Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 97



Urteilskopf

134 V 97

14. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle
Bern gegen R. (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten)
9C_525/2007 vom 15. Januar 2008

Regeste

Art. 57a Abs. 1 IVG; Art. 73bis Abs. 1 IVV; Anspruch auf rechtliches Gehör;
Vorbescheidverfahren. Vor dem Erlass einer Verfügung, mit welcher eine
Invalidenrente wegen Neuberechnung des massgebenden durchschnittlichen
Jahreseinkommens rückwirkend herabgesetzt wird, ist der versicherten Person das
rechtliche Gehör zu gewähren, ohne dass ein Vorbescheidverfahren durchgeführt
werden müsste. Die Regelung des Vorbescheidverfahrens in Art. 73bis Abs. 1 IVV
ist gesetzmässig (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 98

BGE 134 V 97 S. 98
A. Mit Verfügung vom 10. Oktober 2003 sprach die IV-Stelle BernR. bei einem
Invaliditätsgrad von 55 % eine halbe Invalidenrente zuzüglich Kinderrenten ab
1. Februar 2003 zu, welche Leistungen sich im Jahr des Rentenbeginns auf
monatlich Fr. 971.- zuzüglich zwei Kinderrenten von je Fr. 388.-, d.h.
insgesamt Fr. 1'747.- beliefen. Der Berechnung des Rentenbetrags legte sie ein
massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen von Fr. 63'300.- zugrunde,
welches sich unter anderem daraus ergab, dass dem Ehegatten von R. vom 1.
August 1998 bis 31. Januar 2001 eine ganze bzw. halbe Invalidenrente ausbezahlt
worden war.
Mit Verfügungen vom 25. Oktober 2006 reduzierte die IV-Stelle Bern die Rente
des Ehegatten von R. wiedererwägungsweise auf eine halbe Härtefallrente ab 1.
August 1998 und eine Viertelsrente ab 1. Januar 2001; gleichzeitig forderte sie
zu viel bezogene Leistungen im Umfang von Fr. 47'449.- zurück. Auf Einsprache
hin hob die IV-Stelle am 8. Dezember 2006 die den Ehegatten betreffenden
Verfügungen vom 25. Oktober 2006 wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs
wiedererwägungsweise auf und erliess einen inhaltlich identischen Vorbescheid.
Mit zwei Verfügungen vom 25. Oktober 2006 reduzierte sodann die IV-Stelle den
Betrag der monatlichen Rente von R. mit Wirkung ab 1. Februar 2003 auf Fr.
946.- und die zwei bzw. ab 1. Oktober 2004 drei Kinderrenten auf je Fr. 378.-
(insgesamt Fr. 1'702.- bzw. Fr. 2'080.-) und mit Wirkung ab 1. Januar 2005 auf
Fr. 963.- zuzüglich drei Kinderrenten von je Fr. 386.- (insgesamt Fr. 2'121.-)
und machte verrechnungsweise eine Rückforderung von Fr. 2'297.- geltend. Zur
Begründung führte sie aus, mit der rückwirkenden Anpassung der Rente des
Ehegatten hätten die Berechnungsgrundlagen für die Rente von R. geändert.
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B. R. liess gegen die sie betreffenden Verfügungen vom 25. Oktober 2006
Beschwerde erheben mit dem Rechtsbegehren, die Herabsetzung der Rente inklusive
Verrechnung der Rückerstattungsforderung sei aufzuheben. Im Verlaufe des
Verfahrens stellte die IV-Stelle ein Gesuch um Sistierung des Verfahrens mit
der Begründung, dem IV-Grad des Ehemannes komme eine ausschlaggebende Rolle für
die Berechnung der Rente von R. zu; dieses wies der Instruktionsrichter am 15.
Februar 2007 ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde
mit Entscheid vom 8. Juni 2007 insoweit gut, als es die beiden Verfügungen vom
25. Oktober 2006 aufhob und die Sache zum weiteren Vorgehen im Sinne der
Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.

