Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 II 138



Urteilskopf

135 II 138

15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kan- tons Glarus gegen X. (Beschwerde
in öffent- lich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_271/2008 vom 8. Januar 2009

Regeste

Art. 16a Abs. 1 lit. a und Abs. 3, Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a
SVG; Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz, Abgrenzung der leichten von der
mittelschweren Widerhandlung, Verwarnung, Führerausweisentzug. Die Annahme
einer leichten Widerhandlung, bei der eine Verwarnung möglich ist, setzt
voraus, dass der Lenker eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer
hervorgerufen hat und ihn ein leichtes Verschulden trifft. Beide Elemente
müssen kumulativ gegeben sein. Fall eines Lastwagenfahrers, der mangels
genügender Aufmerksamkeit in einen vor ihm fahrenden Personenwagen geprallt
ist. Leichte Widerhandlung verneint, da der Lastwagenfahrer keine geringe
Gefahr geschaffen hat. Entzug des Führerausweises für die Dauer eines Monats
(E. 2).

Sachverhalt ab Seite 139

BGE 135 II 138 S. 139
X. ist Lastwagenchauffeur. Er besitzt den Führerausweis der Kategorie C seit
1967. Bisher wurde keine strassenverkehrsrechtliche Administrativmassnahme
gegen ihn verfügt.
Am 26. April 2006, um ca. 13.00 Uhr, fuhr der Lenker eines Personenwagens von
Netstal kommend in Richtung Oberurnen. Auf der Hauptstrasse in Näfels bremste
er vor dem Fussgängerstreifen auf der Höhe einer Garage ab, da eine
Fussgängerin die Strasse von links nach rechts überqueren wollte. In der Folge
prallte der ihm nachfolgende X. mit seinem Lastwagen in das Heck des noch
leicht rollenden Personenwagens. An den Fahrzeugen entstand ein Sachschaden von
insgesamt ca. Fr. 2'000.-. Personen wurden keine verletzt.
Mit Strafverfügung vom 7. Juli 2006 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des
Kantons Glarus X. in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG mit Fr. 200.-. Die
Verfügung ist rechtskräftig.
Am 6. November 2007 entzog das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des
Kantons Glarus (im Folgenden: Strassenverkehrsamt) X. den Führerausweis gemäss
Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG für die Dauer eines Monats.
BGE 135 II 138 S. 140
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Glarus am 21. Mai 2008 gut. Es hob den Führerausweisentzug auf und verwarnte X.
in Anwendung von Art. 16a Abs. 3 SVG.
Das Strassenverkehrsamt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei
aufzuheben und X. der Führerausweis für die Dauer von einem Monat zu entziehen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Das Strassenverkehrsamt bringt vor, weder die vom Beschwerdegegner
hervorgerufene Gefährdung der Sicherheit anderer noch sein Verschulden seien
gering. Damit könne kein leichter Fall nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG mehr
angenommen werden. Vielmehr liege ein mittelschwerer Fall nach Art. 16b Abs. 1
lit. a SVG vor. Der Führerausweis sei daher dem Beschwerdegegner gemäss Art.
16b Abs. 2 lit. a SVG für mindestens einen Monat zu entziehen.

2.2

2.2.1 Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und
schweren Widerhandlung (Art. 16a-c SVG).
Gemäss Art. 16a SVG begeht eine leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von
Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft und
ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare
Person wird verwarnt, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht
entzogen war und keine andere Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3).
Gemäss Art. 16b SVG begeht eine mittelschwere Widerhandlung, wer durch
Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft
oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung
wird der Führerausweis für mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a).
Gemäss Art. 16c SVG begeht eine schwere Widerhandlung, wer durch grobe
Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer
hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer schweren
Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens drei Monate entzogen (Abs.
2 lit. a).
BGE 135 II 138 S. 141

2.2.2 Die mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG stellt
einen Auffangtatbestand dar. Eine mittelschwere Widerhandlung liegt vor, wenn
nicht alle privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a
Abs. 1 lit. a SVG und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren
Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben sind (Urteil des
Bundesgerichts 6A.16/2006 vom 6. April 2006 E. 2.1.1, in: JdT 2006 I S. 442;
Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999
4487).

