Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 I 288



Urteilskopf

135 I 288

32. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Zivilgericht des Seebezirks des Kantons Freiburg (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_396/2009 vom 5. August 2009

Regeste

Art. 29 Abs. 3 BV; unentgeltliche Rechtspflege, Bedürftigkeit.
Verzichtet ein Versicherter freiwillig auf Barauszahlung der Austrittsleistung
im Sinne von Art. 5 FZG, obwohl er sie verlangen könnte, ist ihm das
Freizügigkeitsguthaben bei der Prüfung der Bedürftigkeit anzurechnen (E. 2.4).

Sachverhalt ab Seite 288

BGE 135 I 288 S. 288

A. Im Rahmen eines von A. am 13. Januar 2009 beim Zivilgericht des Seebezirks
des Kantons Freiburg eingeleiteten Verfahrens um Änderung des Scheidungsurteils
vom 31. Oktober 2006 ersuchten sowohl dieser als auch die von ihm geschiedene,
in Hongkong lebende, X. um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Der
Präsident des Zivilgerichts (...) wies mit Verfügungen vom 10. März 2009 beide
Gesuche ab.

B. Die von X. beim Kantonsgericht Freiburg eingereichte Berufung wurde mit
Urteil vom 27. April 2009 abgewiesen.

C. Gegen dieses Urteil hat X. am 8. Juni 2009 beim Bundesgericht eine
Beschwerde in Zivilsachen eingereicht mit dem Begehren, das angefochtene Urteil
sei aufzuheben und ihr die unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren betreffend
Abänderung des Scheidungsurteils und dem damit verbundenen Massnahmeverfahren
zu gewähren. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
(Auszug)
BGE 135 I 288 S. 289

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.4

2.4.1 Hinsichtlich der Anrechenbarkeit der Freizügigkeitsleistung macht die
Beschwerdeführerin geltend, Ansprüche auf Vorsorge- und
Freizügigkeitsleistungen gegenüber einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge
seien gemäss Art. 92 Abs. 1 Ziff. 10 SchKG vor Eintritt der Fälligkeit nicht
pfändbar. Gemäss dem von der Vorinstanz zitierten BGE 121 III 31 ff. werde in
Bezug auf Art. 5 Abs. 1 lit. a FZG (SR 831.42) festgehalten, dass die Forderung
nicht bereits mit dem Eintritt des Auszahlungsgrundes, sondern erst mit dem
ausdrücklichen Begehren des Versicherten auf Barauszahlung fällig werde. Indem
das Kantonsgericht von einem zivilrechtlichen statt betreibungsrechtlichen
Fälligkeitsbegriff ausgehe, verletze es Bundesrecht.

2.4.2 Unter Hinweis auf BGE 118 III 18 E. 3a S. 20, in welchem das
Bundesgericht gestützt auf Art. 331c Abs. 4 lit. b Ziff. 2 OR erfolgte
Barauszahlungen von Personalfürsorgestiftungen weder als unpfändbar im Sinne
von aArt. 92 Ziff. 13 SchKG noch beschränkt pfändbar im Sinne von Art. 93 SchKG
erklärte, hält ALFRED BÜHLER (Die Prozessarmut, in: Gerichtskosten,
Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Christian Schöbi
[Hrsg.], 2001, S. 151) dafür, eine Freizügigkeitsleistung sei bei der
Beurteilung der Prozessarmut dann dem Vermögen anzurechnen, wenn ein
Barauszahlungsgrund nach Art. 5 FZG eintrete und eine Barauszahlung erfolge.
STEFAN MEICHSSNER (Das Grundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege [Art. 29 Abs.
3 BV], 2008, S. 85) schreibt lediglich, fällige Leistungen aus der gebundenen
Vorsorge der Säule 3a seien grundsätzlich ebenfalls als Vermögen anzurechnen.
Mit der sich hier stellenden Frage, was gilt, wenn der um unentgeltliche
Rechtspflege Nachsuchende zwar einen Anspruch auf Barauszahlung hat, die
Freizügigkeitsleistung aber nicht bezieht, setzt sich die Lehre - soweit
ersichtlich - nicht auseinander.

