Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 IV 139



Urteilskopf

135 IV 139

18. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen)
6B_838/2008 vom 8. Januar 2009

Regeste

Art. 59 Abs. 4 StGB; Verlängerung der stationären therapeutischen Massnahme.
Nach dem Gesetzeswortlaut darf die stationäre therapeutische Massnahme bei
gegebenen Voraussetzungen (E. 2.1-2.3) um jeweils höchstens fünf Jahre
verlängert werden. Daraus ergibt sich, dass im Einzelfall eine Verlängerung
auch von weniger als fünf Jahren angeordnet werden kann (E. 2.4).

Sachverhalt ab Seite 140

BGE 135 IV 139 S. 140

A. Der 1980 geborene X. trat mit 18 Jahren erstmals strafrechtlich in
Erscheinung und wurde unter anderem wegen strafbarer Handlungen gegen die
sexuelle Integrität verurteilt (1999 wegen mehrfacher sexueller Nötigung und
mehrfacher Vergewaltigung, 2000 wegen sexueller Handlungen mit einem Kind).
Seit seiner Festnahme am 13. August 1999 befindet er sich im Haft- bzw.
stationären Massnahmenvollzug. Gegenwärtig ist er im Therapiezentrum B.
untergebracht.

B. Auf Antrag der Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Luzern hin
entschied das Kriminalgericht Luzern mit Urteil vom 12. Dezember 2007, die
gegen X. verhängte Massnahme nach aArt. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB im Sinne von
Art. 59 Abs. 4 StGB um drei Jahre zu verlängern.

C. Dagegen reichte X. am 28. Januar 2008 Rekurs beim Obergericht des Kantons
Luzern ein. Nach Eingang der von diesem in Auftrag gegebenen psychiatrischen
Gutachtensergänzung vom 9. Juli 2008 und der hierzu ergangenen Stellungnahmen
der Parteien wies das Obergericht den Rekurs am 21. August 2008 ab, soweit es
darauf eintrat, und verlängerte die bestehende stationäre therapeutische
Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 4 StGB in Abänderung des erstinstanzlichen
Entscheids auf unbestimmte Zeit, jedoch um höchstens 5 Jahre (Dispositiv-Ziffer
1 i.V.m. angefochtenem Urteil). Die Verfahrenskosten nahm es auf die
Staatskasse (Dispositiv-Ziffer 2).

D. X. wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er
beantragt, es sei Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Urteils des
Obergerichts vom 21. August 2008 aufzuheben, und er sei aus dem stationären
Vollzug der therapeutischen Massnahme bedingt zu entlassen. Eventuell sei die
Verlängerung der stationären Massnahme um höchstens ein Jahr anzuordnen.
Subeventuell sei die Streitsache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. X. ersucht ferner um die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung.

E. Das Obergericht des Kantons Luzern schliesst in seiner Eingabe vom 15.
Dezember 2008 auf Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft des Kantons
Luzern hat am 19. Dezember 2008 auf eine Stellungnahme zur Beschwerde
verzichtet.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
BGE 135 IV 139 S. 141

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Nach Art. 59 Abs. 4 StGB beträgt der mit der stationären Behandlung
verbundene Freiheitsentzug in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die
Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben
und ist zu erwarten, durch die Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr
weiterer mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender
Verbrechen und Vergehen begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der
Vollzugsbehörde die Verlängerung der Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre
anordnen.