C. Die IV-Stelle erhebt Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des
Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass sie das
rechtliche Gehör der Versicherten nicht verletzt habe, indem sie kein
Vorbescheidverfahren durchgeführt habe.
R. lässt Abweisung der Beschwerde beantragen, während das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) auf Gutheissung schliesst.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Im Dispositiv des angefochtenen Entscheids hat die Vorinstanz die
Beschwerde insoweit gutgeheissen, als sie die beiden Verfügungen vom 25.
Oktober 2006 aufhob und die Sache zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen
an die IV-Stelle zurückwies. Formell handelt es sich dabei um einen
Rückweisungsentscheid und damit um einen Zwischenentscheid, der nur unter den
Voraussetzungen von Art. 92 oder 93 BGG selbstständig beim Bundesgericht
angefochten werden kann (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f.; BGE 133 IV 121 E. 1.3
S. 125).

1.2 Es ist indessen fraglich, ob tatsächlich ein blosser Zwischenentscheid
vorliegt:

1.2.1 Das kantonale Gericht hat die Beschwerde mit zwei selbstständigen
Begründungen gutgeheissen. Zum einen erwog es, Grundlage der angefochtenen
Verfügungen bildeten die gegenüber dem Ehegatten der Beschwerdegegnerin
erlassenen Verfügungen vom 25. Oktober 2006; allein der Umstand, dass diese
nicht in
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Rechtskraft erwachsen und nun sogar wiedererwägungsweise aufgehoben worden
seien, müsse zur Aufhebung der die (heutige) Beschwerdegegnerin betreffenden
Verfügungen führen. Zum andern erkannte es, dass vor Erlass der angefochtenen
Verfügungen ein Vorbescheidverfahren (Art. 57a IVG) hätte durchgeführt werden
müssen; soweit sich aus Art. 73^bis Abs. 1 IVV und Rz. 3013.5 des
Kreisschreibens des BSV über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI)
etwas anderes ergebe, sei dies gesetzwidrig. Demgemäss seien die Verfügungen
vom 25. Oktober 2006 aufzuheben, damit die Verwaltung nach Klärung der
Grundlagen der Leistungsherabsetzung und Gewährung des rechtlichen Gehörs im
Rahmen eines formellen Vorbescheidverfahrens neu verfüge.

1.2.2 Die erste dieser Begründungen wird von der Beschwerdeführerin mit Recht
nicht in Frage gestellt: Die Herabsetzung der Rente der Versicherten hat ihre
Grundlage einzig in der Herabsetzung der Rente des Ehegatten; sie verliert ihre
Grundlage, wenn die den Ehemann betreffende Herabsetzungsverfügung aufgehoben
wird. Zwar hat die Verwaltung nach der (aus formellen Gründen erfolgten)
Aufhebung der den Ehegatten betreffenden Verfügungen einen neuen
gleichlautenden Vorbescheid erlassen, der indessen offenbar noch nicht zu einem
rechtskräftigen Entscheid geführt hat. Es wäre denkbar gewesen, das kantonale
Verfahren zu sistieren, bis Klarheit über die Rente des Ehegatten besteht. Das
Verwaltungsgericht hat jedoch auf eine Sistierung verzichtet, wogegen nichts
einzuwenden ist und auch von der Beschwerdeführerin nichts vorgebracht wird.
Unter diesen Umständen war die Aufhebung der angefochtenen Verfügungen durch
die Vorinstanz richtig. Wenn sich im Verfahren gegen den Ehemann ergibt, dass
dessen Rente nicht (rückwirkend) herabgesetzt wird, entfällt jede Veranlassung,
über eine Herabsetzung der Rente der Beschwerdegegnerin neu zu verfügen,
ungeachtet der allenfalls missverständlichen Formulierung in E. 6 des
angefochtenen Entscheids; der kantonale Entscheid erweist sich in diesem Fall
als Endentscheid. Wird hingegen die Herabsetzung der Rente des Ehegatten
rechtskräftig, kann die Verwaltung neu über die Herabsetzung der Rente der
Beschwerdegegnerin verfügen.

