Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 135 III 49



Urteilskopf

135 III 49

8. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S.
Vormundschaftsbehörde Herrliberg gegen Vormundschaftsbehörde Winterthur
(Nichtigkeitsbeschwerde)
5C.196/2006 vom 14. November 2008

Regeste

Art. 315 Abs. 1 i.V.m. Art. 25 f. ZGB; Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde
am Wohnsitz des Kindes zum Vollzug gerichtlich angeordneter
Kindesschutzmassnahmen. Die vormundschaftlichen Behörden, die das
Scheidungsgericht mit der Vollziehung von Kindesschutzmassnahmen betraut,
prüfen ihre Zuständigkeit selbstständig und ungeachtet der Zuweisung im
rechtskräftigen Scheidungsurteil (E. 4). Wenn beiden Inhabern der elterlichen
Sorge die Obhut entzogen ist und die Inhaber der elterlichen Sorge nicht den
gleichen Wohnsitz haben, hat das Kind seinen Wohnsitz am Aufenthaltsort (E. 5).
Hält sich das Kind im Zeitpunkt, in dem der von den Eltern oder einem
Elternteil abgeleitete Wohnsitz entfällt, in einer Anstalt auf, kann das
Kindeswohl gebieten, nicht an einen fiktiven Wohnsitz anzuknüpfen, sondern den
Anstaltsort als Wohnsitz des Kindes gelten zu lassen (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 50

BGE 135 III 49 S. 50
R., Jahrgang 2000, und S., Jahrgang 2003, sind zwei der drei unmündigen Söhne
von A. und B. Vormundschaftsbehörden verschiedener Gemeinden mussten sich ab
dem Jahr 2001 mit Kindesschutzmassnahmen für die Geschwister befassen. Die
Ehegatten A. und B. trennten sich am 30. August 2003 und wurden zum
Getrenntleben berechtigt. Das Eheschutzgericht Winterthur stellte die beiden
Kinder R. und S. unter die elterliche Obhut der Mutter (Verfügung vom 9. Januar
2004). Am 11. November 2004 entzog die Vormundschaftsbehörde Rüdlingen (Kanton
Schaffhausen) der Kindsmutter die elterliche Obhut. Am 12. Juli 2005 platzierte
die Sozialbehörde der Gemeinde Zell (Kanton Zürich) die Kinder R. und S. auf
Dauer im Heim in Herrliberg (Kanton Zürich), wo sie sich seit dem 23. August
2005 aufhalten. Ihre Eltern als Sorgerechtsinhaber ohne Obhutsberechtigung
lebten damals an verschiedenen Adressen in Winterthur.
Am 7. März 2006 schied das Bezirksgericht Winterthur die Ehe von A. und B. Es
entzog beiden Elternteilen das Sorgerecht, stellte die drei Kinder unter
Vormundschaft und ersuchte die Vormundschaftsbehörde Winterthur, einen Vormund
zu ernennen. Das Scheidungsurteil wurde am 24. März 2006 rechtskräftig.
Die Vormundschaftsbehörde Winterthur bestritt ihre Zuständigkeit, den drei
Kindern einen Vormund zu ernennen, und bezeichnete die Vormundschaftsbehörden
am jeweiligen Aufenthaltsort der Kinder für zuständig. Die
Vormundschaftsbehörde Herrliberg wiederum verneinte ihre Zuständigkeit. Die
Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich (DJI) als
vormundschaftliche Aufsichtsbehörde zweiter Instanz wies die
Vormundschaftsbehörde Herrliberg an, für R. und S. einen Vormund zu ernennen.
Die Vormundschaftsbehörde Herrliberg hat dagegen eidgenössische
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Nichtigkeitsbeschwerde erhoben, die das Bundesgericht abweist, soweit darauf
einzutreten ist.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

4. Die Beschwerdeführerin rügt, das Scheidungsgericht habe in seinem Urteil die
Beschwerdegegnerin mit der Bezeichnung des Vormundes betraut. Da das
Scheidungsurteil in Rechtskraft erwachsen sei, sei die Zuständigkeit der
Beschwerdegegnerin rechtskräftig festgestellt. Die DJI habe als
Aufsichtsbehörde darüber nicht mehr entscheiden dürfen. Die DJI hat den Einwand
verworfen mit der Begründung, dem Scheidungsgericht komme keine
Weisungsbefugnis gegenüber Vormundschaftsbehörden zu.