2.1 Im Unterschied zum früheren Recht lässt sich eine stationäre therapeutische
Behandlung über die Dauer von fünf Jahren hinaus nicht unbesehen fortführen.
Die Massnahme bedarf nach Ablauf dieser Zeit vielmehr der gerichtlichen
Überprüfung. Erweist sie sich, namentlich im Hinblick auf den psychischen
Zustand des Betroffenen und dessen Rückfallgefährlichkeit, nach wie vor als
notwendig und geeignet, kann sie um jeweils maximal fünf Jahre verlängert
werden. Dabei ist, über die ordentliche Prüfung der Indikation der Massnahme
hinaus, dem Prinzip der Verhältnismässigkeit verstärkt Beachtung zu schenken,
zumal der Verlängerung der Massnahme im Grunde Ausnahmecharakter zukommt bzw.
diese besonders zu begründen ist. Eine Begutachtung durch einen
Sachverständigen ist dabei allerdings nicht zwingend erforderlich (vgl. Art. 56
Abs. 3 StGB; zum Ganzen MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Strafgesetzbuch,
Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 126 zu Art. 59 StGB; dieselbe, Einige Schwerpunkte des
neuen Massnahmenrechts, ZStrR 121/ 2003 S. 376 ff., 392; TRECHSEL/PAUEN BORER,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 15 zu Art. 59 StGB).

2.2

2.2.1 Die gesetzlich geschaffene Möglichkeit der Massnahmenverlängerung knüpft
mithin an zwei Bedingungen an. Sie erfordert zunächst, dass die Voraussetzungen
für eine bedingte Entlassung nach Art. 62 StGB noch nicht gegeben sind, dem
Täter prospektiv also noch keine günstige Prognose gestellt werden kann
(SCHWARZENEGGER UND ANDERE, Strafen und Massnahmen, 8. Aufl. 2007, § 9 Rz.
1.22; HEER, a.a.O., N. 23 zu Art. 62 StGB).

2.2.2 Davon geht die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid aus. Sie stützt sich
dabei auf das psychiatrische Ergänzungsgutachten von
BGE 135 IV 139 S. 142
Dr. med. A. vom 9. Juli 2008, welcher an der bisherigen Diagnose einer
Persönlichkeitsstörung (F 70.0 nach ICD-10) ausdrücklich festhält, das Ausmass
dieser Störung trotz Behandlungsfortschritten nach wie vor als erheblich
bezeichnet und von einer insgesamt nicht unbeträchtlichen Wahrscheinlichkeit
der Begehung weiterer Straftaten wie etwa Sexual-, Vermögens- sowie
Betäubungsmitteldelikte ausgeht. Deswegen und insbesondere gestützt auch auf
den Umstand, dass der Beschwerdeführer laut dem Gutachter ohne entsprechende
Vorbereitungen für ein selbständiges Leben in Freiheit zurzeit überfordert
wäre, gelangt die Vorinstanz zum Schluss, dass gegenwärtig nicht auf eine
Bewährung des Beschwerdeführers in Freiheit geschlossen werden könne. Die
Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung seien damit zurzeit (noch) nicht
gegeben.

2.2.3 Dass und inwiefern die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid von der
gutachterlichen Einschätzung abweicht, indem sie etwa die psychiatrische
Diagnose unzulässigerweise ausgeweitet oder die ärztliche Beurteilung der
Rückfallgefahr unzutreffend wiedergegeben haben soll, ist nicht erkennbar.
Entgegen der Beschwerde hat die Vorinstanz insbesondere nicht verkannt, dass
laut Gutachter keine konkreten Hinweise auf Rückfälle in Bezug auf
Sexualdelikte bestehen. Sie hat diesen Umstand aber nachvollziehbar mit dem
mittlerweile neun Jahre dauernden Vollzug erklärt. Ebenso wenig übersieht sie,
dass sich die aufgrund des beim Beschwerdeführer festgestellten
Klinefelter-Syndroms stetig abnehmende Testosteronproduktion bei der
Rückfallgefahr hinsichtlich Sexualdelikte günstig auswirken dürfte. Sie betont
aber insoweit zu Recht, dass der Zeitpunkt, in welchem diese Produktion zum
Erliegen komme, auch nach dem Gutachter weder bestimmt noch exakt bestimmbar
sei. Auch was die Einschätzung der Rückfallgefahr in Bezug auf Verstösse gegen
das Betäubungsmittelgesetz und bei Vermögensdelikten angeht, legt die
Vorinstanz ihrer Beurteilung die Ausführungen des Gutachters zugrunde, welcher
in dieser Hinsicht weiterhin von einer schwer einschätzbaren Gefahr und damit
von einem nicht unbeträchtlichen Risiko weiterer solcher Straftaten ausgeht.
Schliesslich lässt die Vorinstanz bei der Prognosebeurteilung entgegen der
Meinung der Verteidigung auch die Erkenntnisse aus den positiv verlaufenen
Urlauben nicht unberücksichtigt, zumal die dahingehenden Auskünfte des
Vollzugsleiters und des leitenden Arztes der forensisch-psychiatrischen Dienste
der Psychiatrischen Klinik
BGE 135 IV 139 S. 143
Solothurn in die von der Vorinstanz übernommene gutachterliche Beurteilung des
Rückfallrisikos eingeflossen sind.