2.2.3 Gemäss Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG setzt die Annahme einer leichten
Widerhandlung voraus, dass der Lenker durch Verletzung von Verkehrsregeln eine
geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat und ihn dabei nur
ein leichtes Verschulden trifft. Nach der Rechtsprechung müssen eine geringe
Gefahr und ein leichtes Verschulden kumulativ gegeben sein (Urteile 1C_3/2008
vom 18. Juli 2008 E. 5.1; 1C_75/2007 vom 13. September 2007 E. 3.1; 6A.89/2006
vom 19. Juli 2007 E. 2.3; vgl. ebenso BGE 133 II 58 E. 5.5 S. 63). Diese
Ansicht wird im Schrifttum geteilt (CÉDRIC MIZEL, Les nouvelles dispositions
légales sur le retrait du permis de conduire, RDAF 2004 S. 388 N. 45).
Die Vorinstanz vertritt unter Hinweis auf einen Entscheid des Kassationshofes
aus dem Jahr 1999 (BGE 125 II 561) eine andere Auffassung. Danach ist selbst
bei einer grossen Verkehrsgefährdung die Annahme eines leichten Falles und
damit eine Verwarnung möglich, wenn den Lenker ein leichtes Verschulden trifft
und er über einen langjährigen ungetrübten automobilistischen Leumund verfügt
(a.a.O. E. 2 S. 565 ff.). Dieser Entscheid ist überholt. Die darin gegebene
Auslegung stützt sich auf aArt. 31 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die
Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51).
Diese Bestimmung erwähnte lediglich das Verschulden und den automobilistischen
Leumund als wesentliche Elemente zur Beurteilung des leichten Falles und
enthielt keine Anhaltspunkte, wonach die Schwere der Gefährdung als
selbständiges Beurteilungsmerkmal herangezogen werden sollte (a.a.O. E. 2a S.
566). Art. 31 VZV wurde mit der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Revision
des Strassenverkehrsrechts geändert und betrifft heute die Informationspflicht,
ist also im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr von Bedeutung. Die
Voraussetzungen einer leichten Widerhandlung, bei der eine blosse Verwarnung
BGE 135 II 138 S. 142
möglich ist, umschreibt nunmehr im Einzelnen Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG. Danach
stellt die Gefährdung der Sicherheit anderer einen wesentlichen und
eigenständigen Gesichtspunkt dar. Die Auffassung der Vorinstanz widerspricht
dem klaren Wortlaut von Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG. Nach der Rechtsprechung
darf die Auslegung vom klaren Wortlaut eines Rechtssatzes nur abweichen, wenn
triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung
wiedergibt (BGE 131 II 217 E. 2.3 S. 221 mit Hinweisen). Solche Gründe nennt
die Vorinstanz nicht und sind nicht ersichtlich. Bei Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG
handelt es sich um kein gesetzgeberisches Versehen. Wie in der Botschaft vom
31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes (a.a.O. 4489)
ausgeführt wird, ist eine mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b SVG
gegeben, wenn das Verschulden gross, die Gefährdung aber gering oder umgekehrt
das Verschulden gering und die Gefährdung gross ist. Der Gesetzgeber hat somit
bewusst dem Gesichtspunkt der Verkehrsgefährdung ein höheres Gewicht
beigemessen (vgl. dazu CÉDRIC MIZEL, De la nature renforcée par le nouveau
droit de mesure préventive et éducative du retrait admonitoire du permis de
conduire, AJP 2007 S. 1361 Ziff. VI und S. 1362 f. Ziff. 2 f.). Er hat bei der
Revision das Recht des Warnungsentzugs von strafrechtlichen Erwägungen stärker
verselbständigt und im Hinblick auf die Erhöhung der Verkehrssicherheit und
damit die weitere Senkung der Zahl der Toten und Verletzten im Strassenverkehr
- teilweise massiv - verschärft (BGE 128 II 173 E. 3c S. 177 mit Hinweis); dies
nicht nur gegenüber Rückfälligen, sondern auch gegenüber Ersttätern (BGE 133 II
331 E. 4.3 S. 336 f.). Daran ist das Bundesgericht gebunden (Art. 190 BV; BGE
132 II 234 E. 3.2 S. 238/239).

