Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 II 238



Urteilskopf

135 II 238

24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Erbengemeinschaft A. und Mitb. gegen Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement
des Kantons Luzern und Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie
und Kommunikation (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten)
1C_409/2008 vom 8. April 2009

Regeste

Art. 10, 10a Abs. 2 USG, Art. 2 Abs. 1 UVPV; UVP-Pflicht bei Änderung einer
bestehenden UVP-pflichtigen Anlage.
Lärmsanierung eines Nationalstrassenabschnitts, der zwischen aufeinander
folgenden Tunneln liegt: Prüfung der UVP-Pflicht unter dem Blickwinkel des
Katastrophenschutzes (E. 3). Einbezug der Richtlinie des Bundesamts für
Strassen zur Lüftung der Strassentunnel (E. 3.3-3.5).

Sachverhalt ab Seite 238

BGE 135 II 238 S. 238
Die Nationalstrasse A2 überquert in der Stadt Luzern den Fluss Reuss auf den
sogenannten Sentibrücken. An diese Brücken schliessen sich nördlich bzw. rechts
der Reuss der Reussporttunnel und südlich bzw. links der Reuss der
Sonnenbergtunnel mit Vortunnel an.
BGE 135 II 238 S. 239
Im Bereich der Sentibrücken befindet sich zusätzlich der Halbanschluss "Luzern
Zentrum" mit der Autobahnausfahrt nach Luzern (aus Richtung Norden) und der
Autobahneinfahrt aus Luzern (in Richtung Norden). Die Abzweigung der
Autobahnausfahrt nach Luzern liegt im Reussporttunnel. Die Ausfahrt verläuft
zunächst über die Sentibrücke; daran anschliessend unterquert sie die
Transitspuren im Vortunnelbereich des Sonnenbergtunnels. Die Autobahneinfahrt
mit dem sog. Stadttunnel bzw. einer Galerie folgt dem linken Reussufer, bevor
sie auf die Sentibrücke gelangt.
Im Rahmen der Gesamterneuerung der A2 im Raum Luzern soll das selbstständige
Teilprojekt "Lärmsanierung Sentibrücken" verwirklicht werden. Bezüglich dieses
Teilprojekts unterbreitete das Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement des
Kantons Luzern (BUWD) dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr,
Energie und Kommunikation (UVEK) am 6. Dezember 2006 das Ausführungsprojekt zur
Plangenehmigung. Dieses Ausführungsprojekt sieht im Wesentlichen folgende
Massnahmen vor: Die bestehenden, drei Meter hohen Lärmschutzwände auf den
Brücken sollen durch fünf Meter hohe Wände ersetzt werden. Zwischen der
Autobahneinfahrt aus Luzern und den Transitspuren in Richtung Norden soll eine
zusätzliche, fünf Meter hohe Lärmschutzwand errichtet werden. Seitliche
Öffnungen bei der Galerie der Autobahneinfahrt sowie im Portalbereich von
Reussport-, Sonnenberg- und Stadttunnel sollen geschlossen werden, ebenso die
Lüftungsöffnungen beim Vortunnel zum Sonnenbergtunnel. Ferner soll ein
lärmarmer Fahrbahnbelag auf den Transitspuren eingebaut werden. Das Projekt war
in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Strassen (ASTRA) und dem Bundesamt für
Umwelt (BAFU) erarbeitet worden.
Während der öffentlichen Auflage des Lärmsanierungsprojekts gingen Einsprachen
aus der Anwohnerschaft ein. Am 13. September 2007 genehmigte das UVEK das
Ausführungsprojekt unter Auflagen zu Baulärm und Güte des Fahrbahnbelags. Die
Erbengemeinschaft A. und weitere Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer, die
erfolglos Einsprache erhoben hatten, fochten den Entscheid des UVEK mit
gemeinsamer Eingabe beim Bundesverwaltungsgericht an. Die Abteilung I des
Bundesverwaltungsgerichts wies die Beschwerde mit Urteil vom 10. Juli 2008 ab.
Gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts reichen die Erbengemeinschaft A.
und Mitbeteiligte beim Bundesgericht Beschwerde
BGE 135 II 238 S. 240
in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein. Sie beanstanden unter anderem,
es sei zu Unrecht auf eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) verzichtet
worden. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zu
neuem Entscheid an das UVEK zurück.
(Zusammenfassung)

