Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 I 19



Urteilskopf

135 I 19

4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Frei und
Mitb. gegen Keller-Inhelder sowie Kantonsrat des Kantons St. Gallen (Beschwerde
in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten)
1C_291/2008 vom 17. Dezember 2008

Regeste

Art. 34 Abs. 2 BV, Art. 2 lit. x KV/SG; Anspruch auf unverfälschte Stimmabgabe;
direkte Wahl der Volksvertreter nach Proporzsystem; Grundsatz des freien
Mandats. Erneuerungswahl des St. Galler Kantonsparlaments: Gültigkeit der Wahl
einer Kandidatin, die auf der Liste einer Partei gewählt wird, aber zwischen
Wahltermin und Konstituierung des Parlaments zu einer Partei mit
konkurrierender Liste übertritt (E. 3-5).

Sachverhalt ab Seite 20

BGE 135 I 19 S. 20
Am 16. März 2008 fand im Kanton St. Gallen die Erneuerungswahl des Kantonsrats
(Kantonsparlament) für die Amtsdauer 2008/2012 statt. Die Wahl des Kantonsrats
erfolgt nach dem System der Proporzwahl. Der Kantonsrat besteht aus 120
Mitgliedern. Im Wahlkreis See-Gaster waren 15 Sitze zu vergeben. In diesem
Wahlkreis errangen die miteinander verbundenen Listen Nrn. 6 und 7 der
Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) insgesamt 5 Sitze und die Liste Nr.
1 der Schweizerischen Volkspartei (SVP) 6 Sitze. Auf der Liste Nr. 6
kandidierte unter anderem die bisherige Kantonsrätin Barbara Keller-Inhelder.
Sie erzielte auf ihrer Liste die beste Stimmenzahl und wurde gemäss
Wahlprotokoll als gewählt erklärt. Die Wahlergebnisse wurden im kantonalen
Amtsblatt vom 31. März 2008 veröffentlicht. Es gingen keine Beschwerden gegen
die Durchführung der Wahl und deren Ergebnisse ein. Mit Botschaft vom 22. April
2008 beantragte die Regierung des Kantons St. Gallen dem Kantonsrat, die
Gültigkeit der Kantonsratswahl festzustellen. Am 27. Mai 2008 orientierte die
Kantonsregierung jedoch das Präsidium des Kantonsrats, dass Barbara
Keller-Inhelder Medienberichten zufolge kurz nach dem Wahltermin einen
Parteiwechsel von der CVP zur SVP vollzogen habe.
Der neugewählte Kantonsrat trat erstmals am 2. Juni 2008 zusammen. An diesem
Datum behandelte er unter anderem die sog. Validierung der Kantonsratswahl. Bei
diesem Geschäft stimmte er zunächst über die Gültigkeit der Wahl von Barbara
Keller-Inhelder ab, hiernach gesamthaft über diejenige der anderen 119
Mitglieder. Die vorberatende kantonsrätliche Kommission hatte den Antrag
gestellt, die Wahl von Barbara Keller-Inhelder wegen ihres Parteiwechsels für
ungültig zu erklären. Diesen Antrag lehnte der Kantonsrat mit 58 zu 54 Stimmen
bei 6 Enthaltungen und 2 Abwesenheiten ab; Barbara Keller-Inhelder befand sich
im Ausstand. Anschliessend stellte der Kantonsrat fest, die Wahl der anderen
119 Mitglieder sei ebenfalls gültig.
Den kantonsrätlichen Entscheid über die Validierung der Wahl von Barbara
Keller-Inhelder fechten Jörg Frei und vier Mitbeteiligte beim Bundesgericht mit
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an. Das Bundesgericht
weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
BGE 135 I 19 S. 21

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Zur Hauptsache rufen die Beschwerdeführer Art. 34 Abs. 2 BV und Art. 2 lit.
x KV/SG (SR 131.225) an.
Art. 34 Abs. 2 BV schützt die freie Willensbildung und unverfälschte
Stimmabgabe. Die Garantie bedeutet, dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis
anerkannt werden darf, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig
und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Der Wählerwille soll sich möglichst
unverfälscht in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln (vgl. BGE 131
I 442 E. 3.1 S. 447; BGE 123 I 97 E. 4a S. 105).
Art. 2 KV/SG gewährleistet die Grundrechte nach Massgabe der Bundesverfassung
in allgemeiner Weise und schliesst namentlich auch die freie Willensbildung und
unverfälschte Stimmabgabe in Ausübung der politischen Rechte ein (lit. x).
Diese kantonalen Garantien reichen nicht über jene von Art. 34 Abs. 2 BV hinaus
(Urteil des Bundesgerichts 1C_412/2007 vom 18. Juli 2008 E. 3).

