Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 IV 191



Urteilskopf

135 IV 191

27. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen A. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_112/2009 vom 16. Juli 2009

Regeste

aArt. 63 StGB i.V.m. Art. 8 Abs.1 BV, Strafzumessung; kein Anspruch auf
"Gleichbehandlung im Unrecht" unter Mittätern.
Zulässigkeit von Unterschieden in der Strafzumessungspraxis (E. 3.1).
Sind im gleichen Verfahren zwei Mittäter zu beurteilen, so kann es auch bei
gleichem Tatbeitrag zu unterschiedlichen Strafen kommen, wenn sich die
subjektive Verschuldensbewertung und die persönlichen Verhältnisse
unterscheiden. Das richtige Verhältnis der Strafen unter Mittätern ist als
Element der Strafzumessung zu berücksichtigen (E. 3.2).
Ist aus formellen Gründen nur über einen Mittäter zu urteilen, so hat der
Richter sich zu fragen, welche Strafen er ausfällen würde, wenn er beide
Mittäter gleichzeitig beurteilen müsste. Dabei ist der Richter nicht an das
Urteil gegen den Mittäter gebunden. Er muss aber auf die Strafe des Mittäters
Bezug nehmen und begründen, weshalb sich diese nicht als Vergleichsgrösse
eignet. Es besteht kein Anspruch auf "Gleichbehandlung im Unrecht", wenn nach
seiner Auffassung gegen den Mittäter eine zu milde Strafe ausgefällt wurde (E.
3.3).
Es ist unzulässig, eine als angemessen erachtete Freiheitsstrafe mit dem
formalen Argument zu reduzieren, es bestehe ein Missverhältnis zur Strafe des
Mittäters (E. 3.4).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 193

BGE 135 IV 191 S. 193
Aus den Erwägungen:

3. Das Bundesgericht hat die Grundsätze der Strafzumessung und die an sie
gestellten Anforderungen wiederholt dargelegt. Darauf kann verwiesen werden (
BGE 134 IV 17 E. 2.1 S. 19 f; BGE 129 IV 6 E. 6.1 S. 20 f.; BGE 127 IV 101 E.
2c S. 105; je mit Hinweisen).

3.1 Gemäss aArt. 63 StGB (bzw. Art. 47 StGB) ist das Strafmass individuell nach
dem Verschulden eines Täters im Rahmen des richterlichen Ermessens
festzusetzen. Der Grundsatz der Individualisierung und der dem Sachrichter vom
Gesetz bei der Strafzumessung eingeräumte weite Ermessensspielraum führen nach
der Rechtsprechung notwendigerweise zu einer gewissen, vom Gesetzgeber in Kauf
genommenen Ungleichheit. Unterschiedliche Gewichtungen der massgebenden
Faktoren sind zudem Folge der Unabhängigkeit des Richters, der weiten
Strafrahmen, der freien Beweiswürdigung sowie des erheblichen Ermessens des
Sachrichters. In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass selbst gleich oder
ähnlich gelagerte Fälle sich durchwegs massgeblich in zumessungsrelevanten
Punkten unterscheiden. Die aus diesen Umständen resultierende Ungleichheit in
der Zumessung der Strafe reicht für sich allein nicht aus, um auf einen
Missbrauch des Ermessens zu schliessen. Es ist nicht Sache des Bundesgerichts,
für eine peinlich genaue Übereinstimmung einzelner Strafmasse zu sorgen. Es hat
lediglich für eine korrekte Anwendung von Bundesrecht besorgt zu sein. Soweit
die Strafe innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens, gestützt auf alle
wesentlichen Gesichtspunkte und im Rahmen des richterlichen Ermessens
festgesetzt wurde, sind Unterschiede in der Strafzumessungspraxis innerhalb
dieser Grenzen als Ausdruck unseres Rechtssystems hinzunehmen (eingehend BGE
123 IV 150 E. 2a mit Hinweisen; ferner Urteil 6S.460/1999 vom 2. September 1999
E. 2b mit Hinweis).

3.2 Hat der Sachrichter im gleichen Verfahren zwei Mittäter zu beurteilen, so
ist bei der Verschuldensbewertung mit zu berücksichtigen, in welchem
gegenseitigen Verhältnis die Tatbeiträge stehen. Der Grundsatz der
Gleichbehandlung und Gleichmässigkeit der Strafzumessung gebietet, dass sich
jeder für den ihm zukommenden Anteil an der Unrechtmässigkeit der Tat zu
verantworten hat. Ist der Tatbeitrag gleichwertig, so führt das zunächst zu
einer gleichen (objektiven) Schuldeinschätzung. Erst wenn auch die subjektive
Vorwerfbarkeit identisch ist und sich überdies namentlich die individuellen
Täterkomponenten gleichmässig auswirken, drängt
BGE 135 IV 191 S. 194
sich die gleiche Strafe für beide Mittäter auf. Häufig liegen jedoch ungleiche
Strafzumessungsfaktoren vor, weil sich die subjektive Verschuldensbewertung
oder die persönlichen Verhältnisse unterscheiden. In diesen Fällen kann es zu
unterschiedlichen Strafen kommen. Der Grundsatz der Gleichmässigkeit ist nur
verletzt, wenn es der Richter bei der Festlegung der einzelnen Strafen
unterlässt, im Sinne einer Gesamtbetrachtung beide Strafzumessungen in Einklang
zu bringen. Die Berücksichtigung des richtigen Verhältnisses der Strafe zu
derjenigen des Mittäters kann als eigenes und zusätzliches Element der
Strafzumessung betrachtet werden. aArt. 63 StGB (wie auch Art. 47 StGB) ist
verletzt, wenn dieser Umstand unbeachtet bleibt oder falsch gewichtet wird. Das
kann zur Folge haben, dass die Strafe des einen Mittäters angemessen und die
andere unangemessen ist. Möglich ist aber auch, dass beide Strafen unvertretbar
und damit an sich bundesrechtswidrig sind (vgl. Urteil 6S.410/2005 vom 7. Juni
2006 E. 17.4.2).