2.2.4 Vor diesem Hintergrund, d.h. insbesondere aufgrund des psychischen
Gesundheitszustands des Beschwerdeführers, seiner noch ungenügenden
Selbständigkeit für ein Leben in Freiheit und des insgesamt nicht
unwahrscheinlichen Risikos weiterer Verbrechen und Vergehen hat die Vorinstanz
die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung vorliegend verneinen dürfen,
da unter den gegebenen Umständen nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich
der Beschwerdeführer gegenwärtig in Freiheit bewähren wird. Der angefochtene
Entscheid verletzt insoweit kein Bundesrecht. Der Beschwerdeführer dringt mit
seinem Hauptantrag auf bedingte Entlassung aus der Massnahme folglich nicht
durch. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.

2.3

2.3.1 Damit eine stationäre Massnahme verlängert werden kann, muss sodann - im
Sinne von Art. 59 Abs. 4 StGB - erwartet werden können, dass sich durch die
Fortführung der Massnahme der Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des
Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen lasse.

2.3.2 Auch dieses Erfordernis hat die Vorinstanz, ohne Bundesrecht zu
verletzen, entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers als erfüllt betrachten
dürfen. Zwar trifft zu, dass der Gutachter das Fortführen der stationären
Massnahme im heutigen Setting für sinnlos hält. Damit ist aber, wie die
Vorinstanz zu Recht darlegt, lediglich die gegenwärtige spezifische
Ausgestaltung der Behandlung gemeint. Die stationäre Massnahme als solche hält
der Gutachter nach wie vor für notwendig und geeignet, um die psychische
Störung des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Verbesserung der
Legalprognose zu behandeln, weist er in seiner Beurteilung doch ausdrücklich
auf "die noch zu leistende Arbeit" im stationären Massnahmenvollzug hin, bevor
an eine "probeweise Entlassung" gedacht werden könne. Der angefochtene
Entscheid verletzt mithin auch in dieser Hinsicht kein Bundesrecht.

2.4 Sind wie hier die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben, so kann das
zuständige Gericht die Massnahme nach dem Gesetzeswortlaut um jeweils höchstens
fünf Jahre verlängern. Aus dieser Formulierung ergibt sich zunächst, dass eine
Massnahmenverlängerung selbst bei Vorliegen der in Art. 59 Abs. 4 StGB
genannten
BGE 135 IV 139 S. 144
Voraussetzungen nicht zwingend erfolgen muss ("Kann-Vorschrift"). Das Gericht
hat insofern abzuwägen, ob die vom Betroffenen ausgehende Gefahr den mit der
Verlängerung der Massnahme verbundenen Eingriff in seine Freiheitsrechte zu
rechtfertigen vermag. Dabei kann nur die Gefahr relativ schwerer Delikte eine
Verlängerung rechtfertigen (TRECHSEL/PAUEN BORER, a.a.O., N. 15 zu Art. 59
StGB; STRATENWERTH, Strafen und Massnahmen, 2. Aufl. 2006, § 9 Rz. 40). Das
Verhältnismässigkeitsprinzip verlangt jedoch nicht nur in Bezug auf die
Anordnung der Massnahmenverlängerung als solche Beachtung, sondern auch
hinsichtlich ihrer Dauer (Art. 56 Abs. 2 StGB). Nach dem Gesetzeswortlaut darf
die Massnahme, wie erwähnt, um höchstens fünf Jahre verlängert werden. Daraus
folgt unmissverständlich, dass im Einzelfall auch eine Verlängerungsdauer von
weniger als fünf Jahren in Frage kommen kann.

