Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 I 143



Urteilskopf

135 I 143

17. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.
gegen Amt für Migration des Kantons Luzern (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_693/2008 vom 2. Februar 2009

Regeste

Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG, Art. 126 AuG, Art. 8 EMRK und Art. 13 BV; Anspruch
auf Aufenthaltsbewilligung einer ausländischen Mutter gestützt auf ihre
Beziehung zum schweizerischen Kind.
Zulässigkeit und Modalitäten der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten (E. 1).
Voraussetzungen der Verweigerung der Bewilligung bzw. der Zulässigkeit eines
Eingriffs in den Anspruch auf Achtung des Familienlebens, Interessenabwägung
unter Berücksichtigung spezieller familiärer Verhältnisse: Die Bewilligung kann
nur verweigert werden, wenn nebst der Zumutbarkeit der Ausreise aller
Beteiligten ordnungs- oder sicherheitspolizeiliche Gründe gegeben sind (E.
2-4).

Sachverhalt ab Seite 144

BGE 135 I 143 S. 144
Der Schweizer Bürger B., geb. 1937, heiratete am 7. September 2001 die
Kolumbianerin C., geb. 1963. Diese erhielt in der Folge die
Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei ihrem Ehemann. Im November 2007 wurde
sie erleichtert eingebürgert.
Das Ehepaar blieb ungewollt kinderlos. Im Jahr 2003 zogen die Ehegatten ein
Gesuch um Adoption eines Kindes wegen Aussichtslosigkeit aufgrund des Alters
des Ehemannes zurück. In der Folge beschlossen sie zusammen mit der Schwester
der Ehefrau, A., geb. 1966, dass diese durch künstliche Befruchtung
(Insemination) ein Kind vom Ehemann empfangen und alle zusammen in einer
Familiengemeinschaft leben sollten. Am 30. März 2005 kam D., künstlich gezeugte
Tochter der A. und des B., in Kolumbien zur Welt. Am 25. Mai 2005 anerkannte B.
die Vaterschaft von D.
Im Juni 2005 ersuchte B. um eine Einreiseerlaubnis für A. und die gemeinsame
Tochter D. zwecks Besuchaufenthalts. Später, nach deren Einreise, beantragte er
beim Amt für Migration des Kantons Luzern (nachfolgend: kantonales Amt) die
Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an die beiden.
Am 13. Juli 2007 verstarb B. Am 6. September 2007 wies das kantonale Amt das
Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an A. und D. ab. Diese erhoben
dagegen Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Luzern. Mit Entscheid
des Bundesamts für Migration vom 11. Dezember 2007 wurde das Kind D.
erleichtert eingebürgert.
Mit Urteil vom 13. August 2008 wies das Verwaltungsgericht die bei ihm hängige
Beschwerde ab. In der Urteilsbegründung hielt es dazu unter anderem fest, das
Beschwerdeverfahren sei hinsichtlich des Kindes D. nach dessen Einbürgerung
gegenstandslos geworden, weshalb es insoweit als erledigt erklärt werden könne.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 22. September 2008
an das Bundesgericht beantragt A., das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24.
Juli 2008 aufzuheben und das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung
gutzuheissen.
BGE 135 I 143 S. 145
Das Amt für Migration und das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern sowie das
Bundesamt für Migration schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist das kantonale Amt an, A.
die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Nach Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unzulässig gegen Entscheide auf dem
Gebiet des Ausländerrechts über Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht
noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt.

1.2 Am 1. Januar 2008 ist das Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die
Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) in Kraft getreten. Nach Art. 126
AuG bleibt das alte Recht anwendbar auf Gesuche, die vor dem Inkrafttreten des
neuen Gesetzes eingereicht worden sind. Das Verfahren richtet sich jedoch nach
dem neuen Recht. Im vorliegenden Verfahren ist in materiell-rechtlicher
Hinsicht auf das alte Recht abzustellen, da das Bewilligungsgesuch noch vor dem
1. Januar 2008 eingereicht wurde. Aber auch verfahrensrechtlich bleibt das alte
Recht nicht ohne Belang, da die an sich prozessuale Frage, ob ein Anspruch auf
eine Bewilligung besteht, sich nach dem materiellen Recht richtet. Für die
anspruchsabhängige Zulässigkeit eines Rechtsmittels, wie dies bei der
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht
zutrifft, ist mithin anhand des alten Rechts zu prüfen, ob ein Anspruch auf
Bewilligung besteht (Urteil des Bundesgerichts 2C_372/2008 vom 25. September
2008 E. 1.2 mit Hinweis).