4.1 Das Gericht, das nach den Bestimmungen über die Ehescheidung die
Beziehungen der Eltern zu den Kindern zu gestalten hat, ist gemäss Art. 315a
Abs. 1 ZGB auch für die Anordnung der nötigen Kindesschutzmassnahmen sachlich
zuständig, während für deren Vollzug die sachliche Zuständigkeit bei den
vormundschaftlichen Behörden liegt. Hat das Scheidungsgericht vorliegend beiden
Eltern die Sorge über die Kinder entzogen (Art. 311 Abs. 1 ZGB), erhalten die
Kinder einen Vormund (Art. 311 Abs. 2 ZGB). Die Vollziehung der
Kindesschutzmassnahme besteht darin, dass die vormundschaftlichen Behörden den
Vormund ernennen. Das Scheidungsgericht ist berechtigt und verpflichtet, die
nötigen Kindesschutzmassnahmen anzuordnen, darf aber in deren Vollziehung (z.B.
durch Bezeichnung der Person des Vormundes) nicht eingreifen (vgl. BÜHLER/
SPÜHLER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1980, N. 195 zu aArt. 156 ZGB). Die
vormundschaftlichen Behörden wiederum haben die gerichtliche Anordnung zu
vollziehen, sind aber nicht befugt, die Vollziehung zu verweigern, weil ihnen
die Kindesschutzmassnahme als ungeeignet erscheint (vgl. PHILIPPE MEIER,
Compétences matérielles du juge matrimonial et des autorités de tutelle, ZVW
2007 S. 109 ff., 115 Ziff. 17).

4.2 Aus der gesetzlichen Aufgabenteilung folgt zwingend, dass Gericht wie
vormundschaftliche Behörden ihre Zuständigkeit je von Amtes wegen zu prüfen
haben. Die Formulierung, das Gericht "betraut die vormundschaftlichen Behörden
mit dem Vollzug" (Art. 315a Abs. 1 ZGB), darf nicht dahin gehend verstanden
werden, das Gericht entscheide mit Rechtskraftwirkung auch darüber, welche
vormundschaftliche Behörde die Kindesschutzmassnahmen zu vollziehen hat. Das
Gericht hat den Vollzugsauftrag vielmehr
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den vormundschaftlichen Behörden zu erteilen, die es für zuständig hält, die
aber ihre Zuständigkeit selbstständig zu prüfen und gegebenenfalls den Auftrag
an die ihrer Ansicht nach zuständige Behörde weiterzuleiten haben. Eine
Vorwegnahme des Zuständigkeitsentscheids durch das Gericht findet nicht statt.
Das Ergebnis entspricht der Auslegung des - im Falle der Entziehung der
elterlichen Sorge gegenüber beiden Elternteilen geltenden - Art. 368 ZGB,
wonach jede unmündige Person, die sich nicht unter der elterlichen Sorge
befindet, unter Vormundschaft gehört (Abs. 1) und die Gerichte verpflichtet
sind, der zuständigen Behörde Anzeige zu machen, sobald sie in ihrer
Amtstätigkeit von dem Eintritt eines solchen Bevormundungsfalles Kenntnis
erhalten (Abs. 2). Nicht das anzeigende Scheidungsgericht legt die
Zuständigkeit verbindlich fest, sondern die benachrichtigte Behörde (vgl.
SCHNYDER/MURER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1984, N. 116 und 121 zu Art. 368
ZGB, mit Hinweisen).

4.3 Aus den dargelegten Gründen erweist sich der Einwand nicht als stichhaltig,
über die Zuständigkeit der vormundschaftlichen Behörde habe das
Scheidungsgericht bereits rechtskräftig entschieden, so dass die DJI als
Aufsichtsbehörde nicht abweichend davon die Beschwerdeführerin als zuständig
bezeichnen dürfe.

