Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 II 334



Urteilskopf

135 II 334

34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Eidg.
Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation gegen X. und
Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
1C_130/2009 vom 1. September 2009

Regeste

Art. 16 Abs. 3 SVG, Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; keine
Unterschreitung der Mindestdauer des Führerausweisentzugs wegen Verletzung des
Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist.
Die Mindestdauer des Führerausweisentzugs darf auch bei Verletzung des
Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist nicht unterschritten werden
(E. 2.2).
Frage offengelassen, ob im Falle einer schweren Verletzung des Anspruchs auf
Beurteilung innert angemessener Frist, der nicht in anderer Weise Rechnung
getragen werden kann, ausnahmsweise gänzlich auf eine Massnahme verzichtet
werden darf (E. 2.3).
Feststellung im Dispositiv des bundesgerichtlichen Urteils, dass der Anspruch
auf Beurteilung innert angemessener Frist verletzt worden ist (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 335

BGE 135 II 334 S. 335

A. Am 7. Mai 2006 fuhr X. innerorts auf der Zürichstrasse in Aathal-Seegräben
Richtung Uster mit einer rechtlich massgebenden Geschwindigkeit (d.h. unter
Abzug einer Sicherheitsmarge von 5 km/ h) von 80 km/h. Die zulässige
Höchstgeschwindigkeit betrug 50 km/h. Mit Strafbefehl vom 29. August 2006
auferlegte ihm die Staatsanwaltschaft See/Oberland wegen grober Verletzung der
Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG eine Busse von Fr. 1'200.-. Mit
Verfügung vom 31. Januar 2007 entzog ihm sodann die Sicherheitsdirektion des
Kantons Zürich gestützt auf Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG den
Führerausweis für drei Monate. Den gegen diese Verfügung gerichteten Rekurs
wies der Regierungsrat des Kantons Zürich mit Entscheid vom 7. Mai 2008 ab. X.
gelangte in der Folge mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons
Zürich. Das Verwaltungsgericht hiess das Rechtsmittel mit Entscheid vom 11.
Februar 2009 teilweise gut und reduzierte die Entzugsdauer auf zwei Monate. Zur
Begründung führte es eine Verletzung des Beschleunigungsgebots durch die
Vorinstanzen an. Die Dauer des Verfahrens vor der Sicherheitsdirektion von etwa
vier Monaten und jene des Verfahrens vor dem Regierungsrat von dreizehn Monaten
seien zu lang gewesen.

B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 26. März 2009
beantragt das Bundesamt für Strassen (ASTRA), der Entscheid des
Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und X. sei der Führerausweis für die Dauer
von drei Monaten zu entziehen.
BGE 135 II 334 S. 336
Das ASTRA macht geltend, der angefochtene Entscheid verletze Art. 16 Abs. 3
i.V.m. Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut. Es hebt
den angefochtenen Entscheid teilweise auf und ordnet den Entzug des
Führerausweises für die Dauer von drei Monaten an. Es stellt fest, dass die
Verwaltungsbehörden den Anspruch des Beschwerdegegners auf Beurteilung innert
angemessener Frist verletzt haben.
(Auszug)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Das beschwerdeführende Amt ist der Ansicht, dass Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG
es verbiete, die Mindestentzugsdauer von drei Monaten zu unterschreiten. Der
Beschwerdegegner erwidert, Art. 16 Abs. 3 SVG befasse sich lediglich mit
persönlichen Umständen. Die Vorschrift sei im vorliegenden Fall, wo es um eine
Verletzung des Beschleunigungsgebots gehe, nicht anwendbar und die
Unterschreitung der Mindestentzugsdauer deshalb zulässig.

