Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 306



Urteilskopf

134 V 306

36. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt
für Sozialversicherungen gegen K. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_767/2007 vom 24. Juni 2008

Regeste

Art. 52 AHVG; Art. 34, Art. 49 Abs. 4, Art. 52 und 59 ATSG; Art. 111 Abs. 1
BGG; Beiladung potenziell solidarisch Mithaftender zum Einspracheverfahren. Die
Rechtsprechung zur Beiladung im Streit um Schadenersatz nach Art. 52 AHVG
(Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 72/06 vom 16. Oktober 2006) gilt auch
für das Einspracheverfahren (E. 3). Im Falle einer zu Unrecht unterlassenen
Beiladung zum Einspracheverfahren eines allfälligen solidarisch haftenden
Schadenersatzpflichtigen hat der Betroffene nach Treu und Glauben innert
nützlicher Frist nach Kenntnis des Mangels die Eröffnung des
Einspracheentscheides zu verlangen und diesen gegebenenfalls rechtzeitig mit
Beschwerde beim zuständigen kantonalen Versicherungsgericht anzufechten (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 307

BGE 134 V 306 S. 307

A. Die 1992 gegründete Genossenschaft X. war der Ausgleichskasse des Kantons
Solothurn angeschlossen. Am 30. August 2004 wurde über die Gesellschaft der
Konkurs eröffnet. In diesem kam die Ausgleichskasse mit Fr. 81'715.70 (Fr.
83'317.- [eingegebene Beitragsforderung] - Fr. 1'601.30 [Dividende]) zu
Verlust. Mit Verfügung vom 31. Januar 2006 verpflichtete die Ausgleichskasse K.
als ehemaligen Präsidenten der Verwaltung der konkursiten Genossenschaft zur
Bezahlung von Fr. 81'715.70 Schadenersatz für entgangene Beiträge unter
solidarischer Haftung mit den übrigen sechs Mitgliedern der Verwaltung (L., A.,
H., F., R., B.). Mit Einspracheentscheid vom 7. Juni 2006 reduzierte sie den
Schadenersatzbetrag auf Fr. 67'462.35. Als solidarisch Haftende wurden neu W.,
Z., U. und S. bezeichnet. Die Einspracheverfahren betreffend die
Schadenersatzpflicht der genannten zehn ebenfalls in Anspruch genommenen
Personen endeten mit deren Entlassung aus der Haftung mangels Organstellung
resp. Organeigenschaft.

B. In Gutheissung der Beschwerde des K. hob das Versicherungsgericht des
Kantons Solothurn den Einspracheentscheid vom 7. Juni 2006 auf. Es begründete
dies damit, die Ausgleichskasse habe es unterlassen, den
Schadenersatzpflichtigen zu den Einspracheverfahren der übrigen zehn in
Anspruch genommenen Personen beizuladen, was eine nicht heilbare Verletzung des
rechtlichen Gehörs darstelle (Entscheid vom 24. September 2007).

C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen erhebt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid
vom 24. September 2007 sei aufzuheben.
BGE 134 V 306 S. 308
Die Ausgleichskasse schliesst sich dem Antrag der Aufsichtsbehörde an. Das
kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde, ebenso K., soweit auf
das Rechtsmittel einzutreten sei.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Die Vorinstanz hat eine Schadenersatzpflicht des Beschwerdegegners nach Art.
52 AHVG mit folgender Begründung verneint: Die Ausgleichskasse habe auch gegen
zehn weitere Personen, u.a. die übrigen sechs im Handelsregister eingetragenen
Mitglieder der Verwaltung der in Konkurs gegangenen Genossenschaft,
Schadenersatzverfügungen erlassen, diese jedoch alle auf Einsprache hin von der
Haftung befreit. Dadurch stehe der Beschwerdeführer als Alleinverantwortlicher
da, was seine Rechtsstellung unmittelbar und erheblich beeinträchtige. Ihm
hätte daher vor einer Änderung in der Solidarhaftung das rechtliche Gehör
gewährt werden müssen in Form einer Beiladung in den Einspracheverfahren der
übrigen zehn Personen. Die Unterlassung dieser Beiladung stelle eine
Gehörsverletzung dar. Eine Behebung des Mangels sei indessen auch mit einer
Rückweisung an die Ausgleichskasse nicht mehr möglich, da die übrigen
Einspracheverfahren inzwischen abgeschlossen seien. Der Beschwerdeführer wäre
nach Art. 59 ATSG (SR 830.1) zur Anfechtung der freisprechenden
Einspracheentscheide legitimiert gewesen, was ihm mangels Zustellung jedoch
verunmöglicht worden sei. Dieser Eröffnungsfehler dürfe sich nicht zu seinem
Nachteil auswirken. Die Einspracheentscheide nachträglich zu eröffnen und das
Beschwerderecht zuzubilligen, sei aufgrund des Vertrauens der anderen
Beteiligten, dass die Angelegenheit erledigt sei und sie keine Haftpflicht
treffe, nicht mehr möglich. Diese Verwaltungsakte seien daher rechtskräftig.
Könne aber die Gehörsverletzung nicht mehr geheilt werden, bleibe nichts
anderes übrig, als auch den Beschwerdeführer vollumfänglich von der
Schadenersatzpflicht zu befreien.