5. Im Bereich der Kindesschutzmassnahmen sind grundsätzlich die
vormundschaftlichen Behörden am Wohnsitz des Kindes örtlich zuständig (vgl.
Art. 315 Abs. 1 ZGB). Als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge gilt der
Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben,
der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen
Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz (Art. 25 Abs. 1 ZGB). Streitig
ist, wo die beiden Kinder ihren Wohnsitz haben.

5.1 Die DJI hat festgestellt, bereits im Zeitpunkt des Scheidungsurteils hätten
die Eltern der Kinder weder über einen gemeinsamen Wohnsitz noch über die Obhut
verfügt. Es ist davon ausgegangen, als Wohnsitz der beiden Kinder habe damit
deren Aufenthaltsort zu gelten, der sich in der Gemeinde Herrliberg befinde.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, der massgebende Zeitpunkt für die Bestimmung
des zivilrechtlichen Wohnsitzes sei nicht der Zeitpunkt des Entzugs der
elterlichen Sorge im Rahmen der Scheidung. Gemäss dem Urteil des Bundesgerichts
5C.274/1997 vom 12. Januar 1998 komme vielmehr dem Zeitpunkt des Obhutsentzugs
zentrale
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Bedeutung zu. Im kantonalen Verfahren hat die Beschwerdeführerin diesen Einwand
nicht erhoben. Es handelt sich um ein neues rechtliches Vorbringen, das nur
insoweit zulässig und zu prüfen ist, als der verbindlich festgestellte
Sachverhalt seine Beurteilung zulässt (Art. 74 i.V.m. Art. 63 Abs. 2 und 3 OG;
BGE 127 III 390 E. 1f S. 393; BGE 130 III 28 E. 4.4 S. 34).

5.2 In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass die Eltern der beiden Kinder
sich Ende August 2003 trennten und zum Getrenntleben berechtigt wurden. Das
Eheschutzgericht stellte die beiden Kinder unter die elterliche Obhut der
Mutter. Anschliessend entzog die Vormundschaftsbehörde Rüdlingen der
Kindsmutter die elterliche Obhut. Ab 11. November 2004 stand keinem von beiden
Elternteilen mehr die Obhut über die Kinder zu. Auf Grund der Akten und der
Darstellung der Beschwerdeführerin ist davon auszugehen, dass die Kindsmutter -
von Rüdlingen her kommend - ab 17. November 2004 an der X.strasse in Winterthur
gemeldet war, wo sie im Scheidungszeitpunkt am 7. März 2006 noch gelebt hat.
Der Vater der Kinder war ab 1. November 2003 bis am 31. August 2005 an der
Y.strasse in Winterthur gemeldet. Er hat während dieser Zeit zusätzlich über
eine Adresse an der Z.strasse in Pfungen verfügt, die aber in den
Beschwerde-Beilagen lediglich als Postadresse neben der Wohnadresse in
Winterthur vermerkt ist. Die Wohnsitzverhältnisse wurden vom Bezirksgericht
Winterthur bestätigt. Dass der Vater der Kinder seinen Wohnsitz damals in
Winterthur gehabt haben dürfte, bestätigen sodann einerseits seine Adressangabe
in zwei Verfahren vor Bundesgericht in dieser Sache und andererseits sein
Wegzug von Winterthur am 31. August 2005, der nach Pfungen erfolgte, aber nicht
an die Postadresse Z.strasse, sondern an die neue Adresse an der W.strasse, wo
er auch im Scheidungszeitpunkt am 7. März 2006 noch gelebt hat.

5.3 Soweit sich der neue rechtliche Einwand der Beschwerdeführerin anhand der
vorstehenden Angaben beurteilen lässt, führt er zu folgendem Ergebnis:

