Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 IV 206



Urteilskopf

135 IV 206

30. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
1B_325/2008 vom 9. Juni 2009

Regeste

Art. 3 Abs. 2 Sätze 4-5 JStG; Behördenzuständigkeit zur Strafverfolgung von
Delikten, die teilweise vor und teilweise nach Vollendung des 18. Altersjahres
des Angeschuldigten verübt wurden.
In sogenannten "gemischten Fällen" bleibt grundsätzlich das
Jugendstrafverfahren anwendbar, unabhängig davon, ob eine Massnahme (nach StGB
oder JStG) in Frage kommt. Massgeblichkeit der deutsch- und
französischsprachigen Gesetzeswortlaute von Art. 3 Abs. 2 Sätze 4 und 5 JStG
(E. 5).

Sachverhalt ab Seite 206

BGE 135 IV 206 S. 206

A. Am 3. August 2006 bzw. 9. Januar 2007 eröffnete der Ermittlungsrichter der
Jugendstrafkammer des Kantons Freiburg je eine Strafuntersuchung gegen X. Der
am 22. November 1988 geborene Angeschuldigte war im Zeitpunkt der betreffenden
untersuchten Delikte (Angriff, evtl. Raub, sowie Vergewaltigung) noch
minderjährig. Am 22. November 2007 eröffnete das (ordentliche) kantonale
Untersuchungsrichteramt gegen denselben Angeschuldigten ein
BGE 135 IV 206 S. 207
weiteres Strafverfahren wegen neuen mutmasslichen Delikten (Erpressung, evtl.
Raub), die dieser nach Vollendung des 18. Altersjahrs verübt habe.

B. Am 21. Dezember 2007 anerkannte der Jugendermittlungsrichter seine sachliche
Zuständigkeit auch für die am 22. November 2007 eröffnete Strafuntersuchung.
Auf dessen Anfrage hin teilte ihm der Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichtes des Kantons Freiburg am 29. Januar 2008 mit, dass das
Jugendstrafrecht anwendbar bleibe, wenn gegen eine Person, gegen die bereits
ein Jugendstrafverfahren hängig ist, vom ordentlichen Untersuchungsrichter ein
Strafverfahren eröffnet wird wegen mutmasslichen Delikten, die nach dem
vollendeten 18. Lebensjahr verübt wurden. (...)

C. Mit Verfügung vom 4. August 2008 trat der Jugendermittlungsrichter die
Strafuntersuchungen an das kantonale Untersuchungsrichteramt ab. Dagegen erhob
der Angeschuldigte am 12. August 2008 Beschwerde beim Kantonsgericht. Mit
Urteil vom 11. November 2008 hob dessen Strafkammer die Verfügung des
Jugendermittlungsrichters vom 4. August 2008 von Amtes wegen auf und überwies
die Beschwerdesache zuständigkeitshalber dem Präsidenten der Strafkammer. Mit
Urteil vom 13. November 2008 erklärte dieser den Jugendermittlungsrichter als
zuständig für die Durchführung der fraglichen Strafuntersuchungen.

D. Gegen den Entscheid vom 13. November 2008 des Präsidenten der Strafkammer
des Kantonsgerichtes gelangte die kantonale Staatsanwaltschaft mit Beschwerde
an das Bundesgericht. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben
und das kantonale Untersuchungsrichteramt sei für die Weiterführung der
hängigen Verfahren als zuständig zu erklären. (... ) Das Bundesgericht weist
die Beschwerde ab.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Seit 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das
Jugendstrafrecht (JStG; SR 311.1) in Kraft. Bis zum Inkrafttreten der
Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 (JStPO) enthält das
JStG auch jugendstrafprozessuale Rahmenbestimmungen bzw. Regeln zur Abgrenzung
der Anwendungsbereiche des Jugend- und Erwachsenenstrafprozesses.
Das JStG gilt für Personen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem
vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat
BGE 135 IV 206 S. 208
begangen haben (Art. 3 Abs. 1 JStG). Sind gleichzeitig eine vor und eine nach
Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist
hinsichtlich der Strafen nur das StGB anwendbar (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 JStG).
Dies gilt auch für die Zusatzstrafe (Art. 49 Abs. 2 StGB), die für eine Tat
auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde
(Art. 3 Abs. 2 Satz 2 JStG). Bedarf der Täter einer Massnahme, so ist diejenige
Massnahme nach dem StGB oder nach dem JStG anzuordnen, die nach den Umständen
erforderlich ist (Art. 3 Abs. 2 Satz 3 JStG). Wurde ein Verfahren gegen
Jugendliche eingeleitet, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres
begangene Tat bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar (Art. 3 Abs.
2 Satz 4 JStG). Andernfalls ist das Verfahren gegen Erwachsene anwendbar (Art.
3 Abs. 2 Satz 5 JStG).
Im französischen Gesetzeswortlaut von Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG heisst es
analog: "Lorsqu'une procédure pénale des mineurs est introduite avant la
connaissance d'un acte commis après l'âge de 18 ans, cette procédure reste
applicable". Der italienischsprachige Gesetzestext lautet demgegenüber: "In
questi casi rimane applicabile la procedura penale minorile avviata prima di
essere venuti a conoscenza dell'atto commesso dopo il compimento del 18° anno
di età".

