Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 II 377



Urteilskopf

135 II 377

38. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und
Y. gegen Sicherheitsdirektion und Regierungsrat des Kantons Zürich (Beschwerde
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_295/2009 vom 25. September 2009

Regeste

Art. 51 Abs. 1 lit. b AuG; Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG i.V.m. Art. 62 lit. b
erster Satzteil AuG; Art. 96 Abs. 1 AuG; Konkretisierung des Begriffs
"längerfristige Freiheitsstrafe"; Verhältnismässigkeit des
Bewilligungswiderrufs.
Eine längerfristige Freiheitsstrafe und mithin ein Widerrufsgrund gemäss Art.
62 lit. b erster Satzteil AuG liegt dann vor, wenn eine ausländische Person zu
einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde (E. 4.2).
In jedem Fall bleibt jedoch die Verhältnismässigkeit eines Widerrufs zu prüfen.
Hierzu kann grundsätzlich weiterhin auf die ständige bundesgerichtliche Praxis
abgestellt werden, wonach einem Ausländer nach bloss kurzer Aufenthaltsdauer im
Falle einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr in
der Regel selbst dann kein Aufenthaltstitel mehr zu erteilen ist, wenn der
schweizerischen Ehepartnerin die Ausreise nicht oder nur schwer zuzumuten ist
(sog. "Reneja"-Praxis; E. 4.3 und E. 4.4).

Sachverhalt ab Seite 378

BGE 135 II 377 S. 378

A. Der 1982 geborene X., Staatsangehöriger von Guinea, ist am 31. März 2003
unter Angabe eines falschen Namens in die Schweiz eingereist. Er hat hier
gleichentags ein Asylgesuch gestellt, auf welches mit Verfügung vom 7. April
2003 nicht eingetreten wurde. In der Folge hielt sich X. illegal in der Schweiz
auf. Am 9. August 2006 heiratete er die drogenabhängige Schweizerin Y. Aufgrund
dieser Eheschliessung erhielt X. eine Aufenthaltsbewilligung, welche zuletzt
bis zum 8. Februar 2008 verlängert wurde.
X. wurde in der Schweiz wiederholt straffällig:
- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Affoltern verurteilte ihn am 30.
April 2007 wegen Widerhandlung gegen das Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) zu einer bedingt
vollziehbaren Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 30.- sowie zu einer Busse
von Fr. 100.-;
- Mit Urteil des Bezirksgerichts Affoltern vom 19. November 2007 wurde er wegen
Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz vom 3. Oktober 1951 über die
Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelgesetz; BetmG; SR
812.121) zu einer Freiheitsstrafe von 27 Monaten und einer Busse von Fr. 500.-,
als Zusatzstrafe zum Urteil des Einzelrichters in Strafsachen vom 30. April
2007, verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde im Umfang von 15
Monaten bedingt aufgeschoben; im Umfang von 12 Monaten wurde der unbedingte
Vollzug angeordnet. (...)
BGE 135 II 377 S. 379

B. Mit Verfügung vom 2. Mai 2008 lehnte das Migrationsamt des Kantons Zürich
die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von X. unter Hinweis auf dessen
Delinquenz ab. Hiergegen rekurrierten dieser sowie Y. erfolglos beim
Regierungsrat des Kantons Zürich. Eine beim Verwaltungsgericht des Kantons
Zürich eingereichte Beschwerde wurde von diesem mit Urteil vom 25. Februar 2009
abgewiesen.

C. Mit Eingabe vom 7. Mai 2009 führen X. und Y. Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie beantragen im
Wesentlichen die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Gutheissung des
Gesuchs um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von X. Eventualiter seien
"weitere Sachabklärungen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen". (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Die Ansprüche nach Art. 42 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über
die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142. 20; vgl. nicht publ. E. 1.1)
erlöschen u.a. dann, wenn Widerrufsgründe nach Art. 63 AuG vorliegen (Art. 51
Abs. 1 lit. b AuG). Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine ausländische Person
zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde (Art. 63 Abs. 1 lit.
a AuG i.V.m. Art. 62 lit. b erster Satzteil AuG).