5.3.1 Spätestens ab dem 17. November 2004 bis Ende August 2005 hatten beide
Elternteile in Winterthur einen gemeinsamen Wohnsitz, den die Kinder gemäss
Art. 25 Abs. 1 ZGB (erster Halbsatz) geteilt haben. Daran ändert zum einen
nichts, dass die Elternteile an verschiedenen Adressen in Winterthur gelebt
haben und dass beiden die Obhut entzogen war. Entscheidend ist, dass beide
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Elternteile damals Inhaber der elterlichen Sorge waren und am gleichen Ort
ihren Wohnsitz hatten (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, 4. Aufl.
1999, N. 34/14 und 34/16 zu Art. 162 ZGB; vgl. BGE 133 III 305 E. 3.3.4 S. 307
mit Hinweisen). Zum anderen kommt es nicht darauf an, dass die beiden Kinder
zwischen dem 11. November 2004 (Obhutsentzug) und dem 17. November 2004
(gemeinsamer Wohnsitz der Eltern in Winterthur) noch anderswo - offenbar in
Rüdlingen - lebten, genügt doch ein kurzzeitiger Aufenthalt nicht zur
Begründung eines Wohnsitzes (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 34/19 zu Art.
162 ZGB, mit Hinweisen).

5.3.2 Die Voraussetzungen für die Anknüpfung an den gemeinsamen Wohnsitz der
Eltern im Sinne von Art. 25 Abs. 1 ZGB (erster Halbsatz) sind somit nicht im
Zeitpunkt des Obhutsentzugs im November 2004, sondern erst Ende August 2005
entfallen, als der Vater der Kinder von Winterthur wegzog. Weil in diesem
Zeitpunkt beiden Elternteilen als Inhabern der elterlichen Sorge die
Obhutsberechtigung über die Kinder bereits - seit 2004 - entzogen war, fehlte
ab Ende August 2005 jeglicher Anknüpfungspunkt im Sinne von Art. 25 Abs. 1 ZGB
(erster Halbsatz) und hatte als Wohnsitz der beiden Kinder gemäss Art. 25 Abs.
1 ZGB (zweiter Halbsatz) ihr Aufenthaltsort zu gelten (HAUSHEER/REUSSER/GEISER,
a.a.O., N. 34/18 zu Art. 162 ZGB; vgl. BGE 133 III 305 E. 3.3.1 S. 306 mit
Hinweisen), der sich in Herrliberg befand, wo die beiden Kinder ihren auf Dauer
geplanten Aufenthalt im Heim am 23. August 2005 bereits angetreten hatten.
Daran hat der spätere Entzug der elterlichen Sorge nichts mehr geändert, so
dass - mit Blick auf die verfügbaren Akten - der Wohnsitz der beiden Kinder am
Aufenthaltsort in Herrliberg angenommen werden durfte. Der Einwand der
Beschwerdeführerin erweist sich als unbegründet.

5.3.3 Im angerufenen Urteil 5C.274/1997 haben beide Elternteile während des
Scheidungsverfahrens getrennt gelebt, so dass bereits im Zeitpunkt des
Obhutsentzugs als Wohnsitz des Kindes dessen Aufenthaltsort zu gelten hatte;
später eingetretene Umstände wie der Entzug der elterlichen Gewalt konnten
deshalb keine Rolle mehr spielen (E. 2b/aa). Entgegen der Darstellung der
Beschwerdeführerin stimmt der vorliegende mit dem beurteilten Sachverhalt in
einem wesentlichen Punkt nicht überein: Während dort der Obhutsentzug gegenüber
wohnsitzmässig getrennt lebenden Inhabern der elterlichen Sorge erfolgte und
den Wohnsitz des Kindes am Aufenthaltsort bewirkte, ist hier die
wohnsitzmässige Trennung
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der Inhaber der elterlichen Sorge erst nach dem Obhutsentzug eingetreten und
massgebend dafür, dass der Aufenthaltsort der Kinder als Wohnsitz zu gelten
hat. Rechtlich besteht Übereinstimmung, dass das Kind seinen Wohnsitz am
Aufenthaltsort hat, wenn beiden Inhabern der elterlichen Sorge die Obhut
entzogen ist und die Inhaber der elterlichen Sorge nicht den gleichen Wohnsitz
haben. Die Verfügung der DJI kann insoweit nicht beanstandet werden.