2.2 In der Replik bringen die Beschwerdeführer Rügen vor, die sie in der
Beschwerdeschrift nicht geltend gemacht haben. Es gilt vorweg zu prüfen, ob
dies zulässig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine
Beschwerdeergänzung auf dem Weg der Replik nur insoweit statthaft, als die
Ausführungen in der Vernehmlassung eines anderen Verfahrensbeteiligten dazu
Anlass geben. Ausgeschlossen sind hingegen in diesem Rahmen Anträge und Rügen,
die der Beschwerdeführer bereits vor Ablauf der Beschwerdefrist hätte erheben
können (vgl. BGE 134 IV 156 E. 1.7 S. 162; BGE 132 I 42 E. 3.3.4 S. 47 mit
weiteren Hinweisen).

2.2.1 Zum einen führen die Beschwerdeführer in diesem Rahmen aus, der
angefochtene Entscheid verstosse gegen Art. 62 Abs. 3 des Geschäftsreglements
des Kantonsrats vom 24. Oktober 1979 (sGS 131.11) und sei auch deswegen
aufzuheben. Mit dieser Bestimmung wird vorgeschrieben, dass gewisse
vorberatende Kommissionen des Kantonsrats in der Regel dem Kantonsrat
schriftlich Bericht zu erstatten haben. Die Beschwerdeführer beanstanden, es
sei vorliegend nur eine kurze mündliche und damit unzulängliche
Berichterstattung erfolgt. Dass diese neu erhobene Rüge wegen Äusserungen in
der Vernehmlassung der Kantonsregierung notwendig geworden sei, ist weder
behauptet noch ersichtlich. Bereits aus dem Protokollauszug, den die
Beschwerdeführer als Anfechtungsobjekt
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eingereicht haben, geht hervor, wie die kritisierte Berichterstattung im Rat
vor sich ging. Auf die diesbezüglichen Vorbringen kann demzufolge nicht
eingetreten werden.

2.2.2 Zum andern dreht sich die Beschwerdeergänzung um die
Tatsachenfeststellung des Kantonsrats zum Zeitpunkt, in dem Barbara
Keller-Inhelder den Parteiwechsel vollzogen hat. In der Beschwerdeschrift wird
entsprechend dem angefochtenen Entscheid - und ohne Infragestellung -
vorgebracht, Barbara Keller-Inhelder sei im Nachgang zur Wahl aus der CVP
ausgetreten und in die SVP übergetreten. Nichts anderes hat die
Kantonsregierung in der Vernehmlassung an das Bundesgericht vorgetragen.
In der Replik bringen die Beschwerdeführer nun die Präzisierung an, der
Parteiwechsel habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch vor dem
Wahltermin stattgefunden. Auch insofern sind die Beschwerdeführer nicht zu
einer Beschwerdeergänzung berechtigt. Sie machen nicht geltend, die
nachträglich behaupteten Tatsachen und neu eingereichten Belege seien ihnen vor
Ablauf der Beschwerdefrist nicht zugänglich gewesen. Aus diesem Grund kann auf
die diesbezüglichen Ausführungen nicht eingegangen werden.
Im Übrigen bekräftigen die Beschwerdeführer in der Replik, die Gegenseite habe
mit der Kommunikation des Parteiwechsels gezielt bis nach den Wahlen
zugewartet. Die Beschwerdeführer zeigen nicht auf, inwiefern ihre neue
Sachdarstellung für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein soll. Nur
unter dieser Voraussetzung wäre eine Sachverhaltsrüge gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG
überhaupt zulässig. Auch im Hinblick darauf sind die neuen Vorbringen zum
Sachverhalt unbeachtlich.