1.2.3 Der angefochtene Entscheid hat demnach nicht zur Folge, dass die
Verwaltung in jedem Fall neu verfügen muss; ob eine neue Verfügung zu ergehen
hat, hängt von Umständen ab, die noch nicht feststehen. Wenn jedoch die
IV-Stelle neu verfügt, hat sie gemäss
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den vorinstanzlichen Anweisungen zuerst ein Vorbescheidverfahren durchzuführen.
Soweit unter diesen Umständen der angefochtene Entscheid als Zwischenentscheid
zu betrachten ist, hat diese aus der Sicht der Beschwerdeführerin rechtswidrige
Anweisung für die Verwaltung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zur
Folge, weshalb die Beschwerde zulässig ist (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; BGE 133
V 477 E. 5.2 S. 483 ff.).

2. Zu prüfen ist demnach, ob vor der streitigen Herabsetzungsverfügung ein
Vorbescheidverfahren durchzuführen ist.

2.1 Gemäss Art. 57a Abs. 1 IVG teilt die IV-Stelle der versicherten Person den
vorgesehenen Endentscheid über ein Leistungsbegehren oder den Entzug oder die
Herabsetzung einer bisher gewährten Leistung mittels Vorbescheid mit (Satz 1).
Die versicherte Person hat Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 42
ATSG (Satz 2). Gegenstand des Vorbescheids sind nach Art. 73^bis Abs. 1 IVV
Fragen, die in den Aufgabenbereich gemäss Art. 57 Abs. 1 lit. a-d IVG der
IV-Stellen fallen. Nicht erfasst vom Gegenstand des Vorbescheidverfahrens sind
e contrario Fragen, die in den Aufgabenbereich gemäss Art. 57 Abs. 1 lit. e und
f IVG fallen, insbesondere die Verfügungen über die Leistungen der
Invalidenversicherung (lit. e). Vorinstanz, Beschwerdeführerin und BSV gehen
übereinstimmend davon aus, dass aufgrund von Art. 73^bis Abs. 1 IVV vor der
hier streitigen Verfügung kein Vorbescheidverfahren durchgeführt werden muss.
Die Vorinstanz hält jedoch diese Verordnungsregelung für gesetzwidrig und daher
nicht anwendbar, während die Beschwerdeführerin und das BSV die
Gesetzeskonformität bejahen.

2.2 Die Vorinstanz beruft sich für ihren Standpunkt, wonach Art. 73bis Abs. 1
IVV gesetzwidrig sei, auf das grammatikalische Auslegungselement. Der in Art.
57a Abs. 1 IVG enthaltene Ausdruck "Herabsetzung einer bisher gewährten
Leistung" umfasse auch den hier vorliegenden Fall einer rein betragsmässigen
Reduktion der Rente bei unverändertem Invaliditätsgrad. Weder die historische
noch die teleologische Auslegung führten zu einem anderen Ergebnis. Des Weitern
wird ihrer Auffassung nach durch einen Verzicht auf das Vorbescheidverfahren
auch der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Nach der
Betrachtungsweise der Beschwerdeführerin, der sich das BSV anschliesst, gilt
das Vorbescheidverfahren nur für diejenigen Aufgaben, die in
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die Zuständigkeit der IV-Stellen fallen, nicht aber für die zum
Zuständigkeitsbereich der Ausgleichskassen gehörende Berechnung der Renten.
Begründet wird dieser Standpunkt vor allem mit einer historischen Auslegung:
Der Gesetzgeber habe mit dem auf den 1. Juli 2006 in Kraft getretenen Art. 57a
IVG das Vorbescheidverfahren wieder einführen wollen, wie es vor dem
Inkrafttreten des ATSG in der Invalidenversicherung bestanden habe. Dieses
Verfahren sei durchgeführt worden, bevor die Ausgleichskasse die Geldleistung
berechnet habe. Für die in den Zuständigkeitsbereich der Ausgleichskassen
fallenden Fragen habe daher kein Vorbescheidverfahren durchgeführt werden
müssen. Der Gesetzgeber habe mit dem neuen Art. 57a IVG ebenfalls wieder eine
Differenzierung nach der Zuständigkeit der IV-Stelle bzw. der Ausgleichskasse
beabsichtigt, was dem Zweck dieser Regelung entspreche, das IV-Verfahren zu
straffen und zu beschleunigen. Im Übrigen sprächen auch
Praktikabilitätsüberlegungen für diese Lösung.