4.2 Was unter "längerfristig" zu verstehen ist, definiert das Gesetz nicht.
Auch die Botschaft zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom
8. März 2002 schweigt sich zu dieser Frage aus (BBl 2002 3709 ff., insb. 3810).
Die vorberatende Kommission des Nationalrates erachtete diese offene
Formulierung als problematisch, da sie zu einer unterschiedlichen
Interpretation in den Kantonen und mithin zu Rechtsungleichheiten führen könne
(Votum Nationalrätin Leuthard, AB 2004 N 1089). Die Kommissionsmehrheit schlug
daher dem Nationalrat vor, den unbestimmten Begriff der "längerfristigen
Freiheitsstrafe" zu vermeiden und stattdessen die Formulierung "wenn die
Ausländerin oder der Ausländer zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten oder
wiederholt zu einer kurzen Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt wurde" in den
Gesetzestext aufzunehmen. Die eidgenössischen Räte lehnten dies jedoch
BGE 135 II 377 S. 380
aufgrund eines entsprechenden Antrags des Bundesrates ab. Dieser argumentierte
sinngemäss damit, dass der von der Kommission vorgeschlagene Wortlaut zu starr
sei, während der Begriff "längerfristig" eine flexible, den Umständen des
Einzelfalls und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit gerecht werdende
Auslegung erlaube (Votum Bundesrat Blocher, AB 2004 N 1088 f.).
In der Lehre wird dagegen die Ansicht vertreten, dass die Auslegung eines
unbestimmten Rechtsbegriffes nicht mit der Frage der Verhältnismässigkeit einer
Massnahme vermengt werden dürfe. Der Terminus "längerfristig" sei daher von der
Rechtsprechung klar und vom konkreten Anwendungsfall losgelöst zu definieren.
Hierbei rechtfertige es sich, auf einen Grenzwert von einem Jahr abzustellen,
zumal ab dieser Strafhöhe die Geldstrafe als Sanktionsart ausscheide und
ausschliesslich eine Freiheitsstrafe ausgesprochen werden könne (SPESCHA, in:
Migrationsrecht, 2. Aufl. 2009, N. 6 zu Art. 62 AuG; ZÜND/ARQUINT, Beendigung
der Anwesenheit, Entfernung und Fernhaltung, in: Ausländerrecht, Uebersax und
andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2009, Rz. 8.28).
Die genannten Lehrmeinungen überzeugen: Dass ausländerrechtliche
Fernhaltemassnahmen stets dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu genügen
haben, ergibt sich bereits aus Art. 96 Abs. 1 AuG, welcher die behördliche
Ermessensausübung regelt, sowie aus Art. 8 Ziff. 2 EMRK (vgl. dazu E. 4.3
hiernach). Es ist daher nicht erforderlich, die Auslegung von Art. 62 lit. b
erster Satzteil AuG von den Umständen des Einzelfalls abhängig zu machen.
Vielmehr erscheint es im Interesse der Rechtssicherheit und einer einheitlichen
Anwendung des Bundesrechts als geboten, den genannten Widerrufsgrund in einer
allgemeingültigen Weise zu präzisieren und einen feststehenden Grenzwert zu
bestimmen, ab wann eine Freiheitsstrafe als "längerfristig" im Sinne des
Gesetzeswortlauts zu gelten hat. Hierbei erscheinen die strafrechtlichen Normen
über das zulässige Mass der verschiedenen Sanktionen als geeigneter
Anknüpfungspunkt: Es leuchtet ein, dass eine Freiheitsstrafe kaum als
"längerfristig" zu bezeichnen ist, wenn sie sich in einem Rahmen bewegt, der
grundsätzlich auch die Verurteilung zu einer Geldstrafe zugelassen hätte.
Anders ist dagegen dort zu entscheiden, wo aufgrund des hohen Strafbedürfnisses
keine Wahlmöglichkeit zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe mehr besteht,
sondern als Sanktion zwingend eine Freiheitsstrafe auszusprechen ist. Gemäss
Art. 34 Abs. 1 StGB ist dies der Fall, wenn die Dauer der auszusprechenden
Strafe ein Jahr
BGE 135 II 377 S. 381
bzw. 360 Tage überschreitet. Ein Widerrufsgrund i.S.v. Art. 62 lit. b erster
Satzteil AuG (gegebenenfalls i.V.m. Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG) liegt daher vor,
wenn gegen eine ausländische Person eine Freiheitsstrafe von mehr als einem
Jahr ausgesprochen wurde. Ist eine verhängte Freiheitsstrafe demgegenüber von
geringerer Dauer, kann ein Bewilligungswiderruf nur (aber immerhin) gestützt
auf die subsidiär anzuwendenden Widerrufsgründe von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG
bzw. Art. 62 lit. c AuG erfolgen, d.h. wenn der Aufenthaltsberechtigte
erheblich oder wiederholt bzw. der Niedergelassene in schwerwiegender Weise
gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland
verstossen oder diese gefährdet hat, oder wenn er die innere oder die äussere
Sicherheit gefährdet.