2.3 Im Ergebnis ist der Streitgegenstand auf die Frage beschränkt, ob es das
Stimm- und Wahlrecht verletzt, Barbara Keller-Inhelder trotz des nach den
Wahlen vollzogenen Parteiwechsels zur Amtsausübung zuzulassen. Es ist
unbestritten, dass die übrigen rechtlichen Voraussetzungen für den Amtsantritt
erfüllt sind. Die Beschwerdeführer legen Barbara Keller-Inhelder zur Last, sich
gegenüber der Wählerschaft treuwidrig verhalten zu haben. An ihrer Stelle sei
dem in Frage kommenden Ersatzmitglied der Wahlliste das Nachrücken zu
gestatten. Der Kantonsrat habe verkannt, dass er zum Schutz von Sinn und Zweck
des Proporzwahlrechts zu einer solchen Anordnung verpflichtet sei. Die
Beschwerdeführer verlangen von den Parlamentariern keine rechtliche Bindung
während der ganzen
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Amtsdauer an die angestammte Partei. Ein Übertritt noch vor der Konstituierung
des neugewählten Parlaments ist aber ihrer Meinung nach besonders stossend.
Werde in einem solchen Fall der Amtsantritt geschützt, dann entspreche die
Zusammensetzung des Parlaments von Beginn weg nicht dem Wählerwillen.

3.

3.1 An sich ist es richtig, dass aus Sicht der Stimmberechtigten die
Zusammensetzung des Parlaments nicht nur am Wahltag selbst, sondern auch danach
dem Wahlergebnis entsprechen soll. Wie es sich insofern verhält, wenn ein
gewählter Kandidat bzw. ein Parlamentarier aus der Partei ausscheidet oder in
eine andere Partei übertritt, muss vorliegend untersucht werden.

3.2 Dabei ist einzubeziehen, dass für die im Amte stehenden
Parlamentsmitglieder das Prinzip der auftragsfreien Repräsentation gilt (sog.
freies Mandat). Für die Mitglieder der Bundesversammlung wird dieser Grundsatz
heute aus Art. 161 Abs. 1 BV abgeleitet; die Bestimmung wurde inhaltlich
unverändert aus Art. 91 aBV übernommen (vgl. dazu HÄFELIN/HALLER/KELLER,
Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008, N. 1607; MORITZ VON WYSS, in:
Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 3 ff. zu Art.
161 BV; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2.
Aufl. 2007, § 34 N. 1; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse,
Bd. I, 2. Aufl. 2006, N. 70; JEAN-FRANÇOIS AUBERT, in: Petit Commentaire de la
Constitution fédérale, 2003, N. 4 zu Art. 161 BV; derselbe, in: Kommentar zur
Bundesverfassung, N. 1 ff. zu Art. 91 aBV). Nach der herrschenden
Staatsrechtslehre in der Schweiz gehört der Grundsatz der auftragsfreien
Repräsentation zum Wesen des parlamentarischen Mandats (vgl. HALLER/KÖLZ/
GÄCHTER, Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 2008, S. 247 f.; TSCHANNEN, a.a.O.,
§ 30 N. 12 ff.; AUBERT, in: Petit Commentaire, N. 1 lit. f der Vorbemerkungen
vor Art. 148 ff. BV). Kritisch zu diesem Grundsatz geäussert hat sich PETER
SALADIN; er postulierte eine Verantwortung der Parlamentarier gegenüber ihrer
Wählerschaft (Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 174 f.). In
abgeschwächter Form bekennen sich mehrere Autoren unter dem Stichwort
"Responsiveness" zu einer Bindung der Parlamentarier gegenüber ihrer
Wählerschaft als Ansprechpartner (vgl. dazu JÖRG PAUL MÜLLER, "Responsive
Government": Verantwortung als Kommunikationsproblem, ZSR 1995 I S. 3 ff., 15,
21; RENÉ RHINOW, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2003, N.
1856,
BGE 135 I 19 S. 24
2239; PHILIPPE MASTRONARDI, Verfassungslehre, 2007, N. 494 f.; so schon
SALADIN, a.a.O., S. 177 ff.). Der Inhalt der soeben erwähnten Standpunkte muss
nicht vertieft erörtert werden. Nach dem geltenden Verfassungsrecht des Bundes
ist vom Prinzip des freien Mandats auszugehen.