2.3

2.3.1 Die Aufgaben im Zusammenhang mit der Zusprechung von Invalidenrenten sind
nach dem Gesetz zwischen den IV-Stellen und den Ausgleichskassen aufgeteilt:
Die IV-Stellen klären die versicherungsmässigen Voraussetzungen ab, bemessen
die Invalidität und verfügen über die Leistungen der Invalidenversicherung
(Art. 57 Abs. 1 lit. a, d und e IVG). Die Ausgleichskassen wirken bei der
Abklärung der versicherungsmässigen Voraussetzungen mit und berechnen die
Renten (Art. 60 Abs. 1 lit. a und b IVG). Zu prüfen ist, in welchem
ablaufmässigen und zeitlichen Verhältnis die Aufgaben von IV-Stellen und
Ausgleichskassen stehen und wo das Vorbescheidverfahren zu lokalisieren ist.

2.3.2 Nach Art. 61 IVG regelt der Bundesrat die Zusammenarbeit zwischen den
IV-Stellen und den Organen der AHV. Aus der Regelung in der Verordnung ergibt
sich folgender Ablauf: Nach Eingang der Anmeldung (Art. 40 IVV) prüft die
IV-Stelle die versicherungsmässigen Voraussetzungen und klärt den
Gesundheitszustand und die erwerblichen Verhältnisse ab (Art. 69 IVV). Danach
erlässt sie den Vorbescheid, den sie unter anderem der versicherten Person und
der Ausgleichskasse zustellt (Art. 73^bis Abs. 2 lit. a und c IVV), worauf die
Parteien Einwände vorbringen können (Art. 73^ter IVV). Nach Abschluss der
Abklärungen beschliesst die IV-Stelle über das Leistungsbegehren, wobei sie
sich in der Begründung mit den Einwänden zum Vorbescheid auseinanderzusetzen
hat (Art. 74
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IVV). Die Verfügung wird unter anderem auch der Ausgleichskasse zugestellt
(vgl. Art. 76 Abs. 1 lit. a IVV). Gemäss dieser Regelung ergeht der
Vorbescheid, bevor die Zustellung an die Ausgleichskasse erfolgt; er kann
deshalb nur diejenigen Aspekte erfassen, welche von der IV-Stelle entschieden
werden. Würde man der Auffassung der Vorinstanz folgen, wäre nicht nur Art. 73^
bis Abs. 1 IVV, sondern die ganze in der Verordnung getroffene Regelung des
Vorbescheidverfahrens gesetzwidrig. Es ist zu prüfen, ob dies zutrifft.

2.4 Nach Art. 57a Abs. 1 Satz 1 IVG teilt die IV-Stelle der versicherten Person
den vorgesehenen Endentscheid unter anderem über die Herabsetzung einer bisher
gewährten Leistung mittels Vorbescheid mit. Der Wortlaut des Gesetzes
unterscheidet nicht danach, aus welchem Grund (beispielsweise wegen Reduktion
des Invaliditätsgrades, anderer Berechnung etc.) die Leistung herabgesetzt
wird. Die Beschwerdeführerin ist jedoch der Auffassung, die Bestimmung beziehe
sich nur auf die von der IV-Stelle getroffenen Entscheide und nicht auf
diejenigen der Ausgleichskasse. Der deutsche (vgl. E. 2.1 hiervor) und der
italienische Wortlaut des Gesetzes ("L'ufficio AI comunica all'assicurato, per
mezzo di un preavviso, la decisione prevista in merito [...] alla soppressione
o riduzione della prestazione già assegnata.") zwingen nicht zu dieser
Auslegung, schliessen sie allerdings auch nicht aus. Demgegenüber sind nach dem
französischen Wortlaut nur diejenigen Entscheide gemeint, welche von der
IV-Stelle getroffen werden ("Au moyen d'un préavis, l'office AI communique à
l'assuré toute décision finale qu'il entend prendre [...] au sujet de la
suppression ou de la réduction d'une prestation déjà allouée."). Angesichts
dieses Unterschiedes in den drei sprachlichen Fassungen verbietet sich eine
Auslegung unter Berufung auf den angeblich klaren Wortlaut und es ist aufgrund
anderer Auslegungselemente nach dem wahren Sinn der Norm zu suchen.