1.3 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführerin kein gesetzlicher Anspruch
auf Erteilung einer Anwesenheitsbewilligung in der Schweiz zusteht. Hingegen
beruft sie sich mit Blick auf ihr Verhältnis zur minderjährigen Tochter auf
Art. 8 EMRK.

1.3.1 Art. 8 EMRK (bzw. Art. 13 BV) garantiert zwar kein Recht auf Aufenthalt
in einem bestimmten Staat. Es kann aber das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf
Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen, wenn einem Ausländer, dessen
Familienangehörige hier weilen, die Anwesenheit untersagt und damit das
Familienleben vereitelt wird. Der sich hier aufhaltende Familienangehörige muss
nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung seinerseits über ein
BGE 135 I 143 S. 146
gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügen, was praxisgemäss der Fall ist, wenn er
das Schweizer Bürgerrecht besitzt, ihm die Niederlassungsbewilligung gewährt
wurde oder er über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, die ihrerseits auf
einem gefestigten Rechtsanspruch beruht (BGE 130 II 281 E. 3.1 S. 285 f.).

1.3.2 Die Beschwerdeführerin hat keinen selbständigen Anspruch auf eine
Anwesenheitsbewilligung in der Schweiz. Art. 8 EMRK schützt im Zusammenhang mit
der Bewilligung der Anwesenheit in der Schweiz in erster Linie die Kernfamilie,
d.h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern (vgl. BGE
129 II 11 E. 2 S. 14). Da die Tochter der Beschwerdeführerin über das Schweizer
Bürgerrecht und damit über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht in der Schweiz
verfügt, kommt der Beschwerdeführerin gestützt darauf ein Anspruch auf
Anwesenheitsbewilligung zu, weshalb sie sich auf Art. 8 EMRK berufen kann (so
genannter "umgekehrter Familiennachzug"; vgl. BGE 122 II 289 E. 1c S. 292 ff.;
Urteil 2C_372/2008 vom 25. September 2008 E. 1.4 mit Hinweisen). Damit erweist
sich die Beschwerde grundsätzlich als zulässig.

1.4 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid verletze Bundesrecht
- inklusive Bundesverfassungsrecht -, Völkerrecht sowie kantonale
verfassungsmässige Rechte (Art. 95 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil
den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1
BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt bzw. vom Bundesgericht
von Amtes wegen berichtigt oder ergänzt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 97 Abs. 1 bzw. Art. 105 Abs. 2 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel
dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz
dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).

1.5 Die Beschwerdeführerin reichte vor dem Bundesgericht neue Unterlagen,
insbesondere zur Absolvierung von Sprach- und Integrationskursen, ein. Sie
macht dazu geltend, erst das verwaltungsgerichtliche Urteil habe dazu Anlass
gegeben, weil der Integrationsgrad vorher keine wesentliche Rolle im Verfahren
gespielt habe. In der Tat äussert sich die bei der Vorinstanz angefochtene
Verfügung des kantonalen Amtes vom 6. September 2007 nicht näher zur
Integration der Beschwerdeführerin in der Schweiz. Erst das Urteil des
BGE 135 I 143 S. 147
Verwaltungsgerichts stellte ausdrücklich auch auf diesen Umstand ab, weshalb
die Nachreichung entsprechender ergänzender Unterlagen im bundesgerichtlichen
Verfahren nicht ausgeschlossen ist.

2.

2.1 Kann sich die Beschwerdeführerin auf Art. 8 EMRK berufen, kommt die
Verweigerung einer Anwesenheitsbewilligung einem Eingriff in den darin
gewährleisteten Anspruch auf Achtung des Familienlebens gleich. Dieser Anspruch
gilt jedoch nicht absolut. Vielmehr ist nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ein Eingriff
in das durch Ziff. 1 geschützte Rechtsgut statthaft, soweit er eine Massnahme
darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale
Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von
strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesellschaft und Moral sowie der Rechte
und Pflichten anderer notwendig ist. Die Konvention verlangt insofern eine
Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen an der Erteilung der
Bewilligung und der öffentlichen Interessen an deren Verweigerung, wobei
Letztere in dem Sinne überwiegen müssen, dass sich der Eingriff als notwendig
erweist (vgl. BGE 122 II 1 E. 2 S. 6 mit Hinweis; BGE 116 Ib 353 E. 3 S. 357
ff.). Analoge Voraussetzungen ergeben sich aus Art. 36 BV im Hinblick auf einen
Eingriff in Art. 13 BV.

