Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 I 14



Urteilskopf

135 I 14

3. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_201/2008 vom 6. Oktober 2008

Regeste

Art. 30 Abs. 1 BV; Ablehnung eines Schiedsobmannes. Die für die staatlichen
Gerichte massgebenden Grundsätze sind auch bei privaten Schiedsgerichten
anwendbar (E. 2). Ein als Richter bzw. Schiedsrichter amtierender Anwalt
erscheint nicht nur dann als befangen, wenn er in einem anderen Verfahren eine
der Prozessparteien vertritt oder kurz vorher vertreten hatte, sondern auch
dann, wenn ein solches Vertretungsverhältnis zu deren Gegenpartei im anderen
Verfahren besteht bzw. bestand (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 4.1-4.3).

Sachverhalt ab Seite 14

BGE 135 I 14 S. 14
In einer der Schiedsgerichtsbarkeit unterstehenden Auseinandersetzung zwischen
X. und der Stockwerkeigentümergemeinschaft W. wurde am 24. November 2005
Rechtsanwalt Y. durch den Gerichtspräsidenten 4 des Gerichtskreises X Thun zum
Obmann des Schiedsgerichts ernannt.
BGE 135 I 14 S. 15
Mit Eingabe vom 22. Januar 2008 stellte X. beim Gerichtskreis X Thun das
Begehren, es sei Rechtsanwalt Y. für befangen zu erklären und anzuweisen, in
den Ausstand zu treten, und es seien die Parteischiedsrichter des
Schiedsgerichts Stockwerkeigentümergemeinschaft W. anzuweisen, gemäss
Schiedsabrede einen neuen Obmann einzusetzen. Zur Begründung brachte sie unter
anderem vor, Rechtsanwalt Y. sei in einem anderen Rechtsstreit, an dem sie
beteiligt sei, Vertreter der Gegenpartei.
Der Gerichtspräsident 4 des Gerichtskreises X Thun wies das Ablehnungsgesuch am
26. Februar 2008 ab.
Das Bundesgericht heisst die von X. erhobene Beschwerde in Zivilsachen gut und
weist die Sache zu neuem Entscheid an den kantonalen Richter zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Nach den von der Beschwerdeführerin angerufenen Bestimmungen von Art. 30
Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, die im einschlägigen Punkt dieselbe
Tragweite haben, hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem
unabhängigen und unparteiischen Gericht ohne Einwirken sachfremder Umstände
entschieden wird (BGE 133 I 1 E. 5.2 S. 3 mit Hinweisen). Liegen bei objektiver
Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die
Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie des
verfassungsmässigen Richters verletzt (BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116 mit
Hinweisen). Die dargelegten Grundsätze gelten nicht nur bei staatlichen
Gerichten, sondern auch bei privaten Schiedsgerichten, deren Entscheide
denjenigen der staatlichen Instanzen hinsichtlich Rechtskraft und
Vollstreckbarkeit gleichstehen und die deshalb dieselbe Gewähr für eine
unabhängige Rechtsprechung bieten müssen (BGE 119 II 271 E. 3b S. 275 mit
Hinweisen).
(...)

4. (...)