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Bei Lärmsanierungsprojekten, die sich auf die Errichtung bzw. Erhöhung von
Lärmschutzwänden an einem Abschnitt einer Nationalstrasse beschränken, ist im
Regelfall keine UVP nötig. Anders verhält es sich bei der Überdeckung bzw.
Einhausung solcher Abschnitte; in solchen Fällen ist die UVP-Pflicht näher zu
prüfen, so z.B. bezüglich Luftreinhaltung, Katastrophenschutz und
Grundwasserschutz (vgl. PETER M. KELLER, UVP-Pflicht bei Änderung bestehender
UVP-pflichtigen Anlagen, 2007, S. 20 f.). Im Hinblick auf den
Katastrophenschutz gemäss Art. 10 des Umweltschutzgesetzes vom 7. Oktober 1983
(USG; SR 814.01) ist zu beachten, dass Nationalstrassen der Störfallverordnung
vom 27. Februar 1991 (StFV; SR 814.012) unterstehen (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. d
StFV in Verbindung mit Art. 1 der Durchgangsstrassenverordnung vom 18. Dezember
1991 [SR 741.272]). Im Rahmen der UVP ist eine Risikobeurteilung gemäss den
Vorgaben dieser Verordnung vorzunehmen (vgl. HANSJÖRG SEILER, in: Kommentar zum
Umweltschutzgesetz, 2. Aufl. 1999, N. 96 f. zu Art. 10 USG).

3.2 Das fragliche Vorhaben betrifft nicht nur Aufbauten auf den Sentibrücken zu
Lärmschutzzwecken. Vielmehr werden im Rahmen dieses Projekts auch mehrere
Öffnungen bei den angrenzenden Tunneln geschlossen (siehe Sachverhalt); damit
werden die ganz überdeckten Strassenbereiche geringfügig vergrössert. In diesem
Umfang sind die Veränderungen vergleichbar mit einer Einhausung. Ausserdem
rücken die zugedeckten Bereiche im Ergebnis näher aneinander heran. Nach oben
offen bleiben die Fahrspuren in der Breite des Flusses. Der Abstand zwischen
den Tunneln ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil nicht. Der Stellungnahme
des ASTRA vom 21. März 2005 ist zu entnehmen, dass eine Eindeckung der
Sentibrücken 100 Meter lang wäre, wobei die Tunnelverlängerungen gemäss
Sanierungsprojekt nicht berücksichtigt sind. Gemäss dem ergänzenden Bericht zum
Grobvariantenvergleich
BGE 135 II 238 S. 241
vom 14. Juli 2006, der unter der Projektleitung der kantonalen Dienststelle für
Verkehr und Infrastruktur verfasst wurde, liegen die Tunnelportale - unter
Berücksichtigung des Sanierungsprojekts - in einem Abstand von "nur rund 85
Metern" auseinander. Von diesem Abstand ist auszugehen. Das ASTRA hat Varianten
mit einer Überdeckung der Sentibrücken aus Überlegungen der Sicherheit beim
Reussporttunnel verworfen. Für eine derartige Tunnelverlängerung müsse bei
diesem eine Zwischendecke mit Brandklappen eingebaut werden; dies würde
unverhältnismässige Kosten verursachen. Im technischen Bericht zum
Lärmsanierungsprojekt vom 8. September 2006 wird konkret auf die Gefahr eines
Überströmens von Rauch und Brandgasen von der einen in die andere Fahrtrichtung
im Ereignisfall hingewiesen. Ebenso wird die Gefahr angesprochen, dass es
infolge der Lärmschutzmassnahmen zu einem lüftungstechnischen "Kurzschluss"
zwischen Reussport- und Sonnenbergtunnel kommen könne. Vor diesem Hintergrund
stellt sich die Frage, inwiefern das Projekt die bestehende Umweltbelastung der
Nationalstrasse im Hinblick auf die Tunnelsicherheit bzw. den
Katastrophenschutz verstärkt.

3.3 Die Beschwerdeführer bezweifeln, dass das Projekt mit der Richtlinie des
ASTRA zur Tunnellüftung vereinbar sei. Das UVEK hat dazu ausgeführt, es gebe
beim vorliegenden Projekt keinen Hinweis auf eine Abweichung von dieser
Richtlinie. Das angefochtene Urteil befasst sich mit diesem Punkt nicht. Diesem
muss jedoch im Hinblick auf die Frage der UVP-Pflicht nachgegangen werden.