4.3 In jedem Fall rechtfertigt sich ein Widerruf bzw. die Nichtverlängerung der
Bewilligung aber nur, wenn die jeweils im Einzelfall vorzunehmende
Interessenabwägung die entsprechende Massnahme auch als verhältnismässig
erscheinen lässt. Dabei sind namentlich die Schwere des Verschuldens, der Grad
der Integration bzw. die Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie die dem
Betroffenen und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen (vgl.
Art. 96 Abs. 1 AuG sowie die bis 31. Dezember 2007 in Kraft gewesenen Art. 11
Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum
Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAV]; Urteil
2A.451/2002 vom 28. März 2003 E. 2, nicht publ. in: BGE 129 II 215).
Die Notwendigkeit einer Verhältnismässigkeitsprüfung ergibt sich auch aus Art.
8 Ziff. 2 EMRK: Danach ist ein Eingriff in das von Art. 8 Ziff. 1 EMRK
geschützte Familienleben dann statthaft, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und
eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die
nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des
Landes, die Verteidigung der Ordnung oder zur Verhinderung von strafbaren
Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und Moral sowie der Rechte und Freiheiten
anderer notwendig erscheint. Bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8
Ziff. 2 EMRK sind - wie früher bei jener nach Art. 11 Abs. 3 ANAG - die Schwere
des begangenen Delikts, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das Verhalten des
Ausländers während dieser Periode, die Auswirkungen auf die primär betroffene
Person sowie deren familiäre Situation zu berücksichtigen. Zudem sind die Dauer
der ehelichen Beziehung und weitere Gesichtspunkte relevant, welche
Rückschlüsse auf deren Intensität zulassen
BGE 135 II 377 S. 382
(Geburt und Alter allfälliger Kinder; Kenntnis der Tatsache, dass die Beziehung
wegen der Straftat unter Umständen nicht in der Schweiz gelebt werden kann).
Von Bedeutung sind auch die Nachteile, welche dem Ehepartner oder den Kindern
erwachsen würden, müssten sie dem Betroffenen in dessen Heimat folgen (Urteil
2C_793/2008 vom 27. März 2009 E. 2.2; Urteil 2A.65/2006 vom 23. Juni 2006 E. 2
mit Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Boultif gegen Schweiz vom 2. August 2001, in: VPB 65/2001 Nr. 138 S. 1392 Rz.
48 S. 1398 f.).

