Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 I 257



Urteilskopf

135 I 257

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. GmbH
und Y. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in
Strafsachen)
1B_252/2008 vom 16. April 2009

Regeste

Art. 46 Abs. 2 BGG (sog. "Gerichtsferien"; Ausnahme vom Fristenstillstand).
Strafprozessuale Zwischenentscheide (insbesondere Beschlagnahmen und
Kontensperren) sind als "andere vorsorgliche Massnahmen" im Sinne von Art. 46
Abs. 2 BGG zu behandeln (E. 1.1-1.5). Ausnahmsweises Eintreten auf die
Beschwerde (nach Treu und Glauben bzw. angesichts der altrechtlichen OG-Praxis)
im vorliegenden Fall (E. 1.6).

Sachverhalt ab Seite 258

BGE 135 I 257 S. 258

A. Das Untersuchungsamt St. Gallen führt eine Strafuntersuchung gegen Y. und
die X. GmbH wegen Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, der Übertretung des
Bundesgesetzes über den unlauteren Wettbewerb und der Widerhandlung gegen die
Preisbekanntgabeverordnung. Am 8. Mai 2007 verfügte es Kontensperren, und am
14. Mai 2007 beschlagnahmte es in Geschäftsräumlichkeiten der genannten
Gesellschaft unter anderem Geschäftsunterlagen und Vermögenswerte, insbesondere
Teppiche.

B. Mit Schreiben vom 5. Mai 2008 beantragten die Gesellschaft und Y. beim
Untersuchungsamt die Herausgabe der (unterdessen noch) sichergestellten
Gegenstände und Vermögenswerte. Mit Schreiben vom 6. Mai 2008 hielt das
Untersuchungsamt an der Aufrechterhaltung der Beschlagnahmen und Kontensperren
fest. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies die Anklagekammer des Kantons St.
Gallen am 9. Juli 2008 ab.

C. Gegen den Entscheid der Anklagekammer vom 9. Juli 2008 gelangten die
Gesellschaft und Y. mit Beschwerde vom 15. September 2008 an das Bundesgericht.
Sie beantragen zur Hauptsache die Aufhebung der Kontensperren bei drei
Finanzinstituten sowie die Herausgabe der beschlagnahmten Teppiche und
Geschäftsunterlagen. (...)
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1. Zu prüfen ist zunächst, ob die Beschwerde angesichts des Fristenstillstands
während den sogenannten "Gerichtsferien" (Art. 46 Abs. 1 BGG) rechtzeitig
erhoben wurde.
BGE 135 I 257 S. 259

1.1 Nach alter Bundesrechtspflege galten für "Strafsachen" die Gerichtsferien
nicht (Art. 34 Abs. 2 OG). Unter die Strafsachen im Sinne des OG fielen jedoch
nur Verfahren, mit denen das Bundesgericht als eidgenössische
Strafgerichtsbehörde befasst war, nicht aber Verfahren der Staats- oder
Verwaltungsrechtspflege. Die Gerichtsferien waren daher nach altem Recht im
(staatsrechtlichen) Beschwerdeverfahren gegen strafprozessuale
Zwischenentscheide, insbesondere Zwangsmassnahmen, zu berücksichtigen (BGE 103
Ia 367 f.; Urteil 1P.534/2003 vom 6. Oktober 2003 E. 1). Der seit 1. Januar
2007 anwendbare Art. 46 BGG regelt den Fristenstillstand im Rahmen der
sogenannten Gerichtsferien in Absatz 1. Als Ausnahmen vom Fristenstillstand
nennt Absatz 2 "Verfahren betreffend aufschiebende Wirkung und andere
vorsorgliche Massnahmen" sowie die Wechselbetreibung und die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen.

1.2 Der bundesrätlichen Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege
lässt sich nicht entnehmen, was unter "anderen vorsorglichen Massnahmen" im
Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zu verstehen ist. Gemäss Botschaft sei die
altrechtlich (in Art. 34 Abs. 2 OG) noch vorgesehene Ausnahme vom
Fristenstillstand für "Strafsachen" nach Inkrafttreten des BGG zwar "nicht mehr
gerechtfertigt, da das Bundesgericht in diesem Bereich nur noch
Beschwerdeinstanz sein" werde (BBl 2001 4297 Ziff. 4.1.2.5; s. auch AMSTUTZ/
ARNOLD, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 10 zu Art. 46
BGG). Der Hinweis auf die altrechtliche Ausnahme für "Strafsachen" bezieht sich
jedoch, wie bereits dargelegt, nicht auf strafprozessuale
Zwangsmassnahmenentscheide. Ausserdem wäre nicht einzusehen, weshalb bei
vorsorglichen Massnahmen in Zivil- und Verwaltungsverfahren (wo das
Bundesgericht ebenfalls als Beschwerdeinstanz tätig wird) die fragliche
Ausnahme von den Gerichtsferien gelten sollte (vgl. dazu nachfolgend E. 1.4),
im Strafprozess hingegen nicht. Dies umso weniger, als schon die altrechtliche
materielle Praxis Beschlagnahmenentscheide als "provisorische prozessuale
Massnahmen" bezeichnete (vgl. BGE 126 I 97 E. 1c S. 102; s. dazu unten E. 1.5).