2.5 Für die Auffassung der Beschwerdeführerin spricht die Systematik des
Gesetzes. Dieses regelt in separaten Abschnitten die IV-Stellen (Art. 54-59a
IVG) und die Ausgleichskassen (Art. 60 und 61 IVG). Die den Vorbescheid
regelnde Bestimmung des Art. 57a IVG steht im Abschnitt über die IV-Stellen und
gilt systematisch für diese.

2.6 Bestätigt wird dieses systematische Auslegungselement durch das
historische:
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2.6.1 Bis zur Normierung in Art. 57a IVG (gültig ab 1. Juli 2006) war das
Vorbescheidverfahren, welches bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) Anwendung fand, nicht
formellgesetzlich geregelt. Gemäss aArt. 73^bis Abs. 1 IVV (eingefügt mit
Änderung vom 21. Januar 1987 [AS 1987 S. 456], in der Fassung vom 15. Juni1992
[AS 1992 S. 1251],in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002 [AS 2002 S. 3721])
hatte die IV-Stelle, bevor sie über die Ablehnung eines Leistungsbegehrens oder
über den Entzug oder die Herabsetzung einer bisherigen Leistung beschloss, dem
Versicherten oder seinem Vertreter Gelegenheit zu geben, sich mündlich oder
schriftlich zur geplanten Erledigung zu äussern und die Akten seines Falles
einzusehen. Das Vorbescheidverfahren bezog sich somit nur auf diejenigen
Entscheide, die durch die IV-Stelle ergingen, nicht auf diejenigen, die durch
die Ausgleichskassen gefällt wurden.

2.6.2 Im Rahmen der am 1. Juli 2006 in Kraft getretenen 4. IV-Revision wurde
die Bestimmung des Art. 57a IVG ins Gesetz eingefügt. In der Botschaft vom 4.
Mai 2005 legte der Bundesrat einleitend dar, dass das IV-Verfahren gestrafft
werden solle, unter anderem indem das Einsprache- durch das
Vorbescheidverfahren ersetzt und damit der Zustand vor der Einführung des ATSG
wiederhergestellt werde (BBl 2005 S. 3079 ff., 3080). Zur Bestimmung des Art.
57a IVG führte er aus, vor der Einführung des Einspracheverfahrens im Bereich
der Invalidenversicherung sei der versicherten Person der voraussichtliche
Entscheid der IV-Stelle formlos mitgeteilt worden (Vorbescheid). Die betroffene
Person habe dadurch die Gelegenheit erhalten, sich zum Entscheid oder zu den
aufgeführten Beweggründen zu äussern, falls sie damit nicht einverstanden war.
Mit dem Einspracheverfahren sei den betroffenen Versicherten das rechtliche
Gehör nicht mehr vor, sondern nach Erlass der Verfügung gewährt worden. Die
hohe Zahl der im Jahr 2003 eingegangenen Einsprachen zeige aber, dass die
Akzeptanz der IV-Entscheide durch die Aufhebung des Vorbescheidverfahrens nicht
verbessert worden sei. Dies könne viel eher dadurch erreicht werden, dass die
Betroffenen vor Erlass einer Verfügung in die Ermittlung des rechtserheblichen
Sachverhalts und die im Einzelfall adäquaten Massnahmen einbezogen würden.
Dieses Vorgehen erlaube, im persönlichen Gespräch mit den betroffenen
Versicherten Unklarheiten zu beseitigen, gemeinsam verschiedene
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Eingliederungsmassnahmen zu evaluieren und gegebenenfalls die Beweggründe für
einen voraussichtlich ablehnenden oder anderslautenden Entscheid der IV-Stelle
zu erläutern. Dieses Vorgehen biete besser Gewähr, dass einerseits der
Sachverhalt richtig erhoben und andererseits der gestützt darauf getroffene
negative Entscheid von der versicherten Person akzeptiert werde (BBl 2005 S.
3084 f.).