3.3 Ist aus formellen Gründen nur über einen Mittäter zu urteilen, während die
Strafe des andern bereits feststeht, so geht es darum, einen hypothetischen
Vergleich anzustellen. Der Richter hat sich zu fragen, welche Strafen er
ausfällen würde, wenn er beide Mittäter gleichzeitig beurteilen müsste. Dabei
hat er sich einzig von seinem pflichtgemässen Ermessen leiten zu lassen. Es
wäre mit der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar, müsste er sich gegen
seine Überzeugung einem anderen Urteil anpassen. Der Richter findet sich in
einer ähnlichen Ausgangslage, wenn er eine Zusatzstrafe zu einem früheren
Urteil ausfällen muss (aArt. 68 Ziff. 2 StGB bzw. Art. 49 Abs. 2 StGB). Auch
hier ist er in seiner Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt und kann er
frei befinden, wie die Strafe lauten würde, wenn er die strafbaren Handlungen
gleichzeitig zu beurteilen hätte. Er ist bei der Festsetzung der Zusatzstrafe
nicht an das erste Urteil gebunden (BGE 132 IV 102 E. 8.2 S. 105). Die
Autonomie des Richters kann zur Folge haben, dass die Strafen zweier Mittäter
in einem Missverhältnis stehen. Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich und
hinzunehmen, solange die in Frage stehende Strafe als solche angemessen ist.
Allerdings ist zu verlangen, dass in der Begründung auf die Strafe des
Mittäters Bezug genommen und dargelegt wird, weshalb sich diese nicht als
Vergleichsgrösse eignet. Ein Anspruch auf "Gleichbehandlung im Unrecht" besteht
grundsätzlich nicht. Die Rechtsprechung hat denn auch stets den Vorrang des
Legalitätsprinzips vor dem Gleichheitsprinzip betont. Eine falsche
Rechtsanwendung in einem Fall
BGE 135 IV 191 S. 195
begründet grundsätzlich keinen Anspruch, seinerseits ebenfalls abweichend von
der Norm behandelt zu werden (BGE 124 IV 44 E. 2c S. 47 mit Hinweis).

3.4 Die Vorinstanz hält ausdrücklich fest, dass eine Freiheitsstrafe von 6
Jahren angemessen ist. Sie macht sich dabei die Erwägungen der ersten Instanz
zu eigen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners ist die Höhe der Strafe
in Anbetracht des anzuwendenden Strafrahmens (1 bis 20 Jahre Freiheitsstrafe)
nicht übersetzt und liegt insbesondere innerhalb des Ermessens. Der
Beschwerdeführer hat sich in zweierlei Hinsicht der qualifizierten
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gemacht, indem er
einerseits eine grosse Menge Drogen einführte und verteilte (10,5 kg
Kokaingemisch mit einem Reinheitsgehalt von 45 %, d.h. 4,725 kg reines Kokain)
und anderseits als Mitglied einer Bande handelte. Er war zu verschiedenen Malen
deliktisch tätig und verfolgte finanzielle Vorteile. Auch wenn er sich auf
einer tiefen Hierarchiestufe ohne Mitbestimmungsrecht befand und relativ wenig
verdiente, ist von einem mittleren Verschulden auszugehen. Auch wer nur
Anweisungen ausführt, kann innerhalb eines Verteilungsnetzes eine wichtige und
unabdingbare Rolle spielen, was einen erheblichen strafrechtlichen Vorwurf zu
begründen vermag. Wenn die Vorinstanz festhält, die Strafe für den Mittäter B.
sei zu milde, so bringt sie zum Ausdruck, dass jene Strafe in einem unrichtigen
Verhältnis zur Strafe des Beschwerdegegners steht. Dass sie die Strafe des
Mittäters nicht auf die ihres Erachtens angemessene - allerdings nicht
bezifferte - Höhe anhebt, ist prozessual bedingt, weil das entsprechende Urteil
unangefochten blieb. Dies ändert nichts daran, dass die erstinstanzlich
ausgefällte Freiheitsstrafe von 6 Jahren auch aus Sicht der Vorinstanz unter
Würdigung aller Umstände angemessen ist. Bei dieser Sachlage ist es unzulässig,
die Strafe mit dem formalen Argument der fehlenden Relation zu reduzieren. Die
Frage würde sich erst stellen, wenn die Strafe für den Beschwerdeführer zu
beanstanden wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Vorinstanz nimmt mit
ihrem Entscheid letztlich eine "Gleichbehandlung im Unrecht" vor, was
grundsätzlich nicht angeht. Es wäre im vorliegenden Fall stossend, wenn neben
dem Mittäter auch der Beschwerdegegner von einer zu milden Strafe profitieren
könnte, nur weil jenes Urteil nicht angefochten wurde. Einen Anspruch, mit
einer unangemessen tiefen Strafe belegt zu werden, besteht offensichtlich
nicht. Mit ihrem Vorgehen hat die Vorinstanz aArt. 63 StGB verletzt, weshalb
die Beschwerde gutzuheissen ist.