2.4.3 Hingegen hat das frühere Eidgenössische Versicherungsgericht im
Zusammenhang mit der Beanspruchung von Ergänzungsleistungen entschieden, dass
dem Ansprecher die nach Art. 5 FZG zur Verfügung stehende
Freizügigkeitsleistung als Vermögen angerechnet werden müsse (Urteil P 56/05
vom 29. Mai 2006 E. 3.2). Es erwog, die Freizügigkeitsleistung werde nicht erst
fällig, wenn die
BGE 135 I 288 S. 290
Barauszahlung verlangt wird, sondern gemäss Art. 75 ff. OR (vgl. dazu BGE 129
III 535 E. 3.2.1 S. 541) bereits auf den Zeitpunkt, in welchem die Leistung
gefordert werden "kann" bzw. "darf". Dass das Bundesgericht in seiner Praxis
zum Schuldbetreibungs- und Konkursrecht (in Bezug auf die Bestimmung des Art.
92 Ziff. 10 SchKG bzw. aArt. 92 Ziff. 13 SchKG) von einem anderen
Fälligkeitsbegriff ausgehe (vgl. BGE 119 III 18 E. 3c S. 22, fortgeschrieben in
BGE 120 III 75 E. 1a S. 77 und BGE 121 III 31 E. 2b und c S. 33 f.), vermöge
hieran nichts zu ändern, weil der betreibungsrechtliche Fälligkeitsbegriff
praxisgemäss vom zivilrechtlichen abweichen könne (so ausdrücklich im
Verhältnis zwischen dem BVG und dem SchKG in BGE 126 V 258 E. 3a S. 263, sowie
das in StR 55/2000 S. 573 und Pra 2000 Nr. 169 S. 1030 veröffentlichte Urteil
2P.43/2000 vom 26. Mai 2000 E. 2g; und Urteil des Bundesgerichts B.268/1995 vom
5. Dezember 1995 in Sachen Konkursamt D. E. 2b/cc; s. auch BGE 131 V 147 E. 6.2
S. 151; und ROLF H. WEBER, Berner Kommentar, 2. Aufl. 2005, N. 44 und 57 zu
Art. 75 OR sowie MARIUS SCHRANER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2000, N. 61 f. zu
Art. 75 OR). Wenn also von der Fälligkeit des Freizügigkeitsguthabens
auszugehen sei, rechtfertige es sich, "stehen gelassene" Guthaben gleich zu
behandeln wie bezogene, d.h. im Rahmen der Ermittlung der Einkommens- und
Vermögensverhältnisse als Reinvermögen entsprechend Art. 3c Abs. 1 lit. c ELG
zu berücksichtigen (Urteil P 56/05 E. 3.3). Es verhalte sich dabei nicht anders
als im kantonalen Sozialhilferecht (dessen Leistungen wie die
Ergänzungsleistungen zur AHV/ IV nur im Falle des Vorliegens einer
entsprechenden Bedarfssituation zum Zuge kommen), für welchen Bereich das
Bundesgericht im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde eine entsprechende
kantonale Praxis unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbotes und des
Rechtsgleichheitsgrundsatzes als zulässig erachtet habe (Urteile 2P.53/2004 vom
13. Mai 2004 E. 4.3 und 2P.43/2000 vom 26. Mai 2000 E. 2c). Würde anders
entschieden, wäre die Anrechenbarkeit der Willkür des Ansprechers überlassen
und würde es zu einer stossenden Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den
effektiven Bezügern solcher Guthaben kommen.
Diese Rechtsprechung wurde in der Lehre zum Teil ausdrücklich begrüsst (HANS
MICHAEL RIEMER, Berührungspunkte zwischen beruflicher Vorsorge und ELG sowie
kantonalen Sozialhilfegesetzen bzw. SKOS-Richtlinien, in: SZS 2001 S. 331 ff.,
333) oder zumindest kritiklos übernommen (THOMAS SPESCHA, in: Extrasystemische
BGE 135 I 288 S. 291
Bezüge des Sozialversicherungsrechts [...], recht 2000 S. 75, Fn. 168 mit
Hinweis auf CARLO TSCHUDI, Freizügigkeitsleitungen und Sozialhilfe, Zeitschrift
für öffentliche Fürsorge 93/1996 S. 60/61).

2.4.4 Die im Bereich des Sozialversicherungsrechts angestellten Überlegungen
gelten mutatis mutandis auch im vorliegenden Sachzusammenhang. Hier wie dort
geht es um die Beanspruchung öffentlicher Gelder, obwohl eigentlich Vermögen
vorhanden wäre, auf das zurückzugreifen der Ansprecher freiwillig verzichtet.
Die Vorinstanz hat auf der Basis der soeben dargelegten bundesgerichtlichen
Praxis sowohl Fälligkeit als auch Anrechenbarkeit des Freizügigkeitsguthabens
der Beschwerdeführerin bejaht und daraus ableitend ihre prozessuale
Bedürftigkeit verneint. Eine Verletzung von Verfassungsrecht (Art. 29 Abs. 3
BV) liegt nicht vor.