2.6.3 In der Bundesversammlung betrachteten Befürworter wie Gegner der Vorlage
das Vorbescheidverfahren einhellig als Rückkehr zum früheren Verfahren (AB 2005
N 1368 [Voten Berichterstatterin Humbel Näf und Berichterstatter Triponez], S.
1369 ff. [Voten Robbiani, Wehrli, Huguenin, Leutenegger Oberholzer, Schenker,
Egerszegi-Obrist, Humbel Näf], AB 2005 S 1011 [Berichterstatter Kuprecht], S.
1013 f. [Voten Fetz, Forster-Vannini]). Im Ständerat führte der
Berichterstatter Kuprecht in der Detailberatung aus (AB 2005 S 1015):
"Das effektive Vorbescheidverfahren lässt sich deshalb wie folgt skizzieren:
Nach der Abklärung der Situation entscheidet sich die IV-Stelle für einen
Sachentscheid. Sie teilt dies der versicherten Person in der Form eines
Vorbescheides mit. Der versicherten Person wird, beispielsweise in den meist
strittigen Rentenfällen, eröffnet, wie die IV-Stelle das Invalideneinkommen
bewertet und auf welchen Invaliditätsgrad sie kommt. Zudem enthält der
Vorbescheid weitere wichtige Inhalte wie beispielsweise den Beginn der Rente.
Die versicherte Person kann nun in einem formlosen, einfachen und kostenlosen
Verfahren Einwendungen geltend machen. Da das Vorbescheidverfahren nicht
verrechtlicht ist, kann auch schneller und formloser reagiert werden. Die
Einwendungen können auch mündlich vorgebracht werden. Die IV-Stelle nimmt aber
so oder so kurz schriftlich Stellung.
Parallel dazu kann die IV-Stelle bei den weiteren beteiligten
Versicherungsträgern durch die sogenannte Mitteilung die koordinierte
Auszahlung der Rentenleistung einleiten. Die Ausgleichskasse kann die
Rentenberechnung sowie die Verrechnung mit allfälligen Leistungen des
Arbeitgebers, der Arbeitslosenversicherung, der Krankentaggeldversicherung, des
Sozialamtes oder weiterer beteiligter Stellen vorbereiten. In der Realität sind
derart komplexe Verrechnungssituationen heute nicht die Ausnahme, sondern der
Regelfall. Zudem kann parallel dazu die Vorsorgeeinrichtung der zweiten Säule
informiert werden.
Sobald die Einwendungen im Vorbescheidverfahren bereinigt und auch alle Fragen
um die Berechnung und Verrechnung der IV-Renten erledigt sind, kann die
IV-Stelle die eigentliche Verfügung erlassen."
Diese (sich mit der von der Beschwerdeführerin vertretenen Auffassung
deckenden) Ausführungen in den parlamentarischen B
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era tungen entsprechen der Regelung, welche der Bundesrat in der Verordnung
getroffen hat. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass die
Verordnungsbestimmung mit dem Willen des historischen Gesetzgebers
übereinstimmt.