3.4 Die Richtlinie des ASTRA mit dem Titel "Lüftung der Strassentunnel" in der
Fassung von 2004 (Version 1.2), Abschnitt 7.2.6, befasst sich mit der
Vermeidung von Strömungskurzschlüssen zwischen richtungsgetrennten Röhren.
Dafür genügt es gemäss dieser Vorgabe in der Regel, eine Einströmzone von 30
Metern Länge (vor der einen Röhre) durch eine ebenso lange Trennwand mit der
Höhe des Fahrraums von einer Ausströmzone (vor der anderen Röhre) abzutrennen,
während die Ausströmzone auf eine Länge von 100 Metern zu bemessen ist. Dabei
sind bei hohen Lärmschutzwänden diese Dimensionen zu vergrössern. Was die
lüftungstechnische Unabhängigkeit von zwei aufeinander folgenden Tunneln
angeht, soll der Abstand zwischen den Portalen bei Querung eines Tals
mindestens 60 Meter betragen. Ein Tunnelabstand von 200 Metern wird empfohlen
bei einer einseitigen Galerie zwischen den Tunneln.
BGE 135 II 238 S. 242
Die betreffende Richtlinie ist in der Zwischenzeit revidiert und auf den 1.
Juni 2008 in der Version 2.0 in Kraft getreten. Das angefochtene Urteil ist
nach diesem Zeitpunkt ergangen. Entsprechend der Rechtsprechung zur
Berücksichtigung der Änderung umweltrechtlicher Erlasse auf noch nicht
letztinstanzlich abgeschlossene Verfahren (vgl. BGE 133 II 181 E. 11.2.2 S. 206
mit Hinweisen) ist die neue Fassung der Richtlinie zu beachten. Abschnitt 7.2.6
gemäss der Version 2.0 enthält mit Blick auf die Kurzschlussproblematik
zwischen den Röhren desselben Tunnels unveränderte Vorgaben. Bezüglich der
Abfolge von zwei Tunneln werden die Werte indessen wie folgt angehoben: Bei
Querung eines Tals soll der Abstand zwischen den Portalen 100 Meter betragen,
BGE 133 II 200 Meter bei Führung der Strasse in einem tiefen Einschnitt
zwischen den Tunneln und 250 Meter bei einer einseitigen Galerie.
Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass die Richtlinie einen Standard festlegt.
Abweichungen zu diesen Festlegungen sollen ausdrücklich zulässig sein, wenn sie
mit projektspezifischen Besonderheiten ausreichend begründet werden (vgl.
Abschnitt 1.2 der Richtlinie in den beiden Fassungen).

3.5 Ins Gewicht fällt der Umstand, dass die Distanz zwischen den mitbetroffenen
Strassentunneln unterhalb des Grenzbereichs der Vorgaben der Richtlinie zur
Lüftung der Strassentunnel gemäss der Version 2.0 liegt, weil von einem Abstand
von nur rund 85 Metern auszugehen ist (vgl. E. 3.2 hiervor). Dies ist von
besonderer Bedeutung vor dem Hintergrund, dass der Reussporttunnel nicht
genügend lüftungstechnische Sicherheitsreserven für eine Tunnelverlängerung im
Sinne der Überdeckung der Sentibrücken aufweist (vgl. E. 3.2 hiervor). Das
Zusammenspiel der hier geplanten baulichen Massnahmen ist insgesamt als
erhebliche Verstärkung der Umweltbelastung im Hinblick auf den
Katastrophenschutz zu werten. Mit Blick auf die fragliche Richtlinie geht es
nicht um gängige Standardmassnahmen gemäss technischen Normen. Vielmehr handelt
es sich um projekt- und standortspezifische Massnahmen. Im Lichte von Art. 10a
Abs. 2 USG und Art. 2 Abs. 1 der Verordnung vom 19. Oktober 1988 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPV; SR 814.011) unterliegt die strittige
Änderung an der bestehenden Nationalstrassenanlage somit der UVP-Pflicht.
Hingegen kann es nicht einfach genügen, dass Fachbehörden wie das ASTRA und das
BAFU das konkrete Projekt für vertretbar erachten und insbesondere das BAFU
einer UVP ablehnend gegenübersteht.
BGE 135 II 238 S. 243

3.6 Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass für das Lärmsanierungsprojekt
eine UVP der 3. Stufe notwendig ist. Als diesbezüglich mangelhaft erweist sich
zur Hauptsache die Risikoeinschätzung gemäss Störfallverordnung. Wie
diesbezüglich vorzugehen ist, muss nicht im Einzelnen erörtert werden.
Jedenfalls kann auf die Behandlung von Aspekten des Katastrophenschutzes im
Rahmen einer UVP der 3. Stufe nicht verzichtet werden (vgl. dazu Bundesamt für
Umwelt, Wald und Landschaft, Bundesamt für Strassenbau, Vereinigung
Schweizerischer Verkehrsingenieure: Mitteilungen zur
Umweltverträglichkeitsprüfung Nr. 7, UVP bei Strassenverkehrsanlagen, Anleitung
zur Erstellung von UVP-Berichten, 1992, S. 70). Dass derartige Untersuchungen
vorliegend vorgenommen worden wären, ist weder behauptet noch ersichtlich.
Insoweit dringen die Beschwerdeführer mit ihrem Anliegen nach einer UVP durch.