Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 IV 126



Urteilskopf

135 IV 126

16. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S.
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1023/2008 vom 7. Mai 2009

Regeste

Art. 51 StGB und Art. 104 i.V.m. Art. 51 StGB.
Werden gleichzeitig Strafen unterschiedlicher Art ausgesprochen, ist die
Untersuchungshaft auf die Hauptstrafe anzurechnen, unabhängig davon, ob diese
bedingt oder unbedingt ausfällt. Somit wird die Untersuchungshaft in erster
Linie auf die Freiheitsstrafe, dann auf die Geldstrafe und zuletzt auf die
Busse angerechnet (E. 1.3).

Sachverhalt ab Seite 126

BGE 135 IV 126 S. 126

A. Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. auf Berufung der
Staatsanwaltschaft See/Oberland gegen den erstinstanzlichen Freispruch am 15.
September 2008 des vorsätzlichen Fahrens in fahrunfähigem Zustand mit
qualifizierter Blutalkoholkonzentration sowie des Nichtbeherrschens des
Fahrzeugs schuldig. Es bestrafte ihn mit
BGE 135 IV 126 S. 127
einer bedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu Fr. 160.- bei einer Probezeit
von zwei Jahren und mit einer Busse von Fr. 1'500.- bzw. mit acht Tagen Haft im
Falle der schuldhaften Nichtbezahlung der Busse. Die Untersuchungshaft von
einem Tag rechnete es mit Fr. 160.- an die Busse an.

B. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhebt gegen dieses Urteil
Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragt, das Urteil
aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht des Kantons
Zürich zurückzuweisen, damit es die Untersuchungshaft an die Geldstrafe anstatt
an die Busse anrechne.

C. Das Obergericht des Kantons Zürich reichte mit Eingabe vom 9. Januar 2009
seine Vernehmlassung ein. Der Beschwerdegegner verzichtete auf eine
Vernehmlassung zur Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und
fasst das Dispositiv des aufgehobenen, vorinstanzlichen Urteils neu.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.3

1.3.1 Unter dem alten vor dem 1. Januar 2007 geltenden Recht war die Anrechnung
von Untersuchungshaft an Bussen in aArt. 69 StGB ausdrücklich geregelt. Darin
hielt der Gesetzgeber fest, dass "der Richter dem Verurteilten die
Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe anrechnet, soweit der Täter die
Untersuchungshaft nicht durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt oder
verlängert hat. Lautet das Urteil nur auf Busse, so kann er die Dauer der
Untersuchungshaft in angemessener Weise berücksichtigen." Gestützt auf den
Wortlaut von aArt. 69 StGB war die Untersuchungshaft somit prioritär an die
Freiheitsstrafe als Hauptstrafe anzurechnen.

1.3.2 Gemäss dem neuen Art. 51 Satz 1 StGB rechnet das Gericht die
Untersuchungshaft, die der Täter während dieses oder eines anderen Verfahrens
ausgestanden hat, auf die "Strafe" an. Ein Tag Untersuchungshaft entspricht
einem Tagessatz Geldstrafe oder vier Stunden gemeinnütziger Arbeit (Satz 2).
Das Übertretungsstrafrecht in Artikel 103 ff. StGB regelt die Anrechnung von
Untersuchungshaft an Bussen nicht, weshalb gestützt auf die Verweisung in Art.
104 StGB die Bestimmungen des ersten Teils des Strafgesetzbuches - wozu auch
Art. 51 StGB zählt - anzuwenden sind.
BGE 135 IV 126 S. 128
Art. 51 StGB spricht sich nicht darüber aus, auf welche "Strafen" die
Untersuchungshaft anzurechnen ist, ob diese auch an eine Verbindungsbusse nach
Art. 42 Abs. 4 StGB oder an eine Übertretungsbusse nach Art. 106 StGB
angerechnet werden kann bzw. welche Prioritätenordnung bei der Anrechnung an
mehrere gleichzeitig ausgesprochene Strafarten gilt.

1.3.3 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis
einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Auszurichten ist die
Auslegung auf die ratio legis, die nicht nach den subjektiven Wertvorstellungen
der Richter, sondern nach den Vorgaben des Gesetzgebers zu ermitteln ist (BGE
134 IV 297 E. 4.3.1 S. 302 mit Hinweisen).

1.3.4 Die Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Strafgesetzbuches
(BBl 1999 1979 ff., 2063) führt zu Art. 51 StGB aus, "für Fälle, in denen keine
Freiheitsstrafe ausgefällt wird, regelt Artikel 51 E die Anrechnung der
Untersuchungshaft genauer als das geltende Recht. Die Regelung bezieht sich
nicht nur auf die Geldstrafe, sondern auch auf die gemeinnützige Arbeit."
Weder in der Botschaft noch den parlamentarischen Beratungen zum neuen
allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches finden sich Hinweise, dass mit der neuen
Fassung von Art. 51 StGB eine Änderung in der Reihenfolge der Anrechnung von
aArt. 69 StGB - wonach die Untersuchungshaft zunächst auf die Hauptstrafe
anzurechnen ist - beabsichtigt gewesen wäre.

