Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 28



Urteilskopf

134 V 28

  5. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
GastroSocial Pensionskasse gegen R. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
  9C_172/2007 vom 6. November 2007

Regeste

  Art. 2 Abs. 2 ZGB; Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 lit. b FZG; Art. 18 lit.
a, Art. 20a Abs. 1 lit. b, Art. 22 Abs. 1 BVG; Eintritt des Vorsorgefalles
"Tod".

  Der Versicherungs- oder Vorsorgefall "Tod" tritt mit dem Tod des
Versicherten ein (E. 3.2).

  Präzisierung der Rechtsprechung zum Eintritt des Vorsorgefalles
"Invalidität" (E. 3.4).

  Kein offenbarer Rechtsmissbrauch, wenn sich der Versicherte selbstständig
macht, um seinem Bruder die Austrittsleistung vererben zu können (E. 4).

Sachverhalt

  A.- W., geboren 1947, war im Restaurant B. als Kellner tätig und dadurch
bei der GastroSocial Pensionskasse obligatorisch berufsvorsorgeversichert.
Wegen eines metastasierenden Bronchialkarzinoms war er ab 12. September 2004
in seinem bisherigen Beruf vollständig arbeitsunfähig. Am 14. Januar 2005
löste er sein Arbeitsverhältnis per sofort auf, da er die seit 1. Oktober
2004 nebenberuflich ausgeübte Beratungs- und Konfliktlösungstätigkeit im
Partnerbereich ab 15. Januar 2005 zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit
ausweiten wollte. Am 14. Februar 2005 verlangte er bei der Pensionskasse die
Barauszahlung seiner Austrittsleistung. Am 16. Februar 2005 schied W.
freiwillig aus dem Leben. R., der von seinem Bruder am 21. Januar 2005
testamentarisch als Universalerbe eingesetzt worden war, ersuchte die
Pensionskasse am 13. Mai 2005 um Überweisung der Freizügigkeitsleistung, was
diese wiederholt ablehnte, da die Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zum Tod
geführt habe, während des Vorsorgeverhältnisses eingetreten sei. Der damit
eingetretene Vorsorgefall "Tod" schliesse den Freizügigkeitsfall aus.

  B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die von R. am 22.
Februar 2006 eingereichte Klage mit Entscheid vom 13. März 2007 gut und
verpflichtete die Pensionskasse, ihm die Austrittsleistung seines
verstorbenen Bruders (Stichtag: 14. Januar 2005) zuzüglich Zins zu bezahlen.

  C.- Die Pensionskasse lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung
des angefochtenen Entscheids sei zustimmend zur Kenntnis zu nehmen, dass sie
die gesetzlichen und reglementarischen Hinterlassenenleistungen ausrichte.

  R. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, während das Bundesamt
für Sozialversicherungen (BSV) in der Stellungnahme

- ohne einen Antrag zu stellen - anregt, die hinsichtlich der Frage des
Eintritts des Vorsorgefalles "Invalidität" unterschiedlichen Praxen des
Bundesgerichts zu vereinheitlichen.

  Die Beschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Strittig ist, ob der Beschwerdegegner als Rechtsnachfolger des
Versicherten gegenüber der Pensionskasse Anspruch auf eine Austrittsleistung
der obligatorischen beruflichen Vorsorge hat. Dies hängt entscheidend von
der Frage ab, ob im Zeitpunkt, als der Versicherte die Vorsorgeeinrichtung
verliess (14. Januar 2005), bereits ein Vorsorgefall (Alter, Tod,
Invalidität) eingetreten war oder nicht (siehe Art. 2 Abs. 1 des
Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1993 über die Freizügigkeit in der
beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [FZG; SR
831.42]). Das kantonale Versicherungsgericht hat die zur Beurteilung dieser
Streitfrage einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Das kantonale Gericht hat festgestellt, dass der Verstorbene seit 12.
September 2004 im bisherigen Beruf erheblich, offensichtlich und dauerhaft
arbeitsunfähig war. Ob dies auch für eine leidensangepasste Tätigkeit gelte,
liess es offen, da der Vorsorgefall "Invalidität" erklärtermassen nicht
eingetreten sei. Dies wird von der Beschwerdeführerin denn auch nicht
bestritten. Sie beruft sich vielmehr auf den Vorsorgefall "Tod". Dieser sei
bereits mit Beginn der relevanten Arbeitsunfähigkeit (12. September 2004)
und damit vor dem Verlassen der Vorsorgeeinrichtung (14. Januar 2005)
eingetreten, weshalb nach Art. 2 Abs. 2 FZG keine Austrittsleistung mehr
erbracht werden dürfe. Es seien deshalb die gesetzlichen und
reglementarischen Todesfallleistungen auszurichten. Mangels Personen, die
Anspruch auf Hinterlassenenleistungen haben und begünstigter Personen nach
Art. 20a Abs. 1 lit. a BVG, bedeute dies, dass gemäss Ziff. 14.5 lit. b des
Pensionskassenreglementes der Mutter des Verstorbenen das durch eigene
Beiträge finanzierte Altersguthaben auszurichten sei.