3.3 Die sanktgallische Kantonsverfassung enthält keine Regelung zu diesem
Aspekt des Parlamentsrechts. Im Schrifttum wird davon ausgegangen, dass der
Grundsatz des freien Mandats für ein Kantonsparlament auch ohne besondere
Regelung im kantonalen Recht gilt (vgl. MATTHIAS HAUSER, in: Kommentar zur
Zürcher Kantonsverfassung, 2007, N. 1 zu Art. 52 KV/ZH; PETER MÜNCH, Wesen und
Bedeutung der Parlamentsfraktion aus schweizerischer Sicht, in: Archiv des
öffentlichen Rechts 120/1995 S. 382 ff., 410; KURT EICHENBERGER, Verfassung des
Kantons Aargau, Kommentar, 1986, N. 4 der Vorbemerkungen vor §§ 76 ff. KV/AG).
Wie die Kantonsregierung in der Vernehmlassung an das Bundesgericht darlegt,
sind Parteiwechsel von Kantonsratsmitgliedern nach dem Amtsantritt in der St.
Galler Praxis wiederholt vorgekommen, ohne dass diese Politiker zur Abgabe des
Mandats verpflichtet gewesen wären. Ungewöhnlich ist beim vorliegenden Fall,
dass der Parteiwechsel bereits vor Amtsantritt vollzogen wurde. Im Ergebnis hat
der Kantonsrat hier dem Grundsatz des freien Mandats eine für die Zeit zwischen
Wahl und Amtsantritt vorauswirkende Tragweite verliehen. Es fragt sich, ob
dieser Entscheid mit den politischen Rechten der Beschwerdeführer vereinbar
ist.

4. Bei Stimmrechtsbeschwerden überprüft das Bundesgericht nicht nur die
Auslegung von Bundesrecht und kantonalen verfassungsmässigen Rechten frei (Art.
95 lit. a und c BGG). Gestützt auf Art. 95 lit. d BGG prüft es auch die
Anwendung des kantonalen Rechts, das den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts
normiert oder mit diesem in engem Zusammenhang steht, mit freier Kognition. In
ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst es sich allerdings der vom obersten
kantonalen Organ vertretenen Auffassung an; als solches werden Volk und
Parlament anerkannt (vgl. Urteil 1C_5/2007 vom 30. August 2007 E. 1, in: ZBl
109/2008 S. 155). Trotz der freien Prüfung weicht das Bundesgericht nicht
leichthin von der Beurteilung des kantonalen Parlaments ab.

5. Unter dem Blickwinkel der politischen Rechte geht es um den Aspekt, dass die
Volkswahl von Verfassungs wegen eine direkte sein muss.
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5.1 Art. 39 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 BV verpflichten die Kantone, den
Stimmberechtigten das Recht zur direkten Wahl der Volksvertreter einzuräumen
(vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1P.605/1994 vom 16. März 1995 E. 2b, in:
ZBl 97/1996 S. 134). Dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe genügen
grundsätzlich sowohl das Mehrheits- als auch das Verhältniswahlverfahren (BGE
131 I 74 E. 3.2 S. 79, BGE 131 I 85 E. 2.2 S. 87; je mit Hinweisen). Die
Mitglieder des St. Galler Kantonsrats werden gemäss Art. 37 KV/SG in den
bezeichneten Wahlkreisen nach Proporz gewählt. Wie Art. 54 Abs. 1 des
kantonalen Gesetzes vom 4. Juli 1971 über die Urnenabstimmungen (UAG; sGS
125.3) festlegt, richtet sich das Wahlverfahren sachgemäss nach der
Bundesgesetzgebung zur Wahl des Nationalrats, mithin nach dem Bundesgesetz vom
17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1).