2.2 Als zulässiges öffentliches Interesse fällt insbesondere das Durchsetzen
einer restriktiven Einwanderungspolitik in Betracht. Eine solche ist im
Hinblick auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen schweizerischer und
ausländischer Wohnbevölkerung, die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für
die Eingliederung der in der Schweiz fest ansässigen Ausländer und die
Verbesserung der Arbeitsmarktstruktur sowie eine möglichst ausgeglichene
Beschäftigung im Lichte von Art. 8 Ziff. 2 EMRK zulässig (BGE 120 Ib 1 E. 4b S.
5, BGE 120 Ib 22 E. 4a S. 25). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK nicht vor, wenn es (auch) den fest
anwesenheitsberechtigten Familienmitgliedern zumutbar ist, ihr Familienleben im
Ausland zu führen. Grundsätzlich hat dabei auch ein schweizerisches Kind,
namentlich ein solches im Kleinkindalter, als Konsequenz der in einem
Eheschutz- oder Scheidungsverfahren getroffenen Regelung das Lebensschicksal
des sorge- bzw. obhutsberechtigten Elternteils zu teilen und ihm gegebenenfalls
ins Ausland zu folgen (vgl. BGE 127 II 60 E. 2a S. 67; BGE 122 II 289 E. 3c S.
298; Urteil 2C_372/2008 vom 25. September 2008 E. 3.1 mit Hinweisen).
BGE 135 I 143 S. 148

2.3 Diese Rechtsprechung wurde im Schrifttum verschiedentlich kritisiert, unter
anderem mit dem Argument, es sei sowohl den Integrationschancen als auch dem
Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes
(Kinderrechtskonvention, KRK; SR 0.107) und damit dem Kindeswohl ein grösseres
Gewicht beizumessen (so in jüngerer Zeit etwa ACHERMANN/CARONI, Einfluss der
völkerrechtlichen Praxis auf das schweizerische Migrationsrecht, in:
Ausländerrecht, Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], 2. Aufl., 2009, Rz.
6.35; RÉMY KAMMERMANN, Du renvoi des enfants suisses, in: Plädoyer 2008 5 S. 52
ff.; SPESCHA/THÜR/ZÜND/BOLZLI, Migrationsrecht, 2008, Nr. 18 Rz. 18 f.). Ob
unter der Geltung des neuen Ausländergesetzes, das, im Unterschied zum hier
grundsätzlich noch massgeblichen alten Recht (vgl. E. 1.2), vermehrt auf die
Integrationschancen abstellt, eine neue Wertung vorzunehmen ist, hat das
Bundesgericht noch nicht entschieden (vgl. Urteil 2C_372/2008 vom 25. September
2008 E. 3.3.2). Das kann auch hier offenbleiben. Hingegen rechtfertigt es sich,
mit Blick auf die Kinderrechtskonvention das Kindesinteresse vermehrt zu
berücksichtigen.

3.

3.1 Auszugehen ist von den persönlichen und familiären Verhältnissen der
Beschwerdeführerin. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht bei der
Anwendung von Art. 8 EMRK von einem weiten, flexiblen und inhaltlich nicht
genau umrissenen Familienbegriff aus. Geschützt wird nicht in erster Linie
rechtlich begründetes, sondern tatsächlich gelebtes Familienleben. Neben der
eigentlichen Kernfamilie werden auch weitere familiäre Verhältnisse erfasst,
sofern eine genügend nahe, echte und tatsächlich gelebte Beziehung besteht.
Hinweise für solche Beziehungen sind das Zusammenleben in einem gemeinsamen
Haushalt, eine finanzielle Abhängigkeit, speziell enge familiäre Bande,
regelmässige Kontakte oder die Übernahme von Verantwortung für eine andere
Person. Bei hinreichender Intensität sind auch Beziehungen zwischen nahen
Verwandten wie Geschwistern oder Tanten und Nichten wesentlich (vgl. dazu
ACHERMANN/CARONI, a.a.O., Rz. 6.27; BERTSCHI/GÄCHTER, Der Anwesenheitsanspruch
aufgrund der Garantie des Privat- und Familienlebens, in: ZBl 104/2003 S. 234
ff.; STEPHAN BREITENMOSER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar,
Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender [Hrsg.], 2. Aufl., 2008, Rz. 24 zu
Art. 13 BV; CHRISTOPH GRABENWARTER, Europäische Menschenrechtskonvention, 3.
Aufl., München/Basel/Wien 2008, S. 197 ff.;
BGE 135 I 143 S. 149
DANIEL THYM, Menschenrecht auf Legalisierung des Aufenthalts?, in: EuGRZ 2006
S. 542).