4.1 Das Bundesgericht hatte sich verschiedentlich mit der Problematik der
Unvoreingenommenheit von (nebenamtlichen) Richtern zu befassen, die in einem
anderen Verfahren mit einer der Prozessparteien in besonderer Weise verbunden
waren:
In BGE 116 Ia 485 ff. war es darum gegangen, dass an der Beurteilung der
Rechtmässigkeit einer von der Stadt Zürich erlassenen
BGE 135 I 14 S. 16
Verordnung durch das kantonale Verwaltungsgericht zwei nebenamtliche Richter
teilgenommen hatten, die zur Stadt Zürich in Mandatsverhältnissen gestanden
hatten. Das Bundesgericht erklärte, ein als Richter amtender Anwalt erscheine
befangen, wenn zu einer Partei ein noch offenes Mandat bestehe oder er für eine
Partei in dem Sinne mehrmals anwaltlich tätig geworden sei, dass eine Art
Dauerbeziehung bestehe; zu bedenken sei insbesondere, dass ein Anwalt auch
ausserhalb seines Mandats versucht sein könne, in einer Weise zu handeln, die
seinen Klienten ihm gegenüber weiterhin gut gesinnt sein lasse; ohne Bedeutung
sei, dass die Mandate nicht in einem Sachzusammenhang mit dem zu beurteilenden
Streitgegenstand stünden. Den Anschein der Befangenheit bejahte das
Bundesgericht bezüglich des einen Richters, der noch während des laufenden
Verfahrens für die Stadt Zürich mit einer Bausache ein Anwaltsmandat innegehabt
hatte. Als fragwürdig bezeichnete es die Mitwirkung des anderen Richters, der
vor nicht langer Zeit verschiedentlich für Amtsstellen der Stadt Zürich tätig
gewesen sei, doch brauche darüber nicht abschliessend befunden zu werden, da
jener inzwischen als Verwaltungsrichter zurückgetreten sei (BGE 116 Ia 485 E.
3b S. 489 f. mit Hinweis).
Sodann hat das Bundesgericht die von einer Gemeinde wegen der Mitwirkung eines
in der Gemeinde selbst eine Kanzlei führenden Anwalts als nebenamtlicher
Richter am Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts in einem
Baubewilligungsverfahren erhobene Rüge der Verletzung von Art. 58 aBV
verworfen. Dem Vorbringen der Gemeinde, der in Baufragen spezialisierte Anwalt
und Rechtskonsulent eines privaten Bauberatungsbüros könnte ganz allgemein
geneigt sein, die Interessen der privaten Bauherren bei der Entscheidfindung
vorrangig zu berücksichtigen, wurde dabei entgegengehalten, von einem
nebenamtlichen Richter könne erwartet werden, dass er zwischen seiner amtlichen
Funktion und seiner privaten beruflichen Tätigkeit zu unterscheiden vermöge;
soweit ersichtlich, sei zwischen der Gemeinde und dem abgelehnten
nebenamtlichen Richter weder ein Zivilprozess noch ein anderes Verfahren
hängig, in dem dieser persönlich Partei wäre (Urteil 1P.665/1991 vom 15. Mai
1992, E. 3c, publ. in: ZBl 94/1993 S. 86 f.). Gleich hat das Bundesgericht -
trotz gewisser Bedenken - in einem ebenfalls das Zürcher Verwaltungsgericht
betreffenden Urteil entschieden, an dem eine nebenamtliche Richterin mitgewirkt
hatte, die kurz zuvor in einem anderen Prozess desselben Beschwerdeführers als
Rechtsanwältin
BGE 135 I 14 S. 17
die dort beteiligte Gemeinde vertreten hatte (Urteil 1P.113/1996 vom 29. April
1996, E. 1). Allerdings hiess der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
eine hiergegen eingereichte Beschwerde gut (Urteil i.S. Wettstein gegen Schweiz
vom 21. Dezember 2000, Recueil CourEDH 2000-XII S. 416 Ziff. 47 f.). In einem
Urteil vom 17. März 1998 (1P.76/1998, E. 2) fasste das Bundesgericht seine
Rechtsprechung dahin zusammen, dass ein als Richter amtender Anwalt als
befangen erscheine, wenn zu einer Partei ein noch offenes Mandat bestehe oder
wenn er für eine Partei mehrmals oder kurze Zeit vorher anwaltlich tätig
geworden sei.

4.2 Zu dem in ZBl 94/1993 S. 84 ff. abgedruckten Urteil erwuchs in der
Literatur insofern Kritik, als JÖRG PAUL MÜLLER (Staatsrechtliche
Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 1992 und 1993, in: ZBJV 131/
1995 S. 758 f.) erklärte, dass entgegen der Auffassung des Bundesgerichts die
Problematik einer Dauerbeziehung zu prüfen und somit abzuklären gewesen wäre,
ob der betreffende Anwalt durch seine regelmässigen Beratungen und Vertretungen
von Gegenparteien der Gemeinde mit dieser nicht in einer Art negativen
Dauerbeziehung stehe; genauso wie die wiederholte Vertretung einer Partei die
Gefahr in sich berge, dass der Anwalt auch in seiner Eigenschaft als Richter
als zu deren Gunsten voreingenommen erscheine, bestehe das Risiko, dass er
durch wiederholte anwaltliche Mandate für Gegenparteien in stets analogen
Interessenkonstellationen als Richter gegenüber der Gemeinde befangen sei.
Bemerkt wurde ausserdem, dass der im erwähnten Entscheid geäusserten Auffassung
des Bundesgerichts auch insofern nicht uneingeschränkt beizupflichten sei, als
der Anschein der Befangenheit nicht erst dann vorliege, wenn ein Richter
persönlich Partei in einem anderen Verfahren sei; es müsse vielmehr genügen,
dass ein Richter eine der Parteien in einem anderen hängigen Verfahren als
Anwalt vertrete, um ihn als nicht mehr unabhängig erscheinen zu lassen. Kritik
an der bundesgerichtlichen Betrachtungsweise übt auch REGINA KIENER
(Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, S. 111 f., und Anwalt oder Richter? -
Eine verfassungsrechtliche Sicht auf die Richtertätigkeit von Anwältinnen und
Anwälten, in: Festschrift 100 Jahre Aargauischer Anwaltsverband, Zürich 2005,
S. 16), indem sie die Unterscheidung zwischen Mandaten als Anwalt einer am
Verfahren direkt beteiligten Partei und solchen als Gegenanwalt als nicht
sachgerecht bezeichnet: Die Befürchtung einer Befangenheit werde sich vor allem
dann aufdrängen, wenn der nunmehrige
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Richter einer aktuellen Verfahrenspartei vor kurzem als damaliger Gegenanwalt
unterlegen sei (vgl. auch PATRICK SUTTER, Der Anwalt als Richter, die Richterin
als Anwältin, Probleme mit der richterlichen Unabhängigkeit und den
anwaltlichen Berufsregeln, in: AJP 2006 S. 38 Ziff. 2.5).