2.7 Die Regelung in der Verordnung entspricht sodann auch dem Sinn und Zweck
des Vorbescheidverfahrens: Dieses soll eine unkomplizierte Diskussion des
Sachverhalts ermöglichen und dadurch die Akzeptanz des Entscheids bei den
Versicherten verbessern (BBl 2005 S. 3084 f., vgl. dazu E. 2.6.2; HANS-JAKOB
MOSIMANN, Vorbescheidverfahren statt Einspracheverfahren in der IV, in: SZS
2006 S. 277 ff.). Umstrittene Tatfragen stellen sich in Rentenfällen
hauptsächlich hinsichtlich der gesundheitlichen und medizinischen sowie der
erwerblichen Aspekte, bei denen die Feststellung und Würdigung des
massgeblichen Sachverhalts oft schwierig und umstritten ist. Demgegenüber
handelt es sich bei der Rentenberechnung um eine weitgehend arithmetische
Aufgabe; soweit sich dabei Fragen stellen, handelt es sich zumeist um solche
rechtlicher Natur. Dementsprechend wird die Rentenberechnung auch höchst selten
angefochten. Auch im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin nicht etwa
die Berechnung als solche, sondern die grundsätzliche Zulässigkeit der
rückwirkenden Rentenreduktion in Frage gestellt, welche einerseits vom Ausgang
des den Ehemann betreffenden Verfahrens abhängt, andrerseits eine reine
Rechtsfrage ist. Es drängt sich von der Sache her nicht auf, für die in der
Regel rein technischen und rechtlichen Fragen der Rentenberechnung ein
Vorbescheidverfahren einzuführen, welches auf die Bereinigung umstrittener und
komplexer Sachverhalte zugeschnitten ist.

2.8 Die Vorinstanz erwog, der Wegfall des Vorbescheidverfahrens dürfe nicht zur
Konsequenz haben, dass das rechtliche Gehör erstmals im Beschwerdeverfahren vor
dem kantonalen Gericht gewährt werde.

2.8.1 Nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 42 Satz 1 ATSG haben die Parteien
Anspruch auf rechtliches Gehör. Sie müssen nicht angehört werden vor
Verfügungen, die durch Einsprache anfechtbar sind (Art. 42 Satz 2 ATSG). Diese
Ausnahme kommt vorliegend nicht zum Tragen (Art. 69 Abs. 1 IVG). Wie die
Vorinstanz richtig festgestellt hat, muss daher auch vor Erlass der hier
streitigen Verfügung das rechtliche Gehör gewährt werden.
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2.8.2 Dass das rechtliche Gehör gewährt werden muss, heisst jedoch nicht, dass
ein Vorbescheidverfahren durchzuführen ist. Dieses dient zwar auch der Ausübung
des rechtlichen Gehörs, geht aber über den verfassungsrechtlichen
Mindestanspruch (Art. 29 Abs. 2 BV) hinaus, indem es Gelegenheit gibt, sich
nicht nur zur Sache, sondern auch zum vorgesehenen Endentscheid zu äussern; der
verfassungsrechtliche Mindestanspruch gibt keinen Anspruch darauf, zur
vorgesehenen Erledigung Stellung zu nehmen (BGE 125 V 401 E. 3e S. 405 zu aArt.
73^bis IVV; vgl. auch BGE 129 II 497 E. 2.2 S. 504 f.). Die Rechtsprechung hat
denn auch differenziert zwischen der Pflicht zur Durchführung des
Vorbescheidverfahrens und derjenigen zur Gewährung des rechtlichen Gehörs; das
rechtliche Gehör ist auch dann zu gewähren, wenn kein Vorbescheidverfahren
durchgeführt werden muss (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts P 38/02 vom 4.
Mai 2004, E. 4.2, betreffend Ergänzungsleistungen).