3.2 Nach den insoweit verbindlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts
bilden die Beschwerdeführerin und ihre Schwester für das Kind zwei
gleichwertige Bezugs- und Betreuungspersonen. Insbesondere lebt die
Beschwerdeführerin in Familiengemeinschaft mit ihrer Schwester und ihrer
Tochter. Diese wurden als Ehefrau (gemäss Art. 27 des Bundesgesetzes vom 29.
September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts [BüG; SR
141.0) bzw. aussereheliche anerkannte Tochter eines Schweizers (nach Art. 58c
Abs. 1 BüG) erleichtert eingebürgert. Die Familiengemeinschaft geht letztlich
auf die Vereinbarung zwischen der Beschwerdeführerin, ihrer Schwester und deren
seither verstorbenen Ehemann zurück, dass die Beschwerdeführerin durch
künstliche Befruchtung ein Kind ihres Schwagers empfangen solle. Rechtlich
steht die elterliche Sorge der Beschwerdeführerin zu. Gemäss einer privaten
Vereinbarung zwischen den beteiligten drei Erwachsenen verpflichteten sich
jedoch der Vater und dessen Ehefrau, für den Unterhalt und die Ausbildung des
Kindes bis zur Volljährigkeit zu sorgen, und zwar auch nach einer Scheidung und
über den allfälligen Tod einer Partei hinaus. Die Beschwerdeführerin hätte
gemäss der Abmachung den gemeinsamen Haushalt verlassen können, doch wollte sie
sich nicht von ihrem Kind trennen. Die beiden Schwestern leben daher seit der
Einreise in die Schweiz im August 2005 in Lebensgemeinschaft mit dem Kind, zu
der bis zu seinem Tod im Juli 2007 auch dessen Vater gehörte. Während es sich
bei der Beschwerdeführerin um die leibliche Mutter des Kindes handelt, nimmt
ihre Schwester genau genommen die Stellung einer Tante und gleichzeitig als
Ehefrau des Vaters einer Stiefmutter ein. Sie wird vom Kind aber auch als
Mutter wahrgenommen und offenbar ebenfalls mit "Mama" angesprochen.

3.3 Bei den beiden Schwestern und dem Kind handelt es sich um nahe Verwandte.
Ihre Lebensgemeinschaft beruht auf dem Kinderwunsch von Schwester und Schwager
der Beschwerdeführerin, der sich weder durch natürliche Zeugung noch durch
Adoption erfüllen liess. Die speziellen Verhältnisse der Verwirklichung dieses
Kinderwunsches unter Einbezug der Beschwerdeführerin begründen eine besondere
Intensität der familiären Bindungen. Die beiden Schwestern sorgen nicht nur
gegenseitig für sich, sondern auch gemeinsam
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für das Kind. Dieses wiederum unterhält eine spezielle Beziehung zu den zwei
Frauen, die es beide als Mütter betrachtet. Durch den Tod des Ehemannes bzw.
Schwagers und Vaters dürfte die Beziehung zwischen den hinterbliebenen
Angehörigen noch intensiver geworden sein. Aufgrund dieser besonders engen
familiären Bande und der gegenseitigen Übernahme von Verantwortung handelt es
sich um eine faktische Familieneinheit. Die Beziehungen zwischen den
Beteiligten gehen über normale, gefühlsmässige Verbindungen hinaus und dienen
insbesondere dem Kindeswohl. Da die Beschwerdeführerin in ihrer Heimat für
ihren Unterhalt selbst aufzukommen vermochte, besteht an sich keine finanzielle
Abhängigkeit von ihrer Schwester. Hingegen sind die besonderen emotionalen
Verbindungen aufgrund der speziellen familiären Situation bei der
Interessenabwägung als massgebliches Familienleben zu berücksichtigen.