3. Im angefochtenen Entscheid wird erwogen, dass hängige Jugendstrafverfahren
bei Übergangstätern nicht nur bei deren Massnahmebedürftigkeit beizubehalten
seien. Der deutsche und französische Gesetzeswortlaut sei diesbezüglich
genügend klar, und weder die Entstehungsgeschichte noch der anders lautende
italienische Gesetzestext sprächen für eine abweichende Lösung.

4. Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft macht geltend, gemäss dem
italienischsprachigen Gesetzestext von Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG ("in questi
casi") bleibe das Jugendstrafverfahren nur in den Fällen anwendbar, in denen
Massnahmen anzuordnen sind. Der deutsche und der französische Gesetzeswortlaut
beruhten insofern auf einem redaktionellen Versehen. Dies ergebe sich
insbesondere aus den Materialien. Im vorliegenden Fall habe das psychiatrische
Gutachten vom 4. Juni 2008 zwar die Massnahmenbedürftigkeit des Angeschuldigten
festgestellt. Es fehle jedoch an seiner Massnahmenfähigkeit, zumal er
unterdessen ausgeschafft worden sei. Da dem Angeschuldigten im Falle einer
Verurteilung eine Freiheitsstrafe drohe, sei das Erwachsenen-Strafprozessrecht
anwendbar.
BGE 135 IV 206 S. 209

5. Wie sich aus den Akten ergibt, war gegen den Angeschuldigten bereits ein
Jugendstrafverfahren hängig, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres
mutmasslich begangene Tat bekannt wurde.

5.1 Nach dem deutschen und französischen Wortlaut und dem Wortsinn von Art. 3
Abs. 2 Sätze 4-5 JStG bliebe hier somit das Jugendstrafverfahren anwendbar, und
zwar unabhängig davon, ob eine Massnahme (nach StGB oder JStG) in Frage kommt.
Die Auslegung, welche die Staatsanwaltschaft der italienischen Sprachfassung
zuteil werden lässt, würde nicht nur zu einem Widerspruch gegenüber dem
deutschen und französischen Gesetzestext führen. Die von ihr vertretene
restriktive Interpretation erscheint (schon im Rahmen der grammatikalischen
Auslegung) auch nicht zwingend: Art. 3 JStG regelt den persönlichen
Geltungsbereich des Jugendstraf- und Strafprozessrechtes in den sogenannten
"gemischten Fällen", bei denen gleichzeitig Straftaten zu verfolgen sind, die
der Angeschuldigte vor und nach Vollendung seines 18. Altersjahrs verübt haben
soll (vgl. MICHEL DUPUIS ET AL. [Hrsg.], Code pénal 1, Petit commentaire, 2008,
N. 42 zu Art. 3 JStG; GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, in: Basler Kommentar, Strafrecht,
Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 12 ff. zu Art. 3 JStG; DIETER HEBEISEN, Das neue
materielle Jugendstrafrecht, in: Bänziger/Hubschmid/Sollberger [Hrsg.], Zur
Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafrechts und zum neuen
materiellen Jugendstrafrecht, 2006, S. 187 ff., 189; MARCEL RIESEN, Das neue
Jugendstrafgesetz, ZStrR 123/2005 S. 18 ff., 21). Der Ausdruck "in questi casi"
kann sich sprachlogisch-syntaktisch auch auf die generelle Problematik der (in
Art. 3 Abs. 2 Sätze 1-3 JStG genannten) " gemischten " Fälle beziehen, anstatt
ausschliesslich auf die (in Art. 3 Abs. 2 Satz 3 JStG genannten)
Massnahmenfälle. Bei dieser Auslegung ergäbe sich auch kein Widerspruch zum
deutschen und französischen Gesetzestext.