4.3 Rechtsanwalt Y. stand und steht allenfalls noch immer in einem
Mandatsverhältnis zu Z., Gegenpartei der Beschwerdeführerin in einem anderen
Verfahren. Ist ein als Richter amtierender Anwalt in einem anderen noch offenen
Verfahren der Vertreter einer der beteiligten Prozessparteien selbst oder wurde
ein Verfahren, in dem ein solches Vertretungsverhältnis bestanden hatte, erst
kurz vor Fällung des strittigen Entscheids abgeschlossen, kann der in Frage
stehende Richter, wenn auch unbewusst, versucht sein, seinen Mandanten nicht
durch einen für diesen ungünstigen Entscheid vergrämen zu wollen. Vertritt bzw.
vertrat der Richter im anderen Verfahren nicht die Prozesspartei selbst,
sondern deren Gegenpartei, so besteht insofern ein Anschein der Befangenheit,
als erstere befürchtet, der Richter könnte nicht zu ihren Gunsten, d.h. zu
Gunsten der Gegenpartei seines Mandanten im anderen Verfahren, entscheiden
wollen. Zwar ist richtig, dass von einem Anwalt, der als (nebenamtlicher)
Richter oder als Schiedsrichter tätig ist, sollte erwartet werden können, dass
er zwischen seiner amtlichen und seiner beruflichen Tätigkeit zu unterscheiden
weiss, und es sollte somit davon ausgegangen werden können, dass das Mandat,
das in einem anderen Verfahren zu Gunsten der Gegenpartei besteht oder
bestanden hatte, ihn nicht daran hindert, als Richter im fraglichen Prozess
beiden Seiten gleichermassen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Von Bedeutung
ist indessen, ob der Richter - objektiv gesehen - als befangen erscheinen
könne. In diesem Zusammenhang ist auf die Erfahrungstatsache hinzuweisen, dass
eine Prozesspartei ihre negativen Gefühle gegenüber der Gegenpartei oft auf
deren anwaltlichen Vertreter überträgt, unterstützt doch dieser jene in der
Auseinandersetzung mit ihr. Für viele Parteien gilt deshalb der Anwalt der
Gegenpartei ebenso als Gegner wie die Gegenpartei selbst, umso mehr, als er als
der eigentliche Stratege im Prozess wahrgenommen wird. Es ist deshalb
nachvollziehbar, dass eine Partei von einem Richter, der sie in einem anderen
Verfahren als Vertreter der Gegenpartei bekämpft(e) und sie - aus ihrer Sicht -
möglicherweise um ihr Recht bringen wird oder gebracht hat, nicht erwartet, er
werde ihr plötzlich völlig unbefangen gegenübertreten. Die vom
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vorinstanzlichen Richter angerufene Rechtsprechung ist im Sinne dieser
Überlegungen zu präzisieren. Dass Rechtsanwalt Y. im anderen Verfahren Anwalt
einer Gegenpartei der Beschwerdeführerin ist bzw. war, steht dem von dieser
geltend gemachten Anschein der Befangenheit somit nicht entgegen. Vielmehr
lässt das fragliche Mandat Rechtsanwalt Y. unfähig erscheinen, als Obmann in
dem in Frage stehenden Schiedsverfahren mitzuwirken.