3.

3.1 Nach der Rechtsprechung haften mehrere nach Art. 52 AHVG
Schadenersatzpflichtige solidarisch. Die solidarische Haftung erlaubt der
Ausgleichskasse, gegen alle oder lediglich einige von ihnen, allenfalls nur
einen einzelnen, vorzugehen (BGE 119 V 86 E. 5a S. 87; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 365/01 vom 15.
BGE 134 V 306 S. 309
April 2002, E. 3a mit Hinweisen). Die Haftung mehrerer ändert zwar nichts
daran, dass der einzelne gegenüber der Ausgleichskasse den ganzen von ihm zu
verantwortenden Betrag schuldet. Die rechtliche und tatsächliche Stellung eines
Schadenersatzpflichtigen wird aber dadurch verändert, dass er gegebenenfalls
gegen allfällige Mithaftende regressieren kann (vgl. BGE 132 III 523) oder die
Ausgleichskasse möglicherweise die Forderung zuerst gegen andereMithaftende
vollstreckt. Er hat daher ein rechtliches und faktisches Interesse daran, dass
neben ihm auch andere Personen für haftbar erklärt werden. Dieses Interesse
kann es rechtfertigen, den in Anspruch Genommenen auch an Verfahren gegen
andere potenziell Schadenersatzpflichtige zu beteiligen.

3.2 Die I. Kammer des Eidg. Versicherungsgerichts fasste am 14. Dezember 1984
den Grundsatzbeschluss, dass schadenersatzpflichtige Arbeitgeberorgane, die
getrennt oder miteinander Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben, gemäss Art.
110 Abs. 1 OG (in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2006) gegenseitig zur
Vernehmlassung einzuladen sind. Dies gilt gemäss der mit
Gesamtgerichtsbeschluss des Eidg. Versicherungsgerichts vom 22. August 2006 im
Urteil H 72/06 vom 16. Oktober 2006 ausdrücklich bestätigten Rechtsprechung
auch für das Verfahren vor den kantonalen Sozialversicherungsgerichten. Diese
haben in einem Streit um Schadenersatz nach Art. 52 AHVG andere von der
Ausgleichskasse für die gleiche Schadenersatzsumme belangte Solidarschuldner
als Mitinteressierte beizuladen, und zwar sowohl wenn gegen diese das Verfahren
noch hängig ist, als auch wenn deren Haftung bereits rechtskräftig feststeht
(SVR 2007 AHV Nr. 2 S. 5, E. 2.2, H 72/06 mit Hinweisen; Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts H 47/06 vom 11. Dezember 2006, E. 4.2, und H 68/01 vom
23. April 2002, E. 2b). Der ins Recht Gefasste kann jedoch nicht potenziell
mithaftenden Dritten, welche von der Ausgleichskasse nicht in Anspruch genommen
wurden, den Streit verkünden (BGE 112 V 261 E. 2c S. 263; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 327/98 vom 30. Juni 2000, E. 3a). Stellt hingegen das
Sozialversicherungsgericht die Haftung nur eines von mehreren ins Recht
gefassten Arbeitgeberorganen fest, hat die betroffene Person ein
schützenswertes Interesse daran, den kantonalen Entscheid insofern anzufechten,
als er eine Haftung der übrigen von der Ausgleichskasse in Anspruch Genommenen
verneint (BGE 119 V 86 E. 5b S. 87).
BGE 134 V 306 S. 310