5.2 Das Wahlsystem der Verhältniswahl bezweckt, alle massgeblichen politischen
Kräfte nach Massgabe ihrer Parteistärke im Parlament Einsitz nehmen zu lassen
(vgl. BGE 131 I 74 E. 3.3 S. 80; BGE 123 I 97 E. 4d S. 106 mit weiteren
Hinweisen). Bei diesem Wahlsystem tritt die Persönlichkeitswahl in den
Hintergrund; im Vordergrund steht die von der Partei bzw. politischen
Gruppierung aufgestellte Liste (vgl. BGE 118 Ia 415 E. 6c S. 420 f.; Urteil
1C_217/2008 vom 3. Dezember 2008 E. 2.1). Für die Stimmberechtigten zeichnet
sich die Proporzwahl dadurch aus, dass sie nur Kandidaten wählen können, die
auf einer Liste vorgeschlagen sind (BGE 98 Ia 64 E. 3c S. 72 f.; HANGARTNER/
KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, 2000, N. 1436). Das Stimm- und Wahlrecht umfasst bei
Proporzwahlen einen Anspruch auf gehörige Bekanntgabe der Listen; dazu gehören
Angaben über die Erklärung einer Listenverbindung (vgl. BGE 104 Ia 360 E. 3a S.
363 f.).

5.3 Die Parteien schlagen die Kandidaten vor, die auf ihren Listen zur Wahl
stehen. Die behördliche Bereinigung der Kandidatenlisten erfolgt im
Vorverfahren. Im Rahmen des Vorverfahrens haben die Kandidaten schriftlich zu
bestätigen, dass sie den Wahlvorschlag annehmen (Art. 13 Abs. 4 der
Vollzugsverordnung vom 17. August 1971 zum kantonalen Gesetz über die
Urnenabstimmungen [VV-UAG; sGS 125.31] unter Hinweis auf Art. 22 BPR).
Ausserdem ist die sog. Doppelkandidatur verboten: Der Kandidatenname darf nur
auf einer Liste erscheinen (vgl. HANGARTNER/KLEY, a.a.O., N. 1433; vgl. im
Einzelnen Art. 15 VV-UAG unter Hinweis auf Art. 27 BPR).
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Mit diesen Sicherungen wird gewährleistet, dass für den Wahlgang jeder Kandidat
einer Liste - bzw. der dahinterstehenden Partei - zugeordnet werden und
gestützt darauf direkt die Mandatszuteilung vorgenommen werden kann. Die
behördliche Prüfung im Rahmen des Vorverfahrens ist jedoch vorwiegend formeller
Natur. Es ist weder vorgeschrieben noch wird geprüft, ob die Kandidaten eine
Bindung zu der Partei aufweisen, die sie auf der Liste aufstellt. Zwar werden
sich die Kandidaten im Wahlkampf bildlich gesprochen das Etikett der Partei
anheften müssen, auf deren Liste sie sich um einen Parlamentssitz bewerben.
Diese Tatsache verändert aber die rechtliche Tragweite der vorgenannten
Erklärung der Kandidaten im Lichte von Art. 13 Abs. 4 VV-UAG nicht. Daraus
lässt sich nichts anderes ableiten, als dass die Unterzeichner mit einer
Kandidatur auf dieser Liste einverstanden sind. Sie geben mit dieser Erklärung
kein Versprechen zu ihrem Verhalten nach dem Wahlgang ab.

