Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 IV 177



Urteilskopf

135 IV 177

24. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Beschwerde in Strafsachen)
6B_68/2009 vom 4. Juni 2009

Regeste

Art. 14 und 173 ff. StGB.
Auch die polizeilich oder richterlich befragte Auskunftsperson kann sich im
Falle ehrenrühriger Äusserungen unter vergleichbaren Voraussetzungen, wie sie
für andere Verfahrensbeteiligte (etwa Zeugen oder Prozessparteien) gelten, auf
den Rechtfertigungsgrund von Art. 14 StGB berufen (E. 4).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 177

BGE 135 IV 177 S. 177
Aus den Erwägungen:

4. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, kann sich die Erlaubtheit einer
ehrverletzenden Äusserung aus Art. 14 StGB ergeben. Gemäss dieser Bestimmung,
die ihrem Gehalt nach grundsätzlich dem früheren aArt. 32 StGB entspricht,
verhält sich rechtmässig,
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wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, auch wenn die Tat nach
dem StGB oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist. Auf diesen
Rechtfertigungsgrund können sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
beispielsweise Richter oder Beamte berufen, die in der Begründung von Urteilen
oder Verfügungen ehrverletzende Äusserungen machen. Denn zu ihren Aufgaben
gehört auch die Verpflichtung, Entscheide zu begründen. Soweit solche die Ehre
des Betroffenen verletzenden Äusserungen mit dem Gegenstand des Entscheides
zusammenhängen und der notwendigen Begründung dienen, sind sie gerechtfertigt
(vgl. BGE 98 IV 90 E. 4a S. 95; BGE 106 IV 179 ff.). Auch Prozessparteien
können sich bei allfälligen ehrenrührigen Bemerkungen auf ihre prozessualen
Darlegungspflichten und damit auf Art. 14 StGB berufen. Die gleichen Befugnisse
müssen auch dem Anwalt zustehen, der eine Partei vertritt, sofern seine
Ausführungen sachbezogen sind, sich auf das für die Erläuterung des jeweiligen
Standpunktes Notwendige beschränken, nicht wider besseres Wissen erfolgen und
blosse Vermutungen als solche bezeichnen (vgl. BGE 131 IV 154 E. 1.3.1; BGE 118
IV 153 E. 4b; BGE 116 IV 211 E. 4a/bb S. 214). Ebenso handelt der Zeuge
aufgrund seiner Zeugnispflicht rechtmässig, wenn er aussagt, was er für wahr
hält; dies gilt selbst, wenn er bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit die
Unrichtigkeit seiner vermeintlich wahren Angaben hätte erkennen können (BGE 80
IV 56 E. 2 S. 60; BGE 118 IV 153 E. 4b S. 161; vgl. zum Ganzen auch FRANZ
RIKLIN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 47 vor Art.
173 StGB; ANDREAS DONATSCH, Delikte gegen den Einzelnen, 9. Aufl. 2008, S. 371
f.; STRATENWERTH/JENNY, Straftaten gegen Individualinteressen, 6. Aufl. 2003, §
11 N. 51 S. 227).
Mit dem Problem, ob sich auch als Auskunftspersonen einvernommene
Verfahrensbeteiligte auf den Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 14 StGB unter
vergleichbaren Voraussetzungen, wie sie für die vorstehend umschriebenen Fälle
gelten, berufen können, hat sich das Bundesgericht bislang nicht
auseinandersetzen müssen. Die Vorinstanz hat diese Frage, wenn auch ohne nähere
Begründung, klar bejaht. Ihrer Auffassung ist zuzustimmen. Zwar trifft
Auskunftspersonen - werden sie nun polizeilich, untersuchungsrichterlich oder
gerichtlich befragt - im Unterschied zu Zeugen keine gesetzliche Aussagepflicht
(vgl. §§ 97 und 98 StPO/TG [RB/TG 312.1]; s. auch Art. 177 Abs. 1 der künftigen
eidgenössischen Strafprozessordnung). Sie haben vielmehr das Recht, die
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Aussage zu verweigern, und die Aussageverweigerung hat keine Sanktionen zur
Folge (THOMAS ZWEIDLER, Die Praxis zur thurgauischen Strafprozessordnung, 2005,
§ 97 N. 1 S. 434 f.). Abgrenzungskriterium für die Anwendbarkeit des
Rechtfertigungsgrunds von Art. 14 StGB ist indessen nicht nur, ob der
Betreffende zu Äusserungen über das Verhalten anderer Verhaltensbeteiligter
aufgrund strafprozessualer Normen verpflichtet ist (anders noch St. Gallische
Gerichts- und Verwaltungspraxis 1956 Nr. 38; Rechtsprechung in Strafsachen 1957
Nr. 110), sondern es kann hierfür durchaus genügen, dass er zur Deponierung von
Aussagen auch lediglich berechtigt ist, wie dies etwa bei Prozessparteien im
Rahmen ihrer Darlegungspflichten und -rechte der Fall ist (vgl. hierzu
DONATSCH, a.a.O., S. 371 mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche
Rechtsprechung). Rechtmässig verhält sich nach Art. 14 StGB ja nicht nur, wer
handelt, wie es das Gesetz gebietet, sondern nach dem Wortlaut der Bestimmung
eben auch, wer handelt, wie es das Gesetz erlaubt. Da die Bereitschaft zur
Auskunftserteilung bzw. zur Aussage vor den Strafverfolgungsorganen rechtlich
erwünscht bzw. im Interesse der Justiz ist, wäre es nicht sachgerecht, die
aussagewillige Auskunftsperson durch die Ausschaltung von Art. 14 StGB einem
erhöhten Strafbarkeitsrisiko auszusetzen und ihr dadurch die
Auskunftsverweigerung grundsätzlich als empfehlenswert erscheinen zu lassen. Es
ist deshalb unter dem Blickwinkel der gesetzlichen Erlaubnis gerechtfertigt,
auch der Auskunftsperson im Falle ehrverletzender Äusserungen im Rahmen einer
(polizeilichen oder richterlichen) Befragung den Schutz von Art. 14 StGB
zuzubilligen und sie von der Last des Gutglaubensbeweises im Sinne von Art. 173
Ziff. 2 StGB zu befreien (in diesem Sinne auch TRECHSEL/JEAN-RICHARD und
TRECHSEL/LIEBER, in: Praxiskommentar, 2008, N. 1 zu Art. 14 sowie N. 5 zu Art.
173 StGB; ZR 107/2008 S. 107 ff.; für das deutsche Recht zur "freiwilligen
Zeugenaussage" vor der Polizei siehe THOMAS FISCHER, Strafgesetzbuch und
Nebengesetze, 56. Aufl., München 2009, N. 41 zu § 193 dStGB; Neue juristische
Wochenschrift [NJW] 20/1967 S. 792 ff. mit zustimmenden Anmerkungen von CLAUS
ROXIN).