Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 IV 196



Urteilskopf

135 IV 196

28. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen X. (Beschwerde in
Strafsachen)
6B_186/2009 vom 16. Juli 2009

Regeste

Art. 97 Abs. 3 und Art. 104 StGB; Verfolgungsverjährung bei Übertretungen.
Auch bei Übertretungen tritt die Verfolgungsverjährung nach einem
erstinstanzlichen Urteil nicht mehr ein (E. 2).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 196

BGE 135 IV 196 S. 196
Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen,
so tritt die Verjährung nicht mehr ein (Art. 97 Abs. 3 StGB). Das Bundesgericht
hat gestützt auf diese gesetzliche Bestimmung entschieden, dass die
Verfolgungsverjährung mit der Fällung des erstinstanzlichen Urteils und nicht
erst mit dessen Eröffnung endet (BGE 130 IV 101 E. 2.3 S. 105). Eine
Strafverfügung ist dem erstinstanzlichen Urteil gleichgestellt (BGE 133 IV 112
E. 9.4.4 S. 117). Unter erstinstanzlichen Urteilen sind ausschliesslich
verurteilende Erkenntnisse zu verstehen (BGE 134 IV 328 E. 2.1 S. 331).

2.2 Nach der Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches (BBl 1999 1979 ff. Ziff. 216.11) war ein Hauptproblem des
damals geltenden Rechts, dass die absolute Verfolgungsverjährung noch im
Rechtsmittelverfahren eintreten konnte. Dieses wurde dadurch behoben, dass nach
den neuen Bestimmungen die Strafverfolgungsverjährung endet, sobald ein
erstinstanzliches Urteil ergangen ist. Als erstinstanzliches Urteil gilt sowohl
ein Urteil im Abwesenheitsverfahren als auch ein Strafmandat (Strafbefehl), das
weder Gegenstand einer Einsprache noch eines Rechtsmittelverfahrens war.
Gegenüber der Gefahr, dass dem Rechtsmittelverfahren keine Grenzen mehr gesetzt
sind, bleibt dem Angeschuldigten der Schutz durch das Verzögerungsverbot nach
BGE 135 IV 196 S. 197
Art. 4 BV sowie das Beschleunigungsgebot nach Art. 6 EMRK (BBl 1999 2134 Ziff.
216.11). Gleichzeitig wurden das Ruhen und die Unterbrechung der
Verjährungsfristen - und damit der Unterschied zwischen relativer und absoluter
Verjährungsfrist - abgeschafft und die Verjährungsfristen verlängert (BBl 1999,
a.a.O.).

2.3 Die Strafverfolgung und die Strafe für Übertretungen verjähren in drei
Jahren (Art. 109 StGB). Hingegen sind weder Beginn noch Ende der
Verjährungsfrist in Art. 103 ff. StGB geregelt. Aufgrund von Art. 104 StGB
gelten die Bestimmungen des ersten Teils des Strafgesetzbuches - d.h. unter
anderem auch Art. 97 Abs. 3 StGB - grundsätzlich auch für Übertretungen, soweit
in den Art. 103 bis 109 StGB nichts Abweichendes geregelt ist. Art. 104 StGB
verweist generell und ausnahmslos auf den ersten Teil des Strafgesetzbuches,
soweit im Übertretungsstrafrecht keine speziellen Regeln aufgestellt werden.
Weder dem Gesetz noch der Botschaft lässt sich entnehmen, dass einzelne Absätze
der Gesetzesbestimmungen des ersten Teils auf das Übertretungsstrafrecht keine
Anwendung finden sollen. Die Botschaft hält im Gegenteil ausdrücklich fest,
dass die Verfolgungsverjährung auch im Strafbefehlsverfahren, also bei
geringfügigeren Delikten, mit dem erstinstanzlichen Urteil endet (BBl 1999,
a.a.O.). Gestützt auf den Willen des Gesetzgebers soll die
Verfolgungsverjährung im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich nicht mehr
eintreten (a.a.O.).

2.4 In einem nicht publizierten Entscheid hat das Bundesgericht aArt. 70 Abs. 3
StGB, welcher dem neuen Art. 97 Abs. 3 StGB entspricht, auf Übertretungen
angewendet (vgl. Urteil 6P.182/2004 vom 2. Mai 2005 E. 3.3).

2.5 Auch die Lehre spricht sich, soweit ersichtlich, für die Anwendbarkeit von
Art. 97 Abs. 3 StGB auf Übertretungen aus (PETER MÜLLER, in: Basler Kommentar,
Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 70 vor Art. 97 StGB; STEFAN HEIMGARTNER,
in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 13 zu Art. 109 StGB;
TRECHSEL/STÖCKLI, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 1.
Aufl. 2008, N. 1 zu Art. 109 StGB; MARTIN SCHUBARTH, Das neue Recht der
strafrechtlichen Verjährung, ZStrR 120/2002 S. 331 Ziff. 24). DENYS präzisiert
zu aArt. 70 Abs. 3 StGB, dass die Entscheidung einer Administrativbehörde, z.B.
in einem Ordnungsbussenverfahren, nicht unter den Begriff "erstinstanzliches
Urteil" falle. Erst der Entscheid einer gerichtlichen Behörde, welche die
Entscheidung der
BGE 135 IV 196 S. 198
Administrativbehörde im Rechtsmittelverfahren überprüft, erachtet dieser Autor
als erstinstanzliches Urteil im Sinne von aArt. 70 Abs. 3 StGB (CHRISTIAN
DENYS, Prescription de l'action pénale: les nouveaux art. 70, 71, 109 et 333
al. 5 CP, SJ 2003 II S. 59 f.).

2.6 Strafverfügungen ergehen gestützt auf die in den jeweiligen kantonalen
Prozessordnungen festgelegten Kompetenzaufteilungen bei nicht allzu
schwerwiegenden Delikten. Das Strafbefehlsverfahren ist nach dem Entwurf zur
Schweizerischen Strafprozessordnung insbesondere auf Übertretungen anwendbar,
d.h. in Fällen, in welchen lediglich die Busse als Strafe zur Verfügung steht
(Art. 103 StGB; BBl 2006 1389, Art. 355 StPO; GOLDSCHMID/MAURER/SOLLBERGER,
Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 1. Aufl.
2008, S. 344 ff.). Werden Strafverfügungen und Strafbefehle generell als
erstinstanzliche Urteile im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB qualifiziert, soweit
sie in Rechtskraft erwachsen, so ist diese Bestimmung auch auf Übertretungen
anzuwenden. Aus der Botschaft ergibt sich dasselbe Resultat. Darin findet sich
kein Hinweis, dass der Gesetzgeber Verbrechen bzw. Vergehen und Übertretungen
bei der Verfolgungsverjährung nach einem erstinstanzlichen Urteil anders
behandeln wollte.
Die Auffassung der Vorinstanz, Art. 97 Abs. 3 StGB sei auf Übertretungen nicht
anwendbar, ist unzutreffend und verletzt Bundesrecht.