2.3 Der Führer muss das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen
Vorsichtspflichten nachkommen kann (Art. 31 Abs. 1 SVG). Er muss seine
Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden (Art. 3 Abs. 1 der
Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11]). Er hat
gegenüber allen Strassenbenützern einen ausreichenden Abstand zu wahren,
namentlich beim Hintereinanderfahren (Art. 34 Abs. 4 SVG). Auch bei
überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs muss er rechtzeitig halten
können (Art. 12 Abs. 1 VRV).
Der Beschwerdegegner hat diese Verkehrsregeln unstreitig verletzt. Bei der
polizeilichen Befragung gab er an, vor ihm sei ein
BGE 135 II 138 S. 143
Personenwagen gefahren, der kurz vor der Garage nach rechts in eine
Seitenstrasse abgebogen sei. Er habe diesem Personenwagen nachgeschaut. Deshalb
habe er nicht sofort bemerkt, dass ein anderer Personenwagen vor dem
Fussgängerstreifen abgebremst habe. Als er wieder geradeaus auf die Strasse
geschaut habe, habe er sofort eine Vollbremsung eingeleitet. Er habe eine
leichte Kollision jedoch nicht mehr verhindern können. Seiner Schuld sei er
sich bewusst.
Wie das Strassenverkehrsamt zutreffend darlegt, stellt der vom Beschwerdegegner
gelenkte Lastwagen wegen des grossen Betriebsgewichts und der senkrechten
Fahrzeugfront eine erhöhte Gefährdung dar. Die Kollision mit einem schwächeren
Verkehrsteilnehmer geht aufgrund der physikalischen Gesetze zu dessen Ungunsten
aus. Zwar wurde bei der hier zu beurteilenden Auffahrkollision niemand
verletzt. Der Beschwerdegegner ist jedoch in den vor ihm abbremsenden
Personenwagen geprallt. Damit hat er dessen Lenker konkret gefährdet. Überdies
hat er die Fussgängerin, die den Fussgängerstreifen überqueren wollte,
zumindest abstrakt gefährdet. Auffahrunfälle können insbesondere bei den
Insassen des voranfahrenden Fahrzeugs zu schweren Verletzungen führen. Das gilt
namentlich dann, wenn es sich beim hinteren Fahrzeug um einen Lastwagen
handelt. Eine typische Verletzung bei Auffahrunfällen stellt ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule dar (vgl. etwa BGE 134 III 489; BGE 130 V
35; BGE 127 V 165). Dieses kann gravierende gesundheitliche Folgen haben.
Angesichts dessen kann die vom Beschwerdegegner geschaffene Gefahr für die
Sicherheit anderer nicht mehr als leicht eingestuft werden. Die Annahme einer
leichten Widerhandlung gemäss Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG ist deshalb
ausgeschlossen.
Ob, wie das Strassenverkehrsamt geltend macht, auch das Verschulden des
Beschwerdegegners nicht mehr als leicht zu beurteilen gewesen wäre, kann
offenbleiben.

2.4 Nach dem Gesagten ist hier eine mittelschwere Widerhandlung gemäss Art. 16b
Abs. 1 lit. a SVG anzunehmen. Auf eine solche Widerhandlung erkannte das
Bundesgericht auch im Urteil 1C_75/ 2007 vom 13. September 2007, das einen
weitgehend vergleichbaren Auffahrunfall betraf (E. 3.2).
Die Bejahung einer mittelschweren Widerhandlung steht nicht in Widerspruch zur
Strafverfügung. Der Strafrichter hat den Beschwerdegegner in Anwendung von Art.
90 Ziff. 1 SVG gebüsst. Diese
BGE 135 II 138 S. 144
Bestimmung umfasst die leichte und die mittelschwere Widerhandlung (BGE 128 II
139 E. 2c S. 143; Urteil 6A.30/2002 vom 30. Juli 2002 E. 1.2).
Der Führerausweis ist dem Beschwerdegegner danach gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. a
SVG für mindestens einen Monat zu entziehen. Diese Mindestentzugsdauer darf
gemäss Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG auch bei einem Berufschauffeur nicht
unterschritten werden (BGE 132 II 234 E. 2 S. 235 ff.).
Das Strassenverkehrsamt beantragt, den Führerausweis für die Mindestdauer zu
entziehen. Darüber darf das Bundesgericht nicht hinausgehen (Art. 107 Abs. 1
BGG).
Die Sache ist somit spruchreif und das Bundesgericht kann selber entscheiden
(Art. 107 Abs. 2 BGG). Dem Beschwerdegegner wird der Führerausweis für die
Dauer eines Monats entzogen.