Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 9



Urteilskopf

134 V 9

  2. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. T. gegen
IV-Stelle Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  I 246/05 vom 30. Oktober 2007

Regeste

  Art. 28 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 IVG, Art. 27 IVV (je in den bis 31.
Dezember 2002 gültig gewesenen Fassungen) sowie Art. 27bis Abs. 1 IVV (in
Kraft gestanden bis 31. Dezember 2003); Art. 16 ATSG, Art. 5 Abs. 1 IVG (in
der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung); Art. 8 Abs. 3 ATSG, Art. 28 Abs.
2bis und 2ter IVG sowie Art. 27 und 27bis IVV (je in der seit 1. Januar 2004
gültigen Fassung); Beachtung von Wechselwirkungen im Rahmen der gemischten
Invaliditätsbemessungsmethode.

  Die allfällige verminderte Leistungsfähigkeit im erwerblichen Bereich oder
im Aufgabenbereich (gemäss Art. 27 IVV [in der seit 1. Januar 2004 geltenden
Fassung]) infolge der Beanspruchung im jeweils anderen Tätigkeitsfeld ist
nur unter besonderen Voraussetzungen zu berücksichtigen (E. 7).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 7

  7.

  7.1  In BGE 125 V 146 E. 5c/dd S. 159 ff. äusserte das Eidg.
Versicherungsgericht sich dazu, ob im Rahmen der gemischten Methode eine
allfällige verminderte Leistungsfähigkeit im erwerblichen Bereich oder im
Aufgabenbereich nach Art. 5 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 in
Kraft gestandenen Fassung) infolge der Beanspruchung im jeweils anderen
Tätigkeitsfeld zu berücksichtigen ist. Die Frage wurde letztlich
offengelassen. Als Gründe gegen die Berücksichtigung wechselseitiger, auf
die Tätigkeit im jeweils anderen Bereich zurückzuführender
Leistungseinbussen führte das Gericht neben Bedenken grundsätzlicher Natur
im Zusammenhang mit dem Status der versicherten Person als hypothetisch
Voll-, Teil- oder Nichterwerbstätige die Verschiedenartigkeit der
anwendbaren Bemessungsmethoden (Einkommensvergleich, Betätigungsvergleich)
sowie praktische Schwierigkeiten der Quantifizierung an.

  7.2  Im Urteil I 156/04 vom 13. Dezember 2005, publ. in: SVR 2006 IV Nr.
42 S. 151, stellte das Eidg. Versicherungsgericht in E. 6.2 - bestätigt u.a.
durch das Urteil I 753/03 vom 6. Januar 2006, E. 7.2 - unter Hinweis auf die
bisherige Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Berücksichtigung
allfälliger Wechselwirkungen

zwischen den Aufgabenbereichen fest, dass die trotz gesundheitlicher
Beeinträchtigung noch bestehende Arbeitsfähigkeit im versicherten
Tätigkeitsbereich unverzichtbare Grundlage für die Bemessung der Invalidität
bildet. Dies gilt auch bei teilerwerbstätigen Versicherten, die sich daneben
in einem Aufgabenbereich nach Art. 5 Abs. 1 IVG und Art. 8 Abs. 3 ATSG
betätigen. Dabei hat grundsätzlich eine gleichzeitige Beurteilung der
Arbeitsunfähigkeit sowie der noch zumutbaren Tätigkeiten und Verrichtungen
in beiden Bereichen unter Berücksichtigung allfälliger Wechselwirkungen zu
erfolgen, was eine entsprechende klare Fragestellung der IV-Stellen und
Sozialversicherungsgerichte an den Arzt voraussetzt. Die gleichzeitige
Einschätzung der gesundheitlich bedingt noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit im
dargelegten Sinne ist jedoch, so das Gericht im Weiteren, nicht leicht.
Vorab besteht zwischen erwerblichem Bereich und Aufgabenbereich keine
Rangordnung in dem Sinne, dass lediglich zu fragen wäre, ob die volle
Ausschöpfung der Arbeitsfähigkeit bei der einen Tätigkeit sich bei der
anderen zusätzlich leistungsvermindernd auswirkt. Es kommt im Besonderen bei
Versicherten, die den Haushalt führen und daneben einem Teilerwerb
nachgehen, dazu, dass für die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im
erwerblichen Bereich dem Faktor Zeit eine grosse Bedeutung zukommt. Hier
bemisst sich die zu erbringende Leistung grundsätzlich nach der in einer
bestimmten Zeit verrichteten Arbeit. Demgegenüber besteht bei der Besorgung
des Haushalts in der Regel mehr Spielraum für die Einteilung der Arbeit und
auch wie sie ausgeführt wird. Verglichen mit dem erwerblichen Bereich
erscheint die Einschätzung der trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung
zumutbaren Arbeitsfähigkeit im Haushalt denn auch mit mehr Unsicherheit
behaftet und es wird darauf lediglich in Ausnahmefällen direkt abgestellt
werden können. Im Übrigen haben bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit
Fragen der Schadenminderungspflicht - zu denken ist hier in erster Linie an
die zumutbare Mitarbeit Familienangehöriger im Haushalt - ausser Acht zu
bleiben. Darüber haben die rechtsanwendenden Organe bei der Ermittlung des
Behinderungsgrades durch Betätigungsvergleich (Art. 28 Abs. 2bis IVG; vgl.
auch Art. 27 Abs. 1 IVV, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2003) zu
befinden. Der Arzt wird den aufgezeigten Unterschieden bei seiner
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im erwerblichen Bereich und im
Aufgabenbereich nach Art. 5 Abs. 1 IVG und Art. 8 Abs. 3 ATSG Rechnung
tragen, soweit möglich und quantifizierbar