6. Die Beschwerdeführerin hält die Annahme eines Wohnsitzes am Aufenthaltsort
für unzulässig, weil ein Anstaltsort nicht Aufenthaltsort sein könne. Sie
stützt ihren Einwand auf das Urteil 5C.274/1997 vom 12. Januar 1998. Dass es
sich beim Heim um eine Anstalt im Gesetzessinne handelt, steht unangefochten
fest. Die DJI hat angenommen, dass sich der Wohnsitz der Kinder bei einer
Anknüpfung am Aufenthaltsort auch dort befinde, wenn die Kinder in einer
Anstalt untergebracht seien.

6.1 Die Bestimmungen über den Wohnsitz sehen unter anderem vor, dass sich der
Wohnsitz einer Person an dem Orte befindet, wo sie sich mit der Absicht
dauernden Verbleibens aufhält (Art. 23 Abs. 1 ZGB), dass der einmal begründete
Wohnsitz einer Person bestehen bleibt bis zum Erwerbe eines neuen Wohnsitzes
(Art. 24 Abs. 1 ZGB) und dass der Aufenthalt an einem Orte zum Zweck des
Besuches einer Lehranstalt und die Unterbringung einer Person in einer
Erziehungs-, Versorgungs-, Heil- oder Strafanstalt keinen Wohnsitz begründen
(Art. 26 ZGB). Mit letzterem Vorbehalt wollte der Gesetzgeber, dass die
Anstalten beherbergenden Gemeinden nicht mit Streitigkeiten belastet werden,
die ihnen anfallen würden, wenn die Insassen am Ort der Anstalt Wohnsitz
erwerben könnten (Urteil 5C.274/1997 vom 12. Januar 1998 E. 2b/cc S. 7 f.). Im
beurteilten Fall war die Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde Sommeri am
Anstaltsort zu verneinen, weil das Kind seinen ersten Wohnsitz am
Aufenthaltsort in Kreuzlingen hatte, am Ort der Anstalt keinen solchen neu
erwerben konnte und der bisherige als weiterbestehend betrachtet werden musste
(Urteil 5C.274/1997 vom 12. Januar 1998 E. 2b/cc S. 7 f.). Der beurteilte
stimmt mit dem vorliegenden Sachverhalt insofern nicht überein, als die Kinder
hier ihren ersten, nicht mehr von den Eltern abgeleiteten Wohnsitz schon in
Herrliberg und damit am Anstaltsort hatten und nicht ihren Aufenthalt dorthin
verlegten (vgl. E. 5 hiervor). Ebenso wenig beantwortet BGE 129 I 419 Nr. 38
die Streitfrage, ob der Wohnsitz der Kinder am Aufenthaltsort auch der
Anstaltsort sein könne. Die Kinder hatten im
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beurteilten Fall ihren Wohnsitz stets am Wohnsitz der Mutter als Inhaberin der
elterlichen Sorge in Killwangen, Gansingen und schliesslich in Degersheim, aber
in keinem Zeitpunkt am Aufenthaltsort in Eggenwil. Das Bundesgericht hat
beurteilt und verneint, dass die Vormundschaftsbehörde am Aufenthalts- und
Anstaltsort in Eggenwil die Kindesschutzmassnahmen neu übernehmen und
weiterführen müsse, nachdem die Inhaberin der elterlichen Sorge von Gansingen,
wo die Vormundschaftsbehörde zuletzt dafür zuständig war, nach Degersheim
umgezogen war (BGE 129 I 419 E. 2 S. 421 ff.; vgl. BGE 133 III 305 E. 3.3.4 und
3.3.5 S. 307 f. mit Hinweisen).