2.8.3 Wenn kein Vorbescheidverfahren durchgeführt werden muss, sind für die
Gewährleistung des rechtlichen Gehörs angemessene Formen zu suchen, welche
sowohl die verfassungsmässigen Gehörsansprüche der Betroffenen als auch das
ebenfalls verfassungsmässige Anliegen nach Erledigung innert angemessener Frist
und dasjenige nach Verwaltungsökonomie erfüllen. In diesem Sinne ist die in der
IVV und im KSVI geregelte Vorgehensweise für die Festsetzung der Rente
grundsätzlich nicht zu beanstanden: Das Vorbescheidverfahren erlaubt, die
häufig umstrittenen Fragen im Zusammenhang mit der Festlegung des
Invaliditätsgrades vor Erlass der Verfügung zu diskutieren. Die in aller Regel
nicht umstrittene Rentenberechnung kann nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens und ohne zusätzliche vorgängige Gehörsgewährung erfolgen.
Ein anderes Vorgehen drängt sich höchstens ausnahmsweise auf, wenn aus
besonderen Gründen zu erwarten ist, dass die Rentenberechnung als solche
umstritten sein könnte. Geht es hingegen um die Herabsetzung einer einmal
zugesprochenen Rente, so dürfte sich in jedem Fall eine vorherige Anhörung
aufdrängen, selbst wenn die Herabsetzung auf eine blosse Berechnungsänderung
zurückzuführen ist. Denn wie gerade der vorliegende Fall zeigt, können auch
hier die sachverhaltlichen Grundlagen der Neuberechnung umstritten sein und
liesse sich ein Beschwerdeverfahren vermeiden, wenn diese Grundlagen vor Erlass
der Verfügung abgeklärt werden.
BGE 134 V 97 S. 108

2.9

2.9.1 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass vor dem Erlass einer Verfügung,
durch welche eine Invalidenrente wegen Neuberechnung des massgebenden
durchschnittlichen Jahreseinkommens rückwirkend herabgesetzt wird, der
versicherten Person zwar das rechtliche Gehör zu gewähren ist, jedoch kein
Vorbescheidverfahren durchgeführt werden muss. In diesem Sinne ist die Regelung
des Vorbescheidverfahrens in Art. 73^bis Abs. 1 IVV gesetzmässig und die
Beschwerde insoweit begründet.

2.9.2 Es steht fest und ist unbestritten, dass die Verwaltung vor Erlass der
streitigen Verfügungen das rechtliche Gehör nicht gewährt hat, obwohl sie dies
- in angemessener Form - hätte tun sollen (E. 2.8.3). Dem in der Beschwerde
gestellten Antrag, es sei festzustellen, dass die IV-Stelle das rechtliche
Gehör der Versicherten nicht verletzte, indem sie kein Vorbescheidverfahren
durchgeführt hatte, kann daher nicht stattgegeben werden. Da die Verfügungen
ohnehin aus einem anderen Grund mit Recht aufgehoben worden sind (E. 1.2.2),
hat dies auf das Ergebnis keinen Einfluss. Es erübrigt sich daher auch zu
prüfen, ob eine Heilung des Verfahrensmangels im Beschwerdeverfahren möglich
wäre, was unter der früheren Rechtslage bei Unterlassung des
Vorbescheidverfahrens nur sehr zurückhaltend angenommen wurde (BGE 116 V 182 E.
3c S. 187; ZAK 1990 S. 520, E. 3, I 293/89; SVR 1996 IV Nr. 98 S. 297, E. 2d, I
341/95; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 584/01 vom 24. Juli 2002, E.
2, und I 223/96 vom 26. August 1996, E. 2b; Heilung zugelassen in: ZAK 1989 S.
462, E. 3c, I 440/88, und Urteil I 62/94 vom 17. August 1994, E. 4d), bei einer
Gehörsverletzung wie der hier zur Diskussion stehenden jedoch grundsätzlich
denkbar wäre. Sodann ist festzuhalten, dass die Verwaltung, wenn sie aufgrund
des Ausgangs des den Ehemann der Versicherten betreffenden Verfahrens neu
verfügt, in der konkreten Situation nicht zwingend noch einmal vorgängig die
Versicherte wird anhören müssen, nachdem sich diese bisher bereits vor zwei
Gerichtsinstanzen zur Sache äussern konnte. In diesem Sinne ist der
vorinstanzliche Entscheid zu präzisieren. So oder so ist aber die Beschwerde
auch insofern unbegründet, als darin die Aufhebung der beiden Verfügungen
beanstandet wird. Das Dispositiv des angefochtenen Entscheids ist daher nicht
zu ändern, auch kostenmässig nicht, da es bei der von der Versicherten im
vorinstanzlichen Verfahren angestrebten Aufhebung der Verfügungen bleibt.