Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 II 369



Urteilskopf

135 II 369

37. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen Sicherheitsdirektion und Regierungsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_607/2008 vom 24. März 2009

Regeste

Art. 7 lit. d FZA, Art. 3 Abs. 2 lit. b Anhang I FZA, Art. 110 BGG; Anspruch
auf Familiennachzug.
Die Familiennachzugsbestimmung von Art. 3 Anhang I FZA ist anwendbar auf
Personen, die neben der schweizerischen auch über die Staatsangehörigkeit einer
anderen Vertragspartei verfügen (E. 2).
Verwandte in aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird (Art. 3 Abs. 2
lit. b Anhang I FZA): Unterhaltsbedarf und Unterstützung (E. 3.1) richten sich
bei einem seit mehreren Jahren rechtmässig in der Schweiz lebenden
Familienangehörigen nach den aktuellen Verhältnissen in der Schweiz (E. 3.2);
dem kantonalen Gericht neu unterbreitete Tatsachen - hier die
Unterhaltsgewährung - sind zu berücksichtigen (E. 3.3).

Sachverhalt ab Seite 370

BGE 135 II 369 S. 370

A. X., geboren 1. Oktober 1954, türkische Staatsangehörige, war von 1976 bis
1988 mit dem Landsmann Y. verheiratet. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor,
nämlich die Töchter A., geboren 1977, B., geboren 1979, C., geboren 1983, und
der Sohn D., geboren 1987. Bei der Scheidung wurden sämtliche Kinder unter die
elterliche Sorge der Mutter gestellt.
Der geschiedene Ehemann reiste Anfang März 1989 in die Schweiz ein und
heiratete Mitte April 1989 eine hier niedergelassene Ungarin. Aufgrund dessen
erhielt er am 26. April 1994 die Niederlassungsbewilligung. Die kinderlos
gebliebene Ehe wurde im Februar 1995 geschieden. Am 15. September 1997
heirateten Y. und X. ein zweites Mal.
Mitte Mai 2002 ersuchte Y. um Erteilung einer Einreisebewilligung für den Sohn
D. zum dauernden Verbleib beim Vater. Mitte Oktober 2003 stellte er ein Gesuch
auch um Erteilung der Aufenthaltsbewilligung für die Ehefrau, obwohl er seit
dem Jahr 2000 in der Schweiz in Wohngemeinschaft mit einer Freundin lebte. X.
wurde in der Folge die Aufenthalts-, dem Sohn die Niederlassungsbewilligung
erteilt.
Am 6. März 2004 wurde die Tochter A. in der Türkei von ihrer Schwiegermutter
getötet. Um im Prozess auszusagen, kehrte X. am 10. April 2004 in die Türkei
zurück, worauf ihr Ehemann sie und den Sohn bei der Einwohnerkontrolle L.
abmeldete, mit dem Hinweis, er habe sich von ihr getrennt. Am 26. Juni 2004
reiste indessen X. wieder in die Schweiz ein, ebenso - etwas später - der Sohn.
Nach einem ehelichen Streit suchte sie am 13. Juli 2004 ein Heim der Heilsarmee
auf. Am 8. Oktober 2004 erliess das Bezirksgericht Zürich Eheschutzmassnahmen.
Am 11. Dezember 2007 wurde die Ehe schliesslich geschieden und Y. zur Leistung
von Unterhaltsbeiträgen an seine Frau von monatlich Fr. 1'400.- für die Dauer
von fünf Jahren verpflichtet.
Die Tochter B. ist seit dem 12. Dezember 2006 mit dem italienisch-
schweizerischen Doppelbürger Z. verheiratet. In der Wohnung von Schwiegersohn
und Tochter lebt X. seit dem 15. Januar 2006.
BGE 135 II 369 S. 371

B. Mit Verfügung vom 7. April 2005 verweigerte das Migrationsamt des Kantons
Zürich X. die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Dagegen erhob sie Rekurs
an den Regierungsrat des Kantons Zürich, der diesen mit Beschluss vom 30.
Januar 2008 abwies.
Auf eine dagegen gerichtete Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons
Zürich trat dieses mit Urteil vom 11. Juni 2008 nicht ein. (...)
Das Bundesgericht heisst die von X. am 25. August 2008 gegen diesen Entscheid
erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut, hebt das
angefochtene Urteil auf und weist das Migrationsamt des Kantons Zürich an, der
Beschwerdeführerin die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Auszug aus den Erwägungen:

2. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts, welche auf das Urteil
Akrich des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (C-109/01 vom 23.
September 2003, Slg. 2003 I-9607) zurückgeht, muss sich ein
Drittstaatsangehöriger bereits rechtmässig mit einem nicht nur vorübergehenden
Aufenthaltstitel in der Schweiz oder einem anderen Vertragsstaat aufgehalten
haben, damit aus Art. 3 Anhang I des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft
und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit
(Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) ein Aufenthaltsrecht für seine
Angehörigen abgeleitet werden kann (BGE 134 II 10 E. 3; BGE 130 II 1 E. 3.6.4).
Der Gerichtshof hat sich allerdings in der Zwischenzeit von seiner
Rechtsauffassung in der Sache Akrich distanziert; das Recht auf Familiennachzug
hängt nach einem neuen Urteil nicht mehr von einem vorherigen rechtmässigen
Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ab (Urteil vom 25. Juli 2008 C-127/08 Metock,
Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen, Randnr. 58). Inwieweit diese
nach Unterzeichnung des Freizügigkeitsabkommens und ausserdem vor dem
Hintergrund zwischenzeitlich geänderter gemeinschaftsrechtlicher Parallelnormen
(Änderung der Verordnung Nr. 1612/68/EWG vom 15. Oktober 1968 durch die
Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 [ABl. L 158 vom 30. April 2004 S. 77])
ergangene Praxisänderung für die Auslegung dieses Abkommens einschlägig ist und
künftig zu
BGE 135 II 369 S. 372
berücksichtigen sein wird (vgl. Art. 16 Abs. 2 FZA und dazu BGE 130 II 1 E.
3.6.1 S. 10 f., BGE 130 II 113 E. 5.2 S. 119 f.), bedarf vorliegend keiner
näheren Betrachtung. Da die Beschwerdeführerin über eine Aufenthaltsbewilligung
für den Kanton Zürich verfügte, sich somit rechtmässig in der Schweiz aufhielt
und ihr Aufenthalt im Rahmen des Verfahrens über die Verlängerung dieser
Bewilligung auch rechtmässig blieb (vgl. Art. 1 Abs. 1 der bis zum 31. Dezember
2007 geltenden Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über
Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer [ANAV]), kann sie sich - auch nach
bisheriger Rechtsprechung - auf die Familiennachzugsbestimmungen des
Freizügigkeitsabkommens berufen (BGE 134 II 10 E. 3.1 in fine; Urteil 2A.94/
2004 vom 6. August 2004 E. 2 , in: Pra 94/2005 Nr. 15 S. 102).
Dass der Schwiegersohn der Beschwerdeführerin nebst der italienischen auch über
die schweizerische Staatsangehörigkeit verfügt, ändert nichts an der
Anwendbarkeit der Familiennachzugsbestimmungen des Freizügigkeitsabkommens. Die
Staatsangehörigkeit eines anderen Vertragsstaates ist ausreichend. Es ist nicht
Sache der Vertragsstaaten, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit
durch einen anderen Staat zu beschränken, indem ein zusätzliches Erfordernis
(Fehlen der Staatsangehörigkeit des Aufnahmestaates) eingeführt wird (in
anderem Zusammenhang Urteil des EuGH vom 2. Oktober 2003 C-148/02 Garc ia Av
ello, Slg. 2003 I-11613 Randnr. 28); ein die Geltung des Abkommens
ausschliessender rein landesinterner Sachverhalt (vgl. BGE 129 II 249 E. 4.2)
liegt jedenfalls nicht vor.

3.

3.1 Zu den Familienangehörigen, die nach Art. 3 Anhang I FZA das Recht haben,
bei einer Person Wohnung zu nehmen, die Staatsangehörige einer Vertragspartei
ist und ein Aufenthaltsrecht hat, gehören ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit
Verwandte und Verwandte des Ehegatten in aufsteigender Linie, denen Unterhalt
gewährt wird (Art. 3 Abs. 2 lit. b Anhang I FZA). Die Eigenschaft eines
Familienangehörigen, dem Unterhalt gewährt wird, ergibt sich aus einer
tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der erforderliche
Unterhalt des Familienangehörigen vom Aufenthaltsberechtigten materiell
sichergestellt wird (Urteile des EuGH vom 18. Juni 1987 316/85 Lebon, Slg. 1987
S. 2811 Randnr. 22; vom 19. Oktober 2004 C-200/02 Zhu und Chen, Slg. 2004
I-9925 Randnr. 43; vom 9. Januar 2007 C-1/05 Jia, Slg. 2007 I-1 Randnr. 35).
BGE 135 II 369 S. 373
Es kommt dabei darauf an, ob der nachzuziehende Verwandte in Anbetracht seiner
wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse
selbst zu decken, oder ob er auf zusätzliche Mittel angewiesen ist, die vom
Aufenthaltsberechtigten aufgebracht werden (Urteil Jia, Randnr. 37). Das ist
vorliegend der Fall. Das Verwaltungsgericht trifft zur Höhe der
Unterhaltsleistungen, welche der Beschwerdeführerin durch ihren Schwiegersohn
gewährt werden, zwar keine Feststellungen. Doch steht aufgrund der Vorbringen
und der Belege, welche die Beschwerdeführerin im vorinstanzlichen Verfahren
beigebracht hat, klarerweise fest, dass sie bei ihrer Tochter und dem
Schwiegersohn wohnt, welche ihr Kost und Logis gewähren; zudem liegen Belege
für die Bezahlung von Prämien für Krankenkasse sowie Selbstbehalte/Franchisen
von Fr. 6'990.- für das Jahr 2006 und von Fr. 4'234.- für das Jahr 2007 vor,
welche vom Schwiegersohn getragen worden sind. Es ist denn auch offenkundig,
dass der Unterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 1'400.-, welcher der
Beschwerdeführerin gegenüber ihrem geschiedenen Mann zusteht, für die Deckung
ihres Existenzbedarfs nicht ausreicht. In Ergänzung (Art. 105 Abs. 2 BGG) des
insoweit unvollständig und damit bundesrechtswidrig festgestellten Sachverhalts
(BGE 133 IV 293 E. 3.4.2) ist mithin davon auszugehen, dass die
Beschwerdeführerin von ihrem in der Schweiz aufenthaltsberechtigten
Schwiegersohn in erheblicher Weise unterstützt wird.