6.2 Obwohl der Wortlaut darauf nicht ohne Weiteres schliessen lässt, begründet
Art. 26 ZGB nach der Rechtsprechung lediglich eine widerlegbare Vermutung,
wonach der Aufenthalt in einer Anstalt nicht bedeutet, dass auch der
Lebensmittelpunkt an den Anstaltsort verlegt wurde. Die Vermutung kann
umgestossen werden, wenn eine Person freiwillig in eine Anstalt eintritt und
sich dort im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ZGB mit der Absicht dauernden Verbleibens
aufhält. Unter dieser Voraussetzung kann die Begründung eines Wohnsitzes am
Anstaltsort bejaht werden (Urteil 5C.16/2001 vom 5. Februar 2001 E. 4a, in: Pra
90/2001 Nr. 131 S. 787 f.; BGE 131 V 59 E. 6.1 S. 65; BGE 133 V 309 E. 3.1 S.
312; BGE 134 V 236 E. 2.1 S. 239; je mit Hinweisen). In Anlehnung daran schlägt
der Bundesrat in der Revision des Vormundschaftsrechts vor, den heutigen Art.
26 ZGB aufzuheben, inhaltlich als Ergänzung in Art. 23 Abs. 1 ZGB aufzunehmen
und zu präzisieren. Gemäss dem vorgeschlagenen zweiten Halbsatz zu Art. 23 Abs.
1 ZGB begründet der Aufenthalt in einer Anstalt "für sich allein" keinen
Wohnsitz. Damit soll verdeutlicht werden, dass die betroffene Person in
gewissen Fällen an diesem Ort trotzdem ihren Lebensmittelpunkt und damit
Wohnsitz haben kann. Dies trifft laut Botschaft insbesondere bei urteilsfähigen
volljährigen Personen zu, die freiwillig in ein Alters- und Pflegeheim
eintreten, um dort den Lebensabend zu verbringen, also die Absicht haben, sich
dort dauernd aufzuhalten (Botschaft zur Änderung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7001, 7096). Die beabsichtigte
Verdeutlichung wurde in der parlamentarischen Beratung diskussionslos
angenommen (AB 2007 S 841 und AB 2008 N 1541-1543) und bestätigt, dass Art. 26
ZGB an sich nur den Grundsatz von Art. 23 Abs. 1 ZGB wiederholt, weil ein
Aufenthalt zu Sonderzwecken in der Regel keine Verschiebung des Mittelpunkts
der Lebensinteressen bedeutet (AUGUST
BGE 135 III 49 S. 57
EGGER, Zürcher Kommentar, 2. Aufl. 1930, N. 1 und 4 ff. zu Art. 26 ZGB). Sie
stützt die Auffassung der späteren Kommentatoren, dass Art. 26 ZGB als negative
Umschreibung des Wohnsitzbegriffs von Art. 23 ZGB keinen Einfluss auf den
Wohnsitz am Aufenthaltsort im Sinne der Art. 24 Abs. 2 ZGB hat (vgl. EUGEN
BUCHER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1976, N. 9, und DANIEL STAEHELIN, in: Basler
Kommentar, 3. Aufl. 2006, N. 1, je zu Art. 26 ZGB).

6.3 Weitergehend nehmen die Kommentatoren an, dass das Kind, für dessen
Wohnsitz gemäss Art. 25 Abs. 1 ZGB (zweiter Halbsatz) der Aufenthalt massgebend
ist, seinen Wohnsitz am Ort der Anstalt hat, in der es sich befindet. Die
Annahme wird damit gerechtfertigt, dass andernfalls auf einen perpetuierten und
damit völlig fiktiven Wohnsitz abgestellt werden müsste (HAUSHEER/REUSSER/
GEISER, a.a.O., N. 34/8 zu Art. 162 ZGB; STAEHELIN, a.a.O., N. 10 zu Art. 25
ZGB; vgl. auch MEIER/STETTLER, Effets de la filiation [art. 270 à 327 CC], 3.
Aufl. 2006, S. 196 Anm. 673). Sie lässt sich im Bereich der
Kindesschutzmassnahmen auch auf Art. 315 ZGB stützen, wonach - neben den
Wohnsitzbehörden (Abs. 1) - die vormundschaftlichen Behörden am Aufenthaltsort
des Kindes zuständig sind, namentlich wenn das Kind ausserhalb der häuslichen
Gemeinschaft lebt (Abs. 2). Vom Gesetzeszweck her - der möglichst klaren und
einfachen Bestimmung der zuständigen Vormundschaftsbehörde - hat dabei aber die
Behörde am Wohnsitz den Vorrang gegenüber der Behörde am Aufenthaltsort (BGE
129 I 419 E. 2.3 S. 423). Die Praxis in den Kantonen ist unterschiedlich.
Einerseits wird gestützt auf Art. 24 Abs. 1 ZGB angenommen, dass sich der
Wohnsitz der Kinder nach dem letzten Wohnsitz der Eltern oder, wenn diese
keinen gemeinsamen Wohnsitz mehr hatten, nach dem Wohnsitz des Elternteils
bestimmt, welcher vor der Anstaltsplatzierung die Obhut innehatte. Andererseits
findet sich die Praxis, wonach der Wohnsitz der Kinder, deren Eltern keinen
gemeinsamen Wohnsitz und keine Obhut haben, der Aufenthaltsort der Kinder sei,
selbst wenn dieser Aufenthalt durch einen Sonderzweck im Sinne von Art. 26 ZGB
begründet ist (vgl. Empfehlungen der Konferenz der kantonalen
Vormundschaftsbehörden vom September 2002 zur "Übertragung vormundschaftlicher
Massnahmen", ZVW 2002 S. 205 ff., 209 Anm. 10). Nicht unbeachtet bleiben darf
dabei, dass gemäss den Vorschriften des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1977 über
die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG;
SR 851.1) der Aufenthalt unmündiger Kinder
BGE 135 III 49 S. 58
- anders als derjenige Erwachsener (Art. 5 ZUG) - unter bestimmten
Voraussetzungen einen öffentlich-rechtlichen Unterstützungswohnsitz begründen
kann (Art. 7 ZUG).