  3.2  Zur Frage, wann der Vorsorgefall "Tod" im Sinne von Art. 2 Abs. 2 FZG
eingetreten ist, hat sich das Bundesgericht bisher nicht geäussert. Die
Vorinstanz hat dazu erwogen, der Vorsorgefall "Tod"

trete mit dem Tod und nicht mit der allfällig zugrunde liegenden
Arbeitsunfähigkeit ein. Eine dem Tod vorangegangene Arbeits- oder
Erwerbsunfähigkeit bilde kein notwendiges Begriffselement des versicherten
Risikos. Diese Auslegung deckt sich mit der in Lehre und Rechtsprechung
verwendeten allgemeinen Definition des Versicherungsfalles: Unter einem
solchen wird der Eintritt des versicherten Risikos in der gesetzlich
normierten Weise verstanden (ULRICH MEYER, Allgemeine Einführung, in:
Schweiz. Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Rz.
115 S. 73 mit Hinweis auf BGE 100 V 208). Der Anspruch auf
Hinterlassenenleistungen nach BVG entsteht mit dem Tod des Versicherten,
frühestens jedoch mit Beendigung der vollen Lohnfortzahlung (Art. 22 Abs. 1
BVG). Der hier in Frage stehende Versicherungs- oder Vorsorgefall tritt nach
dem Gesagten also frühestens mit dem Tod des Versicherten ein.

  3.3  Nun ist, was bereits der historische Gesetzgeber erkannt hat, zu
berücksichtigen, dass dem Tode vielfach eine kürzere oder längere Periode
der Arbeitsunfähigkeit vorangehen kann, während welcher der Versicherte
mitunter entlassen wird und dadurch den Versicherungsschutz verliert
(Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-,
Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I
230). Die ursprüngliche - und bis heute unverändert gebliebene - Fassung des
Art. 18 lit. a BVG sieht daher vor, dass der Verstorbene im Zeitpunkt des
Todes oder bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zum Tode
geführt hat, versichert gewesen sein muss (Versicherteneigenschaft; siehe
dazu MEYER, a.a.O., Rz. 111, S. 72; HANS-ULRICH STAUFFER, Berufliche
Vorsorge, Zürich/Basel/Genf 2005, S. 246 N. 657). Damit wird entgegen der
Auffassung der Beschwerdeführerin nicht der Eintritt des Vorsorgefalles auf
den Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit vorverlegt, sondern
vielmehr der Versicherungsschutz für den Fall geregelt, dass der Verstorbene
im Zeitpunkt des Todes nicht mehr bei der Vorsorgeeinrichtung versichert
ist. Der Anknüpfungspunkt bei der Versicherteneigenschaft im Zeitpunkt des
Eintritts der Arbeitsunfähigkeit findet sich im Übrigen in analoger Weise
auch in Art. 23 lit. a BVG, der den Anspruch auf Invalidenleistungen regelt
(siehe dazu BGE 118 V 35 E. 2b/aa S. 39).

  3.4
  3.4.1  In verschiedenen Urteilen des Eidg. Versicherungsgerichts (heute:
Bundesgericht) wurde die in E. 3.3 dargestellte begriffliche Unterscheidung
des Eintritts der Invalidität und der Arbeitsunfähigkeit,

deren Ursache zur Invalidität geführt hat, vermischt (letztmals Urteile B
116/04 vom 26. August 2005; B 9/05 vom 9. Juli 2005 und B 88/03 vom 28. Mai
2004), was dem BSV Anlass zur Bemerkung gibt, zum Eintritt des
Vorsorgefalles "Invalidität" bestünden unterschiedliche Rechtsprechungen.
Dem ist indessen bei genauer Betrachtung nicht so:
  3.4.2  In der in E. 3.3 genannten Botschaft wird auf S. 232 festgehalten:
Damit der durch die zweite Säule bezweckte Schutz zum Tragen kommt, muss das
Invaliditätsrisiko auch dann gedeckt sein, wenn es rechtlich gesehen erst
nach einer langen Krankheit eintritt, während welcher der Ansprecher unter
Umständen aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist und daher nicht mehr
dem Obligatorium unterstanden hat. In BGE 118 V 35 E. 2b/aa wird diese
Passage der bundesrätlichen Botschaft wörtlich zitiert, womit klar
feststeht, dass auch nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts
der Vorsorgefall "Invalidität" nicht mit der ihr zugrunde liegenden
Arbeitsunfähigkeit, sondern mit Beginn des Anspruchs auf eine
Invalidenleistung (siehe Art. 26 Abs. 1 BVG) eintritt. Damit deckt sich
diese Rechtsprechung mit der im Zusammenhang mit der Teilung der
Austrittsleistung im Scheidungsfall entwickelten: Danach ist der
Vorsorgefall