5.4 Bei der Proporzwahl bedeutet die Stimmabgabe für einen Kandidaten
gleichzeitig eine solche für die Liste, auf der er kandidiert. Diese Einheit
von Kandidatenstimme und Listenstimme gilt nachgerade im System der
Einzelstimmenkonkurrenz, das im Kanton St. Gallen zur Anwendung gelangt. Das
System regelt die Wirkungen des sog. Panaschierens in der Weise, dass die
eingelegte Liste Stimmen an die Listen der anderen Parteien verliert, für deren
Kandidaten gestimmt wird (vgl. HANGARTNER/KLEY, a.a.O., N. 1439 f., auch zum
Folgenden). Auch nach dieser Ordnung werden die Sitze in erster Linie einer
Liste bzw. Listenverbindung gemäss der gesamthaft erlangten Stimmenzahl
zugeteilt. Innerhalb der Liste werden diese Sitze an die Kandidaten mit den
meisten Stimmen vergeben. Primär entscheidend ist somit die Stimme für die
Liste. Auch beim Modus der Einzelstimmenkonkurrenz erreichen die direkt
abgegebenen Kandidatenstimmen oft nicht die Schwelle, die für das Erlangen
eines Mandats mathematisch nötig ist. Unter diesen Umständen verdankt der
Kandidat sein Mandat zu einem bedeutenden Teil der Anrechnung von weiteren
Listenstimmen. So verhält es sich im vorliegenden Fall, auch wenn Barbara
Keller-Inhelder das beste Wahlresultat auf ihrer Liste aufweist. Sie hat rund
4'600 Stimmen auf sich vereinigt; die Verteilungszahl für ein Vollmandat lag
bei über 11'500 Stimmen. Der verfassungsrechtliche Entscheid über
Auseinandersetzungen der vorliegenden Art kann freilich nicht von der
gewonnenen Zahl an Kandidatenstimmen im Einzelfall abhängen.
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5.5 Wie bei E. 3.3 hiervor angesprochen, spielt vielmehr eine wesentliche
Rolle, dass die Mitglieder des St. Galler Kantonsparlaments aus ihrer
angestammten Partei austreten und sogar in eine andere Partei übertreten
können, ohne deshalb zur Abgabe des Mandats verpflichtet zu sein. Sie verletzen
keine rechtliche Treuepflicht gegenüber ihrer Wählerschaft, wenn sie die Partei
nach Amtsantritt wechseln. Ein derartiges Verhalten verstösst nicht gegen
politische Rechte der Wählerschaft (vgl. allgemein TOMAS POLEDNA,
Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, 1988, S. 283). Dieser
Autor spricht sich an derselben Stelle dafür aus, den Schutz vor Mandatsverlust
auch auf Konstellationen zu erstrecken, bei denen das Ausscheiden aus der
Partei zwischen Wahltermin und Amtsantritt geschieht. In diese Richtung weisen
ältere Entscheide bezüglich Ersatzmitgliedern des Nationalrats; Letztere wurden
zur Amtsausübung zugelassen, obwohl sie zwischen der Wahl und dem Zeitpunkt des
Nachrückens aus ihrer Partei ausgetreten waren bzw. die Partei gewechselt
hatten (vgl. dazu JEAN-FRANÇOIS AUBERT, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Bd. II,
1995, N. 1191, unter anderem mit Hinweis auf VEB 22/1952 Nr. 10).

5.6 Hier ist der Parteiwechsel nur kurz nach dem Wahltag bzw. noch vor der
Konstituierung des neugewählten Parlaments vollzogen worden. Dieser Schritt mag
fragwürdig und der damit bewirkte Verlust an politischer Glaubwürdigkeit gross
sein. Dennoch ist auch ein derartiger Parteiübertritt mit dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des direkten Wahlrechts vereinbar. Unmittelbar
aus den verfassungsmässigen politischen Rechten lassen sich keine höheren
Anforderungen an die Zulassung zum Amtsantritt ableiten, als später während der
Amtsausübung gelten. Immerhin stünde es dem kantonalen Gesetzgeber frei, eine
Regelung über Konsequenzen zu erlassen für den Fall, dass ein gewählter
Kandidat noch vor der Validierung der Wahl aus eigenen Stücken zu der Partei
einer konkurrierenden Liste überwechselt. Eine derartige Vorschrift besteht
hier nicht. Vor diesem Hintergrund hält es vor der Verfassung stand, dass der
Kantonsrat die Wahl von Barbara Keller-Inhelder trotz des fraglichen
Parteiwechsels als gültig eingestuft und ihr die Amtsausübung erlaubt hat.

5.7 Aufgrund der vorstehenden Überlegungen bildet es ebenfalls keinen gangbaren
Weg, die Kandidatenstimmen von Barbara Keller- Inhelder von der alten auf die
neue Partei zu transferieren und in diesem Sinne die Sitzzuteilung an die
Wahllisten neu zu berechnen.
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Es besteht daher kein Anlass, den von den Beschwerdeführern verlangten
Amtsbericht zu einer Neuberechnung des Wahlergebnisses auf einer solchen
Grundlage einzuholen.