unter Berücksichtigung der jeweils anderen, sich allenfalls
leistungsvermindernd auswirkenden Tätigkeit.

  7.3  Anlässlich ihrer Sitzung vom 25. Juni 2007 gemäss Art. 23 Abs. 2 und
3 BGG haben die vereinigten sozialrechtlichen Abteilungen im vorliegend zu
beurteilenden Fall die Grundsätze zur Beachtlichkeit von Wechselwirkungen
zwischen Erwerbs- und Aufgabenbereich (im Sinne des Art. 27 IVV [in der seit
1. Januar 2004 geltenden Fassung]) wie folgt präzisiert:
  7.3.1  Bei der Prüfung der Frage, ob die in den beiden Tätigkeitsbereichen
vorhandenen Belastungen einander wechselseitig beeinflussen (können), ist
namentlich deren unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Die
versicherte Person ist im Rahmen ihrer Schadenminderungspflicht gehalten, im
Umfang ihrer noch vorhandenen Leistungsfähigkeit eine dem Leiden angepasste
erwerbliche Tätigkeit auszuüben (vgl. Art. 28 Abs. 2ter IVG [eingefügt auf
1. Januar 2004] in Verbindung mit Art. 16 ATSG; BGE 130 V 97 E. 3.2 S. 99
mit Hinweisen), d.h. es ist ihr zumutbar, eine Beschäftigung zu wählen, bei
der sich die gesundheitliche Beschränkung minimal auswirkt. Die erwerbliche
Tätigkeit muss jedoch, entsprechend ihren jeweiligen Anforderungen,
grundsätzlich allein ausgeführt werden. Bezogen auf die häuslichen
Verrichtungen ist eine Wahl des Tätigkeitsgebietes demgegenüber nur
beschränkt möglich, da die mit der Haushaltführung einhergehenden Aufgaben
als solche anfallen und erledigt werden müssen. Es besteht in diesem Bereich
dafür eine grössere Freiheit in der zeitlichen Gestaltung der Arbeit und es
ist den Familienangehörigen eine gewisse Mithilfe zuzumuten (vgl. E. 7.2
hievor), womit allenfalls vorhandene Einschränkungen abgefedert werden
können. Schliesslich erscheint die Möglichkeit einer gegenseitigen
Beeinflussung geringer, je komplementärer die Anforderungsprofile der
Tätigkeitsgebiete ausgestaltet sind (beispielsweise Haushalt eher körperlich
belastend, Erwerbstätigkeit eher intellektuell).

  Damit die sich durch die schlechte Vereinbarkeit der beiden
Tätigkeitsbereiche ergebende negative gesundheitliche Auswirkung
berücksichtigt werden kann, muss sie folglich offenkundig und unvermeidbar
sein (beispielsweise körperlich anstrengende Berufs- und Haushaltsarbeit
oder psychisch belastende berufliche und familiäre Situation [kranker
Partner, behindertes Kind etc.]). Von einer vermeidbaren Wechselwirkung ist
demgegenüber nach dem Gesagten

auszugehen, wenn sie durch die - auf Grund der gesamten Umstände zumutbare -
Wahl einer anderen Erwerbstätigkeit ausgeschlossen werden kann.

  7.3.2  Wechselwirkungen sind nur dann zusätzlich zu berücksichtigen, wenn
aus den Akten erhellt, dass die Arzt- und (Haushalts-)Abklärungsberichte
nicht bereits in Kenntnis der im jeweils anderen Aufgabenbereich vorhandenen
Belastungssituation erstellt worden sind, und konkrete Anhaltspunkte
bestehen, dass eine wechselseitige Verminderung der Leistungsfähigkeit im
Sinne des in E. 7.3.1 hievor Dargelegten vorliegt, die in den vorhandenen
Berichten nicht hinreichend gewürdigt worden ist.