3.2 Der Regierungsrat des Kantons Zürich verneint indessen einen Anspruch auf
Familiennachzug mit der Begründung, das Freizügigkeitsabkommen setze eine
Unterhaltsgewährung vor dem beanspruchten Familiennachzug im Heimatland des
Familienangehörigen voraus. Das Verwaltungsgericht seinerseits verlangt, dass
die Unterstützungsbedürftigkeit in dem Zeitpunkt vorliege, in dem beantragt
werde, dem Gemeinschaftsangehörigen zu folgen. Die Berufung auf das Urteil des
EuGH in der Sache Jia ist indessen nicht schlüssig. In jenem Fall hat das
Gericht zwar festgehalten, der Unterhaltsbedarf des nachzuziehenden
Familienangehörigen müsse im Herkunftsland in dem Zeitpunkt bestehen, in
welchem beantragt werde, dem Gemeinschaftsangehörigen zu folgen (Urteil Jia,
Randnrn. 37 und 43). Doch sind diese Ausführungen vor dem Hintergrund des
konkreten Falles zu sehen, der dadurch gekennzeichnet war, dass sich das
nachzuziehende Familienmitglied vor Geltendmachung des Nachzugsanspruchs im
Heimatstaat aufhielt, wo es
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vom Gemeinschaftsangehörigen Unterstützung erhielt. Vorliegend lebt die
Beschwerdeführerin bereits mehrere Jahre rechtmässig in der Schweiz, weshalb
sich Unterhaltsbedarf des Familienangehörigen und Unterstützung durch den
aufenthaltsberechtigten Gemeinschaftsangehörigen zwangsläufig nach den
aktuellen Verhältnissen in der Schweiz richten. Es widerspräche dem Sinn der
Familienzusammenführung, wenn diese durch Ausreise zunächst rückgängig gemacht
werden müsste, um den Anspruch auf Familiennachzug zu begründen.

3.3 In zeitlicher Hinsicht hängt die Berücksichtigung der Unterhaltsgewährung
vom anwendbaren Verfahrensrecht ab. Das Bundesgerichtsgesetz schreibt den
Kantonen vor, dass die richterliche Vorinstanz des Bundesgerichts oder ein
vorgängig zuständiges Gericht den Sachverhalt frei prüft und das Recht von
Amtes wegen anwendet (Art. 110 BGG). Daraus folgt, dass der Sachverhalt im
gerichtlichen Verfahren zu erstellen ist, weshalb diesem Gericht auch neue
Tatsachen und Beweismittel unterbreitet werden können (KÖLZ/ BOSSHART/RÖHL,
Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl. 1999,
N. 11 zu § 52 VRG; RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und kantonale
Verwaltungsrechtspflege, 1995, S. 372; HEINER WOHLFART, Anforderungen der Art.
6 Abs. 1 EMRK und Art. 98a OG an die kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetze,
AJP 1995 S. 1431). Das Verwaltungsgericht hätte somit die Tatsache der
Unterhaltsgewährung von Bundesrechts wegen berücksichtigen müssen, auch wenn
diese nicht schon beim Amt für Migration zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung
geltend gemacht wurde, sondern erst im regierungsrätlichen Verfahren.
Steht somit in tatsächlicher Hinsicht fest, dass der Beschwerdeführerin durch
ihren Schwiegersohn Unterhalt gewährt wird, verstösst die Verweigerung der
Aufenthaltsbewilligung gegen die Regelung von Art. 3 Abs. 2 lit. b Anhang I
FZA.