3.2.1 Im Fall H 72/06 hatte das kantonale Verwaltungsgericht es unterlassen,
einen Dritten, der die Schadenersatzverfügung akzeptiert hatte, zum Verfahren
beizuladen. Das Eidg. Versicherungsgericht sah darin einen formellen Mangel,
der indessen durch Beiladung des Betroffenen im letztinstanzlichen Verfahren
behoben werden könne (E. 2.4). Eine solche Heilung war ohne weiteres möglich:
Der Dritte war bereits rechtskräftig zur Bezahlung von Schadenersatz
verpflichtet. Er konnte im Verfahren gegen den damaligen Beschwerdeführer, der
seine eigene Haftung bestritt, allenfalls gewisse Argumente oder Aspekte
einbringen, die aber auf seine eigene Verantwortlichkeit von vornherein keinen
Einfluss mehr haben und daher auch eine allfällige Regressforderung des nunmehr
in Anspruch Genommenen gegen ihn nicht mehr beeinträchtigen konnten. Hier
verhält es sich jedoch umgekehrt: Die zehn ebenfalls in Anspruch genommenen
Personen sind durch Einspracheentscheid von der Haftung befreit worden, ohne
dass der Beschwerdegegner eine Anfechtungsmöglichkeit gehabt hätte. Er hat
dadurch potenziell Mithaftende verloren, was seine rechtliche und faktische
Stellung verschlechterte.

3.2.2 Im Fall H 68/01 hatte das kantonale Sozialversicherungsgericht einen
Dritten, der selber nicht Einspruch gegen die ihn betreffende
Schadenersatzverfügung erhoben hatte, nicht zum Prozess gegen zwei ebenfalls
ins Recht gefasste Personen, welche ihre Schadenersatzpflicht bestritten,
beigeladen. Das Gericht verneinte eine Verantwortlichkeit des einen Beklagten
und reduzierte die vom anderen Beklagten geschuldete Schadenersatzsumme um mehr
als einen Drittel. Damit habe es, so das Eidg. Versicherungsgericht, die
gegenüber dem Dritten definitiv angeordnete Solidarhaftung neben den beiden
Beklagten verändert, wodurch dessen Rechtsstellung unmittelbar und erheblich
beeinträchtigt worden sei. Den beiden Beklagten sei dadurch die Möglichkeit
eröffnet worden, sich selber mit Klageantwort und Duplik von den von der
Ausgleichskasse erhobenen Vorwürfen - durch unwidersprochene, den Dritten
belastende Behauptungen - entlasten zu können (E. 3a). Im Fall H 47/06 hatte
das kantonale Versicherungsgericht in fünf separaten Entscheiden fünf Beklagte
zur Bezahlung von Schadenersatz verpflichtet. Die Betroffenen führten alle
einzeln Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Eidg. Versicherungsgericht hob alle
Erkenntnisse ohne materielle Prüfung der Sache auf, weil die Vorinstanz die
Beklagten nicht wechselseitig beigeladen hatte (E. 4). In beiden Fällen wurde
die Sache an das kantonale Gericht zurückgewiesen,
BGE 134 V 306 S. 311
da mit es die fehlenden Beiladungen vornehme und neu entscheide. Im Unterschied
dazu kann vorliegend die unterlassene Beiladung des Beschwerdegegners zu den
Einspracheverfahren der übrigen zehn zunächst ebenfalls in Anspruch Genommenen
- was einen Rechtsmangel darstellt (E. 3.3.2) - nicht durch deren Einbezug in
das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren korrigiert werden. Die
betreffenden Personen sind rechtskräftig von der Schadenersatzpflicht befreit.