1.3.5 Die Literatur äussert sich - soweit ersichtlich - grösstenteils nicht zur
Frage der Reihenfolge der Anrechnung von Untersuchungshaft an verschiedene
gleichzeitig ausgesprochene Strafarten. JEANNERET spricht sich für eine
Anrechnung der Untersuchungshaft an eine Busse als alleine ausgesprochene
Strafe aus, wobei er vorschlägt, als Umrechnungssatz den Satz für die
Umrechnung in die Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung
anzuwenden. Bei den nach Art. 42 Abs. 4 StGB kombiniert ausgesprochenen Strafen
hält er eine Anrechnung auf die unbedingte Strafe dort als "akzeptierbar", wo
die Strafen "gleicher Natur" sind, ohne sich darüber zu äussern, was er unter
"gleicher Natur" versteht (YVAN JEANNERET, Les peines selon le nouveau code
pénal, in: Partie générale du code pénal, 2007, S. 59 ff.). Stehen sich
hingegen eine bedingte Freiheitsstrafe und eine unbedingte Geldstrafe oder
Busse gegenüber,
BGE 135 IV 126 S. 129
so befürwortet er eine Anrechnung an die Freiheitsstrafe. Zum Verhältnis der
Anrechnung von Untersuchungshaft bei gleichzeitig ausgesprochener Geldstrafe
und Übertretungsbusse äussert sich JEANNERET nicht (a.a.O.).

1.3.6 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum neuen Allgemeinen Teil
des Strafgesetzbuches muss zu entziehende Freiheit wenn immer möglich mit
bereits entzogener kompensiert werden (BGE 133 IV 150 E. 5.1 S. 155 mit
Hinweisen). Sowohl die Freiheitsstrafe als auch die Untersuchungshaft stellen
einen Eingriff in die persönliche Freiheit dar. Die Untersuchungshaft als
freiheitsentziehende Massnahme während des Strafverfahrens ist daher immer
zuerst an eine Freiheitsstrafe anzurechnen, wie dies bereits unter dem alten
Recht nach aArt. 69 StGB der Fall war, und zwar unabhängig davon, ob die Strafe
bedingt oder unbedingt ausfällt. Dasselbe ergibt sich aus den Ausführungen in
der Botschaft (vgl. E. 1.3.4, a.a.O.).

1.3.7 Bei gleichzeitiger Aussprechung einer Geldstrafe für ein Vergehen und
einer Übertretungsbusse ist die Anrechnung der Untersuchungshaft an die
Geldstrafe als Hauptstrafe vorzuziehen. Dies folgt aus dem Gesetzeswortlaut von
Art. 51 StGB, wonach der Gesetzgeber die Anrechnung von Untersuchungshaft an
eine Geldstrafe im Gegensatz zur Anrechnung an eine Busse ausdrücklich vorsieht
sowie aus der vorrangigen Anrechnung der Untersuchungshaft an die
Freiheitsstrafe als Hauptstrafe (vgl. E. 1.3.6).

1.3.8 Zu klären bleibt die Frage der Priorität der Anrechnung von
Untersuchungshaft an eine bedingte Geldstrafe in Kombination mit einer Busse
nach Art. 42 Abs. 4 StGB.
In systematischer Hinsicht sind Art. 51 StGB und Art. 42 Abs. 4 StGB im Teil
des Strafgesetzbuches eingereiht, welcher "Verbrechen und Vergehen" betrifft.
Der Gesetzgeber hat in Art. 51 StGB den Anrechnungsfaktor von Untersuchungshaft
an die Geldstrafe und die gemeinnützige Arbeit geregelt. Hätte der Gesetzgeber
die Anrechnung von Untersuchungshaft an eine sofort vollziehbare Busse nach
Art. 42 Abs. 4 StGB gegenüber der Anrechnung an die Geldstrafe bevorzugt, hätte
diese Regelung in Artikel 51 StGB Eingang finden müssen, zumal die Anrechnung
an die anderen nicht freiheitsentziehenden Strafen für Verbrechen und Vergehen
ausdrücklich geregelt ist. Eine solche Regelung fehlt aber. Hinzu kommt, dass
eine Busse nach Art. 42 Abs. 4 StGB akzessorisch zur
BGE 135 IV 126 S. 130
Geldstrafe ausgefällt wird und ihr nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
nur eine untergeordnete Bedeutung zukommen darf (BGE 134 IV 60 E. 7.3.2 S. 75).
Daher ist die Untersuchungshaft primär an die Geldstrafe als Hauptstrafe
anzurechnen.

1.3.9 Übersteigt die Untersuchungshaft die Dauer der Freiheitsstrafe bzw. die
Anzahl der Tagessätze, ist eine Anrechnung an die Busse grundsätzlich zulässig.
Dies ergibt sich aus dem Verweis von Art. 104 StGB auf Art. 51 StGB in
Verbindung mit Art. 107 Abs. 1 StGB, wonach die Anrechnung von
Untersuchungshaft an die anstelle einer Busse ausgefällte gemeinnützige Arbeit
offensteht. Deshalb muss die Anrechnung auch an eine (Übertretungs-)Busse
zulässig sein. Im Übrigen sieht der Gesetzgeber im Vergleich zum alten Recht
die Anrechnung von Untersuchungshaft an Strafen neu voraussetzungslos vor. Sie
ist gegenüber aArt. 69 StGB nicht mehr davon abhängig, dass die
Untersuchungshaft im selben Verfahren ausgestanden wurde.
Der Anrechnungsfaktor, mit welchem die Untersuchungshaft an eine Busse
anzurechnen ist, entspricht jenem Faktor, nach welchem der Richter die
Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung der Busse gemäss Art. 106
Abs. 3 StGB bestimmt.