  7.3.3  Im hier massgeblichen Kontext beachtliche gesundheitliche
Auswirkungen vom Erwerbs- in den Haushaltsbereich können nur angenommen
werden, wenn die verbleibende Arbeitsfähigkeit im erwerblichen
Tätigkeitsgebiet voll ausgenützt wird, d.h. der - für den Gesundheitsfall
geltende - Erwerbsanteil die Arbeitsfähigkeit im Erwerbsbereich übersteigt
oder mit dieser identisch ist.

  7.3.4  Ein allfälliges reduziertes Leistungsvermögen im erwerblichen
Bereich infolge der Beanspruchung im Haushalt kann ferner lediglich für den
Fall berücksichtigt werden, dass Betreuungspflichten (gegenüber Kindern,
pflegebedürftigen Angehörigen etc.) vorhanden sind. Dies ergibt sich u.a.
daraus, dass die Reduktion des zumutbaren erwerblichen Arbeitspensums, ohne
dass die dadurch frei werdende Zeit für die Tätigkeit in einem
Aufgabenbereich nach Art. 27 IVV (in der seit 1. Januar 2004 in Kraft
stehenden Fassung) verwendet wird, für die Methode der
Invaliditätsbemessung, d.h. für die Statusfrage, ohne Bedeutung ist. Wäre
eine versicherte Person gesundheitlich in der Lage, voll erwerbstätig zu
sein, vermindert sie aber das Arbeitspensum aus freien Stücken, insbesondere
um mehr Freizeit (für Hobbys etc.) zu haben, hat dafür nicht die
Invalidenversicherung einzustehen. Allein stehende Personen werden bei einer
freiwilligen Herabsetzung des Beschäftigungsgrades nicht gleichsam
automatisch zu Teilerwerbstätigen mit einem Aufgabenbereich Haushalt neben
der Berufsausübung (BGE 131 V 51 E. 5.1.2 und 5.2 S. 53 f., je mit
Hinweisen). Ist demnach eine Haushaltführung ohne weiter gehende häusliche
Obliegenheiten wie Betreuungsaufgaben etc. nicht in jedem Fall
statusrelevant, kann auch nicht von einer dadurch verursachten, IV-rechtlich
abzugeltenden erheblichen Belastung im erwerblichen Bereich ausgegangen
werden.

  7.3.5  Allfällige Wechselwirkungen sind stets vom anteilsmässig
bedeutenderen zum weniger bedeutenderen Bereich zu berücksichtigen. Sind
beide Bereiche mit 50 % zu veranschlagen, ist sie dort beachtlich, wo sie
sich stärker auswirkt. Nicht möglich im hier zu beurteilenden Zusammenhang
ist demgegenüber, dass Wechselwirkungen kumulativ in beide Richtungen ihren
Niederschlag im Sinne einer verminderten Leistungsfähigkeit im je anderen
Tätigkeitsbereich finden, führte dies doch zu einer doppelten Gewichtung.

  7.3.6  Das in der Erwerbsarbeit oder im häuslichen Aufgabenbereich infolge
der Beanspruchung im jeweils anderen Tätigkeitsfeld reduzierte
Leistungsvermögen kann sodann nur berücksichtigt werden, wenn es offenkundig
ist und ein gewisses normales Mass überschreitet. Dessen Ermittlung hat
stets auf Grund der konkreten Gegebenheiten im Einzelfall zu erfolgen. In
Anlehnung an den so genannten leidensbedingten Abzug vom statistischen Lohn
bei der Bemessung des Invalideneinkommens von nach Eintritt des
Gesundheitsschadens keine Erwerbstätigkeit mehr ausübenden Versicherten (BGE
129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen), welcher unter Einbezug aller
jeweils in Betracht fallenden Merkmale auf insgesamt höchstens 25 % begrenzt
ist (BGE 126 V 75 E. 5b/cc S. 80; AHI 2002 S. 69 ff., E. 4b/cc, I 82/01),
erscheint vorliegend eine Limitierung der als erheblich anzusehenden
Wechselwirkungen ebenfalls sachgerecht. Da invaliditätsfremde Aspekte,
anders als beim erwähnten Leidensabzug, keine Rolle spielen, rechtfertigt
sich jedoch ein niedrigerer, auf 15 ungewichtete Prozentpunkte festgesetzter
Maximalansatz.

  7.3.7  Eine Rückweisung an die Verwaltung zur näheren Abklärung ist
schliesslich nur für den Fall angezeigt, dass das Endergebnis selbst bei
Annahme einer entsprechend verringerten Leistungsfähigkeit im einen
Tätigkeitsgebiet durch die Beanspruchung im anderen überhaupt beeinflusst
würde.