3.4 Der Einwand des kantonalen Amts in der Vernehmlassung an das Bundesgericht,
die Lebensverhältnisse könnten sich durch neue Partnerschaften wieder
verändern, ist zwar nicht gänzlich von der Hand zu weisen, ist aber im heutigen
Zeitpunkt rein spekulativ und kann daher keine entscheidende Rolle spielen.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kommt andrerseits auch dem
Verhältnis der Beteiligten zur in der Schweiz lebenden Halbschwester des Kindes
der Beschwerdeführerin aus erster Ehe des Vaters keine derartige Bedeutung zu,
dass dies unter dem Gesichtspunkt von Art. 8 EMRK wesentlich wäre. Dabei kann
offenbleiben, ob es sich insoweit nicht ohnehin um ein unzulässiges neues
Vorbringen handelt.

4.

4.1 Das Kind der Beschwerdeführerin ist noch nicht ganz vier Jahre alt, lebt
nunmehr aber seit mehr als drei Jahren in der Schweiz. Die Schwester der
Beschwerdeführerin weilt seit rund sieben Jahren hier. Falls die
Beschwerdeführerin keine Anwesenheitsbewilligung in der Schweiz erhält,
bedeutet dies, dass zwei Schweizer Bürgerinnen, das Kind und die Schwester der
Beschwerdeführerin, gezwungen werden, ins Ausland auszureisen, um das bisherige
Familienleben weiterführen zu können. Eine solche Konsequenz darf nicht
leichthin in Kauf genommen werden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass dies im
vorliegenden Fall letztlich die Folge des Todes des schweizerischen Kindsvaters
ist. Die Ausreise des schweizerischen Kindes aus der Schweiz darf nur schon aus
Gründen der
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Pietät nicht ohne weiteres durch ausländerrechtliche Massnahmen erzwungen
werden. In die gleiche Richtung weisen mit Blick auf Art. 24 und 25 Abs. 1 BV
aber auch verfassungsrechtliche Gründe. Vom Kind zu verlangen, die Schweiz zu
verlassen, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur
Niederlassungsfreiheit sowie zum Verbot der Ausweisung von Schweizer Bürgern
(vgl. KAMMERMANN, a.a.O., S. 53 f.). Ein solcher Zwang zur Ausreise setzt daher
nebst der Zumutbarkeit der Ausreise für alle Beteiligten besondere, namentlich
ordnungs- oder sicherheitspolizeiliche Gründe voraus, welche die entsprechenden
weitreichenden Folgen rechtfertigen könnten.