2.2 Nach der früheren Rechtsprechung zu den altrechtlichen
Administrativmassnahmen konnte die Mindestentzugsdauer unterschritten und
allenfalls von der Anordnung einer Massnahme abgesehen werden, wenn seit dem
massnahmeauslösenden Ereignis verhältnismässig lange Zeit verstrichen war, sich
der Betroffene während dieser Zeit wohl verhalten hatte und ihn an der
Verfahrensdauer keine Schuld traf (BGE 120 Ib 504 E. 4e S. 510). In späteren
Entscheiden wurde die Möglichkeit, die gesetzliche Mindestentzugsdauer zu
unterschreiten, bestätigt (vgl. etwa BGE 127 II 297 E. 3d S. 300; BGE 124 II
103 E. 2a und b S. 108 f.; je mit Hinweisen).
Das Administrativmassnahmenrecht des Strassenverkehrsgesetzes wurde per 1.
Januar 2005 verschärft. Gemäss Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG darf die
Mindestentzugsdauer nun nicht mehr unterschritten werden. Ziel der Revision war
"eine einheitlichere und strengere Ahndung von schweren und wiederholten
Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften" (Botschaft vom 31. März
1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes [SVG], BBl 1999 4485). Die
besonderen Umstände des Einzelfalls, namentlich die Gefährdung der
Verkehrssicherheit, das Verschulden, der Leumund als Motorfahrzeugführer sowie
die berufliche Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen, sollen neu nur bis
zur gesetzlich
BGE 135 II 334 S. 337
vorgeschriebenen Mindestentzugsdauer berücksichtigt werden können (vgl. Art. 16
Abs. 3 Satz 1 SVG; Urteile des Bundesgerichts 1C_275/2007 vom 16. Mai 2008 E.
4.5; 6A.61/2006 vom 23. November 2006 E. 4.3 f., in: JdT 2007 I 502; 6A.38/2006
vom 7. September 2006 E. 3.1.2, in: JdT 2006 I 412; je mit Hinweisen). Zu den
bei der Festsetzung des Führerausweisentzugs zu berücksichtigenden Umständen
zählt wie unter dem früheren Recht auch die Verletzung des Anspruchs auf
Beurteilung innert angemessener Frist (Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK;
siehe auch BBl 1999 4486, wo auf die entsprechende frühere
"Bundesgerichtspraxis, eingeführt mit BGE 120 Ib 504 " hingewiesen wird).
Entsprechend kommt die Unterschreitung der Mindestentzugsdauer wegen einer
Verletzung dieses Anspruchs nicht mehr in Frage. Der angefochtene Entscheid
verletzt Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG und ist aufzuheben.

2.3 Eine andere Frage ist, ob - ebenfalls nach Massgabe des früheren Rechts -
bei einer schweren Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener
Frist, der nicht in anderer Weise Rechnung getragen werden kann, ausnahmsweise
gänzlich auf eine Massnahme verzichtet werden kann (siehe für das Strafrecht:
BGE 133 IV 158 E. 8 S. 170; Urteil 6B_801/2008 vom 12. März 2009 E. 3.5; je mit
Hinweis). Die Frage braucht nicht weiter erörtert zu werden, da hier, wo bis
zum Entscheid der Sicherheitsdirektion etwa vier und bis zu jenem des
Regierungsrats dreizehn Monate vergingen, kein solcher Fall vorliegt. Es ist
auch nicht ersichtlich, dass die zur Diskussion stehende Massnahme durch den
Zeitablauf ihrer erzieherischen Wirkung beraubt worden wäre (vgl. BGE 127 II
297 E. 3d S. 300 mit Hinweisen).

3. Die Vorinstanz hätte von einer Reduktion der Dauer des Führerausweisentzugs
absehen und es in teilweiser Gutheissung der Beschwerde bei einer Feststellung
der Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist bewenden
lassen müssen (vgl. etwa BGE 130 I 312 E. 5.3 S. 333 mit Hinweis; Urteil des
EGMR P.B. gegen Frankreich vom 1. August 2000 § 52). Das angefochtene Urteil
ist deshalb auch diesbezüglich aufzuheben und es ist festzustellen, dass der
Anspruch des Beschwerdegegners auf Beurteilung innert angemessener Frist
verletzt worden ist (Art. 107 Abs. 2 BGG). (...)