzeit nicht ersichtlich. Ein allfälliges
Schutzbedürfnis wird erst aktuell, wenn verschiedene Grundrechtsträger wie die
genannten Gruppen politischer, religiöser, gemeinnütziger oder kultureller Art
konkret zueinander in Konkurrenz treten oder miteinander in Konflikt geraten.
Konkrete Hinweise auf derartige Situationen werden von Seiten der
Beschwerdeführerin nicht namhaft gemacht. Soweit die Tätigkeiten solcher
Gruppen im Bereiche des schlichten Gemeingebrauchs bleiben, treten diese in
natürliche Konkurrenz zueinander und sprechen die Passanten je auf ihre eigene
Art an.
Vor diesem Hintergrund bedarf es keines vorausgehenden Schutzes dieser Gruppen
oder zwecks eines allfälligen Interessenausgleichs einer vorgängigen Steuerung
von Seiten der Behörden. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass die
eine Gruppe möglicherweise aktiver auftritt als eine andere. In dieser Hinsicht
kann vermutet werden, dass eine gewisse Selbstregulierung einsetzt und
unterschiedliche Gruppen je in der für ihre Anliegen geeigneten Weise in
Erscheinung treten, sodass im Allgemeinen ein dringendes Steuerungsbedürfnis
entfällt. Auch unter diesem Gesichtswinkel ist ein Interesse an einer
Einschränkung von Unterschriftensammlungen nicht dargetan.
Bei dieser Sachlage kann nicht gesagt werden, dass das Verwaltungsgericht die
Tragweite von Verfassungsrecht missachtet hätte. Sein Entscheid hält auch
insoweit vor der Verfassung stand und verletzt damit die Autonomie der Stadt
St. Gallen nicht.