4.2 Grundsätzlich wäre eine Rückkehr in die Heimat der Beschwerdeführerin
zumutbar. Sie hat in Kolumbien die meiste Zeit ihres Lebens verbracht und kennt
die dortigen Lebensverhältnisse. Weniger eindeutig ist die Zumutbarkeit einer
Rückkehr nach Kolumbien für die Schwester und die Tochter der
Beschwerdeführerin. Zwar ist davon auszugehen, dass eine Rückkehr rechtlich
möglich wäre und dass die dortigen Verhältnisse auch der Schwester der
Beschwerdeführerin noch geläufig sind. Ursprünglich schlossen die drei
beteiligten Erwachsenen sogar nicht aus, im Bedarfsfall nach der Geburt des
Kindes gemeinsam in Kolumbien zu leben. Die schwere Krebserkrankung des
Schwagers der Beschwerdeführerin und die entsprechend besseren
Behandlungsmöglichkeiten in der Schweiz lassen die Wahl der Schweiz als
Wohnsitz jedoch als nachvollziehbar erscheinen. Inzwischen hat sich die
Ausgangslage aufgrund der nachmaligen Einbürgerung von Ehefrau und Tochter
überdies wesentlich verändert. Die Einbürgerung der Ersten setzte im Übrigen
deren Integration in die hiesigen Verhältnisse voraus (vgl. Art. 26 Abs. 1
BüG). Gemäss der ausdrücklichen Feststellung des Verwaltungsgerichts hat sich
ebenfalls die Beschwerdeführerin während ihres bisherigen Aufenthalts in der
Schweiz tadellos verhalten. Sie bemüht sich, wie sich ergänzend aus den dem
Bundesgericht nachgereichten Unterlagen ergibt, um eine sprachliche und auch
sonstige Integration. Finanziell sind die Verhältnisse knapp; der
Lebensunterhalt kann kaum aus den gewährten Renten bestritten werden. Die
Schwester der Beschwerdeführerin musste denn auch schon Ergänzungs- bzw.
Unterstützungsleistungen beziehen, ohne bisher allerdings offenbar auf
öffentliche Sozialhilfe angewiesen gewesen zu sein. Ihren Verbindlichkeiten
sind die Beteiligten bis heute
BGE 135 I 143 S. 152
aber, soweit bekannt, nachgekommen. Allerdings sind bislang weder die
Beschwerdeführerin noch ihre Schwester einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Der
Ersten war dies mangels entsprechender Bewilligung verwehrt; die Zweite hat
sich vorwiegend der Pflege des kranken Ehemannes und der Familie gewidmet.
Würde der Beschwerdeführerin die Erwerbstätigkeit erlaubt, könnte sie zu den
Lebenshaltungskosten beitragen. Ohnehin möglich wäre die Aufnahme einer Arbeit,
seit sie eingebürgert ist, der Schwester der Beschwerdeführerin. Unabhängig
davon, wie sich die Beteiligten organisieren, bestehen damit gewisse
Möglichkeiten, den Aufwand für den Lebensunterhalt der Familie selbst zu
tragen.

4.3 Die Tochter der Beschwerdeführerin hat ein offenkundiges Interesse daran,
in der Schweiz zu leben, um von den hiesigen Ausbildungsmöglichkeiten und den
allgemeinen Lebensbedingungen zu profitieren. Dazu zählt auch die bessere
Sicherheitslage in der Schweiz im Vergleich zu Kolumbien. Als Schweizerin würde
sie spätestens bei Volljährigkeit selbständig hierher zurückkehren können.
Müsste sie die Schweiz heute verlassen, wäre bei einer solchen späteren
Rückkehr vermehrt mit Integrationsschwierigkeiten zu rechnen, als wenn sie hier
aufwächst. Das liegt nicht im öffentlichen Interesse.

4.4 Entscheidend ist, dass sich alle Beteiligten nie etwas Nachteiliges haben
zuschulden kommen lassen. Es besteht damit keine ordnungs- oder
sicherheitspolizeiliche Rechtfertigung dafür, der Beschwerdeführerin die
Anwesenheit in der Schweiz zu verweigern, die über die allgemeinen
ausländerrechtlichen Gründe wie der Verfolgung einer restriktiven
Einwanderungspolitik hinausgeht. Insbesondere gibt es keine Hinweise dafür,
dass dem Nachzug der Beschwerdeführerin eine geplante rechtsmissbräuchliche
Strategie zugrunde liegt. Die Vorinstanzen sind auch nicht von einem solchen
Zusammenhang ausgegangen, sondern haben der Beschwerdeführerin und ihren
Angehörigen in allen Verfahrensstadien zulässige Motive und korrektes Verhalten
zugestanden. Die öffentlichen Interessen an einer Verweigerung der
Aufenthaltsbewilligung erweisen sich damit zwar als nicht unbedeutend, aber
auch nicht als allzu ausgeprägt. Dem steht das Interesse aller Beteiligten
gegenüber, ihr Familienleben zusammen in der Schweiz leben zu können.
Angesichts dessen, dass die drei verbliebenen Angehörigen eine
aussergewöhnliche Schicksalsgemeinschaft bilden, dass zwei der
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drei Beteiligten über das Schweizer Bürgerrecht verfügen und dass sich alle
bisher klaglos verhalten haben, überwiegen angesichts der besonderen
Ausgangslage des vorliegenden Falles die privaten Anliegen die
entgegenstehenden öffentlichen Interessen der allgemeinen Ausländerpolitik.
Dies gilt selbst dann, wenn den drei Angehörigen eine Ausreise nach Kolumbien
grundsätzlich zumutbar wäre.

4.5 Der angefochtene Entscheid verstösst mithin gegen Art. 8 EMRK.