3.3 Die dargelegte Rechtsprechung wurde vor Inkrafttreten des Allgemeinen Teils
des Sozialversicherungsrechts am 1. Januar 2003 entwickelt. Damals hatten die
Ausgleichskassen Ansprüche aus Art. 52 AHVG im Klageverfahren vor dem
zuständigen kantonalen Sozialversicherungsgericht durchzusetzen, wenn der
Belangte gegen die Schadenersatzverfügung Einspruch erhob (aArt. 81 f. AHVV [SR
831.101]). Die Vorinstanz hat die Pflicht zur Beiladung auf das seit 1. Januar
2003 auch bei Streitigkeiten betreffend Schadenersatz nach Art. 52 ATSG
geltende Einspracheverfahren vor den Ausgleichskassen (Art. 1 Abs. 1 AHVG in
Verbindung mit Art. 52 ATSG) ausgedehnt. Nach Auffassung des Beschwerde
führenden Bundesamtes lässt sich dies mit dem einfachen und raschen
Zweiparteienverfahren der Einsprache nicht vereinbaren.

3.3.1 Die Beschwerdebefugnis setzt in der Regel eine formelle Beschwer voraus:
Beschwerde kann nur erheben, wer am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat
und mit seinen Anträgen ganz oder teilweise unterlegen ist (BGE 127 V 107 E. 2a
S. 109). Deshalb müssen grundsätzlich alle diejenigen, welche zur Beschwerde
legitimiert sind, auch im vorangehenden Verfahren Parteistellung haben können
(Grundsatz der Einheit des Verfahrens; BGE 133 V 188 E. 4.2 S. 191; BGE 131 V
298 E. 2 S. 300; Art. 111 Abs. 1 BGG). Namentlich muss am Einspracheverfahren
teilnehmen können, wer zur Beschwerde an das kantonale Versicherungsgericht
legitimiert ist (Art. 34, Art. 49 Abs. 4 und Art. 59 ATSG; BGE 130 V 560 E. 3.2
S. 562). Dementsprechend muss auch Beschwerde erheben können, wem die
Beteiligung am vorinstanzlichen Verfahren - z.B. wegen eines Fehlers der
Behörde - verunmöglicht worden ist (BGE 127 V 107 E. 2a S. 110; vgl. Art. 89
Abs. 1 lit. a BGG; HANSJÖRG SEILER/NICOLAS VON WERDT/ANDREAS GÜNGERICH,
Bundesgerichtsgesetz [BGG], N. 13 zu Art. 89 BGG und BERNHARD WALDMANN, in:
Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, N. 9 zu Art. 89 BGG).
BGE 134 V 306 S. 312

3.3.2 Ist der zur Bezahlung von Schadenersatz Verpflichtete zur Beschwerde
gegen Entscheide berechtigt, mit denen potenziell ebenfalls Ersatzpflichtige
von der Haftung befreit werden (E. 3.2), muss er somit auch die Möglichkeit
haben, sich am vorangehenden Einspracheverfahren zu beteiligen. Vorliegend
hätte somit die Ausgleichskasse den Beschwerdegegner zu den Einspracheverfahren
der zehn übrigen zunächst ebenfalls in Anspruch genommenen Personen beiladen
müssen, wie die Vorinstanz insoweit richtig festgestellt hat. Dies ist entgegen
der Auffassung der Aufsichtsbehörde auch dann möglich, wenn die Verfahren
zeitlich verschoben stattfinden.

4. Die Rechtsfolgen, wenn einem Dritten zu Unrecht nicht die Möglichkeit
gegeben wurde, sich an einem Verfahren zu beteiligen, insbesondere wenn er eine
Parteistellung geltend machen könnte, lassen sich nicht in allgemeiner Weise
umschreiben. Sie hängen vom Einzelfall ab und ergeben sich aus einer
Interessenabwägung, deren Sinn und Ziel darin liegt, die betroffene Person vor
Nachteilen zu schützen, die sie infolge des Mangels erleiden würde (Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts B 91/04 vom 5. Oktober 2005, E. 3.3).