2.4.1 Die Vorinstanz erwägt, dass vorliegend eine Verlängerung anzuordnen ist.
In Anbetracht der nicht unbeträchtlichen Wahrscheinlichkeit und Schwere
weiterer Straftaten sei der mit einer Verlängerung der Massnahme verbundene
Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Beschwerdeführers derweilen noch
verhältnismässig. Das für die Massnahmenverlängerung zuständige Gericht habe
indessen keine konkrete Dauer der Massnahme festzulegen. Dies ergebe sich nicht
nur aus dem Wortlaut von Art. 59 Abs. 4 StGB, sondern auch daraus, dass
Massnahmen grundsätzlich bis zur Beseitigung der vom Täter ausgehenden Gefahr,
also auf unbestimmte Zeit, ausgesprochen würden. Gegen die gerichtliche
Festlegung einer konkreten Dauer der Massnahmenverlängerung spreche auch die
vom Gesetzgeber gewollte Kompetenzordnung. Während die Anordnung einer
Verlängerung oder Nicht-Verlängerung einer stationären Massnahme dem Gericht
obliege, sei für die Entlassung aus der Massnahme oder für deren Aufhebung die
Vollzugsbehörde verantwortlich. Komme das zuständige Gericht zur Auffassung,
dass die stationäre Massnahme zu verlängern sei, könne es deshalb nur die in
Art. 59 Abs. 4 StGB angegebene Höchstdauer von fünf Jahren aussprechen und
müsse dabei selbst eine wie im zu beurteilenden Fall gutachterlich empfohlene
kürzere Dauer unberücksichtigt lassen. Die vorliegende Massnahme sei deshalb
auf unbestimmte Zeit, jedoch um höchstens fünf Jahre zu verlängern.

2.4.2 Mit dieser Auffassung verletzt die Vorinstanz Bundesrecht. Zwar ist mit
ihr davon auszugehen, dass die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr weiterer
Straftaten (insbesondere im Bereich
BGE 135 IV 139 S. 145
der Sexualdelinquenz) die mit der Anordnung der Massnahmenverlängerung
einhergehenden Freiheitsbeschränkungen mit Blick auf das Schutzbedürfnis der
Allgemeinheit gegenwärtig grundsätzlich noch zu rechtfertigen vermag. Insoweit
ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden. Jedoch kann der Vorinstanz
nicht gefolgt werden, soweit sie sich auf den Standpunkt stellt, Massnahmen
seien nach Art. 59 Abs. 4 StGB in jedem Fall um die Höchstdauer von fünf Jahren
zu verlängern. Diese Auffassung lässt sich zum einen weder aus der den
Massnahmen eigenen spezialpräventiven Zielsetzung noch aus der gesetzlichen
Kompetenzordnung im Verfahren um die Massnahmenbeendigung herleiten. Zum
anderen steht sie im Widerspruch mit dem Gesetzeswortlaut, der im Hinblick auf
Sinn und Zweck der Regelung nicht anders verstanden werden kann, als dass die
Massnahme im Einzelfall auch um weniger als fünf Jahre verlängert werden darf.
Insoweit hat die Vorinstanz ihr Ermessen nicht ausgeschöpft, was als
Ermessensunterschreitung Bundesrecht verletzt. Der angefochtene Entscheid ist
daher aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Neuentscheidung
zurückzuweisen. Dabei wird sie im Zusammenhang mit der im zu beurteilenden Fall
konkret anzuordnenden Verlängerungsdauer sämtliche in dieser Hinsicht
rechtsrelevanten Umstände berücksichtigen müssen, insbesondere auch die vom
Gutachter in dieser Hinsicht abgegebene Empfehlung, die stationäre Massnahme
(lediglich) um ein Jahr zu verlängern. Bei dieser Rechtslage erübrigt es sich,
auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Missachtung des Verbots der
"reformatio in peius" einzugehen.