1.3 In BGE 133 I 270 E. 1.2.1 S. 273 f. liess das Bundesgericht ausdrücklich
offen, ob es sich bei strafprozessualen Haftprüfungen um "Verfahren betreffend
andere vorsorgliche Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG handelt. Die
Frage konnte offenbleiben, da in Haftfällen der Fristenstillstand bereits wegen
des besonderen
BGE 135 I 257 S. 260
Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht greift. Hier ist zu prüfen, ob
Entscheide über strafprozessuale Beschlagnahmungen bzw. Kontensperren als
vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zu behandeln sind.

1.4 Im Zivilprozessrecht fallen unter die vorsorglichen Massnahmen im Sinne von
Art. 46 Abs. 2 BGG zum Beispiel die Schuldneranweisung gemäss den Bestimmungen
zum Schutz der ehelichen Gemeinschaft (Art. 177 ZGB; BGE 134 III 667), die
Einsprache gegen die Ausstellung einer Erbenbescheinigung (Art. 559 Abs. 1 ZGB;
Urteil 5A_162/2007 vom 16. Juli 2007 E. 5.2) oder das Inventar über das
Kindesvermögen (Art. 318 Abs. 2 ZGB; Urteil 5A_169/2007 vom 21. Juni 2007 E.
3). Im Verwaltungsverfahrensrecht gehören etwa provisorische
Lärmschutzmassnahmen dazu (Urteil 1C_283/ 2007 vom 20. Februar 2008 E. 2.3 und
2.4), bei den SchKG-Verfahren der Arrest (inklusive Weiterziehung des
Einspracheentscheides nach Art. 278 Abs. 3 SchKG; Urteil 5A_218/2007 vom 7.
August 2007 E. 3.2, in: Pra 2007 Nr. 138 S. 944 ff.). Ausländerrechtliche
Zwangsmassnahmenentscheide, etwa betreffend Durchsetzungshaft, fallen hingegen
weder unter die Rechtsprechung zu strafprozessualen vorläufigen
Zwangsmassnahmen (im Sinne von BGE 133 I 270 E. 1.2.2 S. 274) noch unter die
"anderen vorsorglichen Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG (BGE 134 II
201 E. 1.2 S. 203 f.).

1.5 Die hier streitige Einziehungsbeschlagnahme (Art. 141 Abs. 1 lit. b des
sankt-gallischen Strafprozessgesetzes vom 1. Juli 1999 [StP/SG; sGS 962.1]
stellt - im Gegensatz zur endgültigen materiellrechtlichen Einziehung - eine
von Bundesrechts wegen vorgesehene provisorische (konservatorische)
strafprozessuale Massnahme dar zur vorläufigen Sicherstellung von allenfalls
der Einziehung unterliegenden Vermögenswerten oder zur Durchsetzung einer
möglichen staatlichen Ersatzforderung. Die Beschlagnahme greift dem
Einziehungsentscheid nicht vor; und auch die zivilrechtlichen
Eigentumsverhältnisse an den Vermögenswerten bleiben durch die strafprozessuale
Beschlagnahme unberührt (BGE 126 I 97 E. 1c S. 102; BGE 124 IV 313 E. 4 S. 316;
BGE 120 IV 365 E. 1c S. 366 f.). Bei der Beweismittelbeschlagnahme (Art. 141
Abs. 1 lit. a StP/SG) handelt es sich um eine provisorische strafprozessuale
Massnahme zur Beweissicherung. Der Sinn und Zweck von Art. 46 Abs. 2 BGG
erfasst auch diese vorläufigen prozessualen Zwangsmassnahmen. Zwar ist hier
kein (zusätzliches) besonderes verfassungsmässiges Beschleunigungsgebot wie in
strafprozessualen Haftsachen zu
BGE 135 I 257 S. 261
berücksichtigen (vgl. Art. 31 Abs. 3 und 4 BV; BGE 133 I 270 E. 1.2.1 S. 273
f.). Auch Beschwerdefälle betreffend Beschlagnahmen sind jedoch zur Wahrung der
Verhältnismässigkeit und im Interesse der Verfahrensbeschleunigung möglichst
zügig zu entscheiden. Im Übrigen rechtfertigt - im Vergleich mit zivil- und
verwaltungsprozessualen vorsorglichen Massnahmen (bei denen Art. 46 Abs. 2 BGG
nach der dargelegten Rechtsprechung zur Anwendung kommt) - auch die Bedeutung
und Eingriffsintensität strafprozessualer Beschlagnahmungen und Kontensperren
eine analoge verfahrensrechtliche Praxis.

1.6 Auch wenn strafprozessuale Zwischenentscheide (wie Beschlagnahmen und
Kontensperren) somit als andere vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 46
Abs. 2 BGG zu behandeln sind, muss im vorliegenden Fall nach Treu und Glauben
noch auf die Beschwerde eingetreten werden (BGE 133 I 270 E. 1.2.3 S. 274 f.
mit Hinweisen). Die neue Rechtslage war aufgrund von BGE 133 I 270 E. 1.2.1 S.
273 f. (und angesichts der altrechtlichen Praxis bzw. der erfolgten Revision
der Bundesrechtspflege) jedenfalls noch nicht ausreichend klar.