4.1 Die Vorinstanz hat dem Verfahrensfehler der unterlassenen Beiladung des
Beschwerdegegners zu den Einspracheverfahren der zunächst ebenfalls in Anspruch
genommenen zehn Personen in der Weise Rechnung getragen, dass sie auch diesen
von der Haftung befreit hat. Diese Konsequenz trägt indessen dem Wesen der
Solidarhaftung zu wenig Rechnung: Die Ausgleichskasse hätte von Anfang an
einzig den Beschwerdegegner ins Recht fassen können (E. 3.1). Bei einer
Verurteilung zum Schadenersatz hätte dieser den ganzen Betrag zu bezahlen, auch
wenn allenfalls neben ihm weitere Personen als Haftende in Frage kommen. Es
erscheint daher nicht gerechtfertigt, den Beschwerdegegner einzig deshalb
vollumfänglich von der Haftung zu befreien, weil die Ausgleichskasse andere
zunächst ebenfalls in Anspruch genommene Personen im Einspracheverfahren
entlastete, ohne ihn daran zu beteiligen. Es kann denn auch nicht gesagt
werden, wegen dieses Mangels habe die Verwaltung seine Schadenersatzpflicht
bejaht.

4.2 Nach einer u.a. häufig in Bewilligungsverfahren für Bauvorhaben und
dergleichen angewendeten Praxis beginnt für zu Unrecht nicht ins Verfahren
einbezogene Dritte die Anfechtungsfrist erst mit der tatsächlichen
Kenntnisnahme des Entscheides zu laufen (BGE
BGE 134 V 306 S. 313
BGE 116 Ib 321 E. 3a S. 326; BGE 112 Ib 170 E. 5c S. 174). Aus Gründen der
Rechtssicherheit und nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, welcher Behörden
und Privaten gleichermassen rechtsmissbräuchliches und widersprüchliches
Verhalten verbietet (BGE 125 V 373 E. 2b/bb S. 375), darf aber der Dritte den
Beginn des Fristenlaufs nicht beliebig hinauszögern, sobald er auf irgendeine
Weise von der ihn berührenden Entscheidung Kenntnis erhalten hat. Er hat sich
sogar danach zu erkundigen, wenn Anzeichen dafür vorliegen, und rechtzeitig zu
reagieren (vgl. BGE 107 Ia 72 E. 4a S. 76; ZBl 95/1994 S. 529, E. 2, 1A.256/
1993; Urteil 1A.278/2005 vom 23. Januar 2006, E. 3.3.1).
Eine solche nachträgliche Öffnung des Beschwerdeweges fällt hingegen nicht in
Betracht, wenn eine IV-Stelle es in Verletzung von Art. 49 Abs. 4 ATSG
unterlässt, eine Rentenverfügung einer präsumtiv leistungspflichtigen
Vorsorgeeinrichtung zu eröffnen. Im Blick auf die Rechtssicherheit kann nicht
hingenommen werden, dass nach mehr oder weniger grossem Zeitablauf ein anderer
Versicherer noch eine Neubeurteilung verlangt (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts B 91/04 vom 5. Oktober 2005, E. 3.4). Dem
Eröffnungsfehler wird in der Weise Rechnung getragen, dass die der Verfügung
zugrunde liegende Invaliditätsschätzung für die Vorsorgeeinrichtung nicht
verbindlich ist (BGE 132 V 1 E. 3.3.2 S. 5). Eine solche direkte
Bindungswirkung besteht im hier interessierenden Kontext jedoch nicht, weil im
Verfahren nach Art. 52 AHVG der beigeladene, potenziell solidarisch Mithaftende
selber nicht zu Schadenersatz verurteilt werden kann (FRITZ GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. 1983, S. 184; vgl. zur Wirkung der
Beiladung auch BGE 130 V 501). Sein Interesse an einer Verfahrensbeteiligung
besteht nur, aber immerhin im Hinblick auf einen allfälligen späteren
Regressprozess, in welchem der dafür zuständige Zivilrichter nicht an die
Beurteilung des Sozialversicherungsgerichts gebunden ist, diese aber
notwendigerweise berücksichtigen wird (BGE 119 V 86 E. 5b S. 88).