4.4 Bei einem mit einer Schweizer Bürgerin verheirateten Ausländer, der
erstmals oder nach bloss kurzer Aufenthaltsdauer um die Erneuerung seiner
Bewilligung ersucht, ging das Bundesgericht in seiner ständigen Rechtsprechung
zum ANAG davon aus, dass dem Ausländer im Falle einer Verurteilung zu einer
Freiheitsstrafe von zwei Jahren in der Regel selbst dann kein Aufenthaltstitel
mehr zu erteilen ist, wenn der schweizerischen Ehepartnerin die Ausreise nicht
oder nur schwer zuzumuten ist. In einer solchen Konstellation waren
aussergewöhnliche Umstände vonnöten, um die Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung dennoch zu rechtfertigen ("Reneja"-Praxis: BGE 130 II
176 E. 4.1 S. 185; BGE 110 Ib 201).
Von dieser Rechtsprechung grundlegend abzuweichen, drängt sich auch unter
Herrschaft des seit 1. Januar 2008 in Kraft stehenden AuG nicht auf (Frage noch
offengelassen im Urteil 2C_793/2008 vom 27. März 2009). Zwar wird von der Lehre
teilweise gefordert, den Grenzwert in der oben genannten Konstellation auf drei
Jahre zu erhöhen, da die Bestimmungen des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen
revidierten allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches für Strafen bis zu dieser
Höhe immerhin noch den teilbedingten Strafvollzug zuliessen (ZÜND/ARQUINT,
a.a.O., Rz. 8.49 in fine; vgl. Art. 43 Abs. 1 StGB). Dieser Auffassung ist
indes nicht zu folgen: Dass die revidierten Bestimmungen des Strafgesetzbuches
bereits für Strafen von über zwei Jahren den vollständig bedingten Vollzug
nicht mehr zulassen, sondern höchstens noch einen teilbedingten Aufschub
erlauben, zeigt gerade, dass die Schwere des Verschuldens in diesen Fällen
bereits als so gravierend eingestuft wird, dass mindestens ein Teil der Strafe
zwingend vollzogen werden soll. So hielt das Bundesgericht in BGE 134 IV 1 E.
5.3.3 S. 11 fest: "Allerdings verknüpft das Gesetz die Frage nach der
schuldangemessenen Strafe und jene nach deren Aufschub insoweit, als es den
bedingten Strafvollzug für Strafen ausschliesst, die zwei Jahre übersteigen.
Die Notwendigkeit
BGE 135 II 377 S. 383
einer teilbedingten Freiheitsstrafe ergibt sich dann als Folge der Schwere des
Verschuldens, das sich in einer Strafhöhe zwischen zwei und drei Jahren
niederschlägt". Auch aus fremdenpolizeilicher bzw. administrativrechtlicher
Perspektive impliziert die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als
zwei Jahren in jedem Fall einen sehr schwerwiegenden Verstoss gegen die
schweizerische Rechtsordnung, weshalb sie den weiteren Verbleib des
ausländischen Straftäters in der Schweiz ausschliessen kann.
Wie bis anhin ist jedoch auch zukünftig zu beachten, dass es sich bei der
"Zweijahresregel" keinesfalls um eine feste Grenze handelt, die nicht über-
oder unterschritten werden dürfte. Vielmehr erweist sich weiterhin die Abwägung
der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen im Einzelfall als
entscheidend (BGE 120 Ib 6 E. 4b S. 14).

4.5 Zusammenfassend ergibt sich aus dem bisher Ausgeführten, dass ein
Widerrufsgrund gemäss Art. 62 lit. b erster Satzteil AuG (gegebenenfalls i.V.m.
Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG) immer dann vorliegt, wenn ein Ausländer zu einer
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde. Auch wenn ein
Widerrufsgrund vorliegt, bleibt in jedem Fall die Verhältnismässigkeit dieser
Massnahme zu prüfen. Hierzu kann grundsätzlich auf die bisherige, zum ANAG
ergangene Praxis des Bundesgerichts abgestellt werden (vgl. auch Botschaft des
Bundesrates vom 8. März 2002 zum AuG, BBl 2002 3810).