6.4 Die Wohnsitzbestimmung steht hier vor dem Hintergrund, dass die heute fünf-
und achtjährigen Kinder im Zeitpunkt, als der von den Eltern abgeleitete
Wohnsitz (Winterthur) entfallen ist, bereits in der Anstalt in Herrliberg
lebten (E. 5 hiervor). Die vormundschaftlichen Behörden von Winterthur, wo der
letzte gemeinsame Wohnsitz der Eltern sich befand, oder allenfalls die
Vormundschaftsbehörde Rüdlingen, wo die Mutter der Kinder vor der Entziehung
der ihr allein zustehenden Obhut lebte, hatten mit den beiden Kindern -
abgesehen von Einzelmassnahmen - bisher nichts zu tun, zumal die
Kindesschutzmassnahmen seit mehreren Jahren von der Sozialbehörde der Gemeinde
Zell geführt wurden, die auch die Anstalt in Herrliberg gesucht und die beiden
Kinder dorthin begleitet hat. Eine Anknüpfung der vormundschaftlichen
Zuständigkeit an den Wohnsitz der Eltern oder eines Elternteils schaffte keine
klaren Verhältnisse, zumal hier - anders als in BGE 129 I 419 Nr. 38 - der
Mutter wie dem Vater nicht nur die Obhut, sondern weitergehend die elterliche
Sorge über die Kinder entzogen ist. Wie die Beschwerdeführerin belegt, waren
die beiden Kinder seit ihrer Geburt bereits in verschiedenen Pflegefamilien und
in mehreren Heimen untergebracht und leben seit ihrem Eintritt in das Heim im
August 2005 offenbar erstmals für längere Zeit im gleichen Umfeld und in
gefestigten Verhältnissen. Das Heim richtet sein Angebot denn auch an Kinder,
die in der Regel längerfristig auf eine umfassende Betreuung und Erziehung
angewiesen sind. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich nicht, an einen
fiktiven Wohnsitz anzuknüpfen. Vielmehr gebieten es die wohlverstandenen
Interessen der Kinder, dass ein Vormund am Ort ihres Aufenthalts bestellt wird,
um den direkten Kontakt zur Heimleitung und zu seinen Mündeln sowie die
unmittelbare Kontrolle der Unterbringung der Kinder zu gewährleisten. Dass dem
Gemeinwesen dadurch Kosten entstehen, ist mit Rücksicht auf das Kindeswohl,
aber auch auf Grund der Tatsache hinzunehmen, dass unter den Gemeinden durch
die wechselseitige Übernahme von vormundschaftlichen Aufgaben ohnehin ein
finanzieller Ausgleich besteht.

6.5 Aus den dargelegten Gründen kann nicht beanstandet werden, dass die DJI die
Vormundschaftsbehörde Herrliberg für zuständig erklärt hat, den beiden Kindern
den Vormund zu bezeichnen.