4.3 Es rechtfertigt sich, im Falle einer zu Unrecht unterlassenen Beiladung zum
Einspracheverfahren eines allfälligen solidarisch mithaftenden
Schadenersatzpflichtigen vom Betroffenen zu verlangen, dass er innert
nützlicher Frist nach Kenntnis des Mangels die Eröffnung des
Einspracheentscheids beantragt und diesen gegebenenfalls rechtzeitig mit
Beschwerde beim zuständigen kantonalen Versicherungsgericht anficht.
BGE 134 V 306 S. 314

4.3.1 Vorliegend hatte der Beschwerdegegner Kenntnis davon, dass neben ihm auch
die übrigen Mitglieder der Verwaltung der konkursiten Genossenschaft (L., A.,
H., F., R., B.) ins Recht gefasst worden waren. In seiner Einsprache hatte er
sogar beantragt, sie alle seien mangels Organstellung von der Haftung zu
befreien. Im Einspracheentscheid vom 7. Juni 2006 hielt die Ausgleichskasse
fest, sie würde die Einsprachen der übrigen sechs ehemaligen Mitglieder der
Verwaltung gutheissen. Unter diesen Umständen wäre es ein Treu und Glauben
widersprechendes "venire contra factum proprium", wenn der Beschwerdegegner
nachträglich die Haftungsbefreiung dieser Personen bestreiten wollte (vgl.
Urteil 2C_446/2007 vom 22. Januar 2008, E. 3.1). Dass er in deren
Einspracheverfahren nicht einbezogen worden war, kann daher von vornherein kein
Grund sein, um ihn von der Haftung zu befreien.

4.3.2 Weiter wurde im Einspracheentscheid vom 7. Juni 2006 festgehalten, die
Schadenersatzpflicht in der Höhe von Fr. 67'462.35 bestehe in solidarischer
Haftung mit W., Z., U. und S. "gemäss unseren an dieselben gerichteten
Verfügungen heutigen Datums". In der Folge verlangte der Beschwerdegegner nach
Lage der Akten jedoch nicht, in das Verfahren gegen diese vier Personen
einbezogen zu werden. Er stellte lediglich in seiner Beschwerde an das
kantonale Versicherungsgericht den Antrag, das Verfahren sei zu sistieren, bis
die vier Schadenersatzverfügungen entweder rechtskräftig würden oder dagegen
ebenfalls Beschwerde erhoben werde. Diesem Antrag gab die Vorinstanz statt und
führte das Verfahren erst weiter, nachdem die Einsprachen der übrigen vier ins
Recht Gefassten gutgeheissen worden waren. Auch nach Kenntnisnahme davon
äusserte er jedoch in der Eingabe seines Rechtsvertreters vom 2. Februar 2007
nicht den Willen, die freisprechenden Einspracheentscheide anzufechten. Er
verlangte einzig Einsicht in die Akten der entsprechenden Verfahren und
nachfolgende Fristansetzung zur Beschwerdeergänzung. In der diesbezüglichen
Eingabe vom 5. April 2007 machte er zwar geltend, die befreienden
Einspracheentscheide hätten ihm gegenüber eröffnet werden müssen. Sodann
bezeichnete er die Haftungsbefreiung von W. und Z. als stossend, was er auch
einlässlich begründete. Daraus lässt sich aber nicht ein manifester Wille zur
Anfechtung der haftungsbefreienden Einspracheentscheide herauslesen. Dazu hätte
es eines entsprechenden Antrags an die Ausgleichskasse bedurft. Unter diesen
Umständen verstiesse es gegen Treu und Glauben, wenn der Beschwerdegegner sich
BGE 134 V 306 S. 315
nachträglich mit Erfolg darauf berufen könnte, es sei ihm keine Gelegenheit
geboten worden, sich an den Einspracheverfahren gegen W., Z., U. und S. zu
beteiligen, oder die betreffenden Einspracheentscheide seien ihm zu Unrecht
nicht eröffnet worden.

4.4 Nach dem Gesagten besteht kein Grund für eine Haftungsbefreiung aus den von
der Vorinstanz genannten formellen Gründen. Der angefochtene Entscheid verletzt
insoweit Bundesrecht. Die Sache ist an das kantonale Gericht zurückzuweisen,
damit es über die Schadenersatzpflicht materiell entscheide.