5.2 Den Gesetzesmaterialien lässt sich Folgendes entnehmen:
Die neue verfahrensrechtliche Regelung der "gemischten Fälle" (Art. 3 Abs. 2
Sätze 4-5 JStG) wurde erst im Zuge der nationalrätlichen Beratungen in die
Gesetzesvorlage aufgenommen (vgl. Botschaft und Entwurf zum JStG vom 21.
September 1998, BBl 1999 1979 ff., 2216 ff. Ziff. 411 ff., 2400 ff., 2401). Der
Vorentwurf JStG (1993) und der Entwurf des Bundesrates (1998) hatten (für
sogenannte "Übergangstäter") sanktionenrechtlich die ausschliessliche
Anwendbarkeit des StGB vorgesehen (vgl. BBl 1999 2401). Diesen
BGE 135 IV 206 S. 210
Entwürfen erwuchs breite Kritik in der jugendstrafrechtlichen Doktrin, weil sie
den Anwendungsbereich des Jugendstrafrechtes erheblich eingeschränkt und in
vielen Fällen aufwändige Bemühungen der Jugendstrafbehörden (etwa im Rahmen
vorsorglicher stationärer Platzierungen) unterlaufen hätten (vgl. GÜRBER/HUG/
SCHLÄFLI, a.a.O., N. 13 zu Art. 3 JStG).
Während die ständerätliche vorberatende Kommission bei "gemischten Fällen"
sowohl sanktions- als auch verfahrensrechtlich weiterhin auf das
Erwachsenenstrafrecht hatte abstellen wollen, machte sich die nationalrätliche
Kommission mit Erfolg für einen "Mittelweg" stark. In der Version der ersten
Lesung im Nationalrat wurde Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG noch mit der Formulierung
"in diesen Fällen" ("dans ces cas"/"in questi casi") eingeleitet. Die
Kommissionssprecherin schlug daraufhin folgende Regelung vor: "Gelangt das
Gericht zur Ansicht, es müsse für die Tat eine Strafe ausgefällt werden, kommt
das Strafensystem des Erwachsenenstrafrechtes zur Anwendung. Entscheidet sich
das Gericht für eine Massnahme, so stehen die Massnahmen sowohl dieses
Gesetzes, als auch des Erwachsenenstrafrechts zur Verfügung. Ist bereits ein
Verfahren pendent, dann bleiben die Jugendstrafrechtsbehörden zuständig"
(Kommissionssprecherin Anita Thanei, AB 2002 N 128 f.). Diese vom Nationalrat
verabschiedete Version wurde vom Ständerat diskussionslos genehmigt (AB 2002 S
303). Weshalb der italienischsprachige Gesetzestext der (nach der ersten Lesung
des Nationalrates geänderten) deutschen und französischen Fassung nicht
angepasst wurde, lässt sich den Materialien nicht entnehmen (insofern a.M.
GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, a.a.O., N. 18 zu Art. 3 JStG).

5.3 Sinn und Zweck des Gesetzes ist es, in "gemischten Fällen" eine
sachfragenorientierte, differenzierte und verfahrenseffiziente Lösung
anzustreben, anstatt pauschal und nach einem starren Kriterium entweder das
Sanktionsrecht des StGB bzw. das Verfahrensrecht für Erwachsene oder das JStG
bzw. das Jugendstrafprozessrecht für anwendbar zu erklären. Die aus dem
deutsch- und französischsprachigen Gesetzestext (und aus den Materialien) sich
ergebende Grundregel erscheint sachgerecht und dient auch der
Verfahrenseffizienz. Ein Jugendstrafverfahren, das vor Bekanntwerden von
Straftaten eingeleitet wurde, die nach Vollendung des 18. Altersjahres verübt
wurden, bleibt zwar grundsätzlich anwendbar (Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG). Für
die Festlegung von Strafen (auch von Zusatzstrafen für Straftaten, die vor der
Volljährigkeit verübt wurden) ist jedoch
BGE 135 IV 206 S. 211
ausschliesslich das StGB massgeblich (Art. 3 Abs. 2 Sätze 1-2 JStG). Eine
Ausnahme von der ausschliesslichen Anwendbarkeit des StGB greift Platz, wenn
der Täter einer Massnahme bedarf; in diesem Fall ist diejenige Massnahme nach
dem StGB oder nach dem JStG anzuordnen, die nach den Umständen erforderlich ist
(Art. 3 Abs. 2 Satz 3 JStG).
Diese differenzierte Regelung in "gemischten Fällen" trägt dem Umstand, dass
der bei der Verfolgung bzw. Beurteilung volljährige Täter bei den ersten
Straftaten noch minderjährig war, in zweifacher Hinsicht Rechnung: Zum einen
bleibt (trotz Anwendung des StGB bei der Festlegung von Strafen oder
StGB-Massnahmen) das Jugendstrafprozessrecht anwendbar. Zum anderen können bei
"Übergangstätern" auch noch Massnahmen nach JStG angeordnet werden, wenn diese
sich sachlich aufdrängen. Im Interesse der Verfahrensökonomie verhindert diese
Lösung auch unnötige Prozessleerläufe, indem von einem bereits pendenten
Jugendstrafverfahren in den Erwachsenenstrafprozess gewechselt werden müsste,
wodurch andere Behörden sich in den Fall einarbeiten müssten, auf die sich auch
die Parteien neu einzustellen hätten. In diesem Zusammenhang könnte nicht
zuletzt die Wiederholung von aufwändigen Untersuchungshandlungen drohen. Ein
abrupter Wechsel vom Jugend- zum Erwachsenenstrafprozess erschiene bei
"gemischten Fällen" in der Regel umso störender, als die hängigen
Jugendstrafverfahren oft bereits weit vorangeschritten sind, wenn neue
Straftaten bekannt werden, die erst nach Vollendung des 18. Altersjahres
begangen wurden (vgl. GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, a.a.O., N. 19 zu Art. 3 JStG).
Demgegenüber sind kaum überzeugende Gründe erkennbar, das Jugendstrafverfahren
nur dann beizubehalten, wenn Massnahmen nach StGB oder JStG in Frage kommen.
Allerdings wird die gesetzliche Regelung von Art. 3 Abs. 2 JStG mit Recht als
teilweise widersprüchlich bzw. lückenhaft kritisiert (vgl. GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI,
a.a.O., N. 17-19 zu Art. 3 JStG). So sind besondere Fälle von
Schwerstkriminalität denkbar, bei denen sich de lege lata stossende
Konsequenzen ergeben könnten. Beispielsweise erschiene es kaum sinnvoll, wenn
Jugendstrafbehörden, die einen Diebstahl verfolgen, auch ein Tötungsdelikt
beurteilen müssten, welches der Täter nach Vollendung des 18. Altersjahres
begangen hat. Solche Fälle, bei denen sich ausnahmsweise die Anwendung des
Erwachsenen-Strafprozessrechts aufdrängen könnte, sind
BGE 135 IV 206 S. 212
allerdings eher selten. Bis zum Erlass einer konsistenteren gesetzlichen
Regelung ist die Gerichtspraxis gehalten, auslegungsweise (und nötigenfalls
durch Lückenfüllung) für sachgerechte Lösungen zu sorgen. Im vorliegenden Fall
erweist sich die Beibehaltung des eingeleiteten Jugendstrafprozesses als
sinnvoll und gesetzeskonform.

5.4 Nach dem Gesagten hält der angefochtene Entscheid, der den vorliegenden
"gemischten Fall" dem Jugendermittlungsrichter zur Weiterführung des
Jugendstrafverfahrens zuweist, vor dem Bundesrecht stand. Es kann offenbleiben,
ob dem Angeschuldigten im Falle einer Verurteilung eine Massnahme oder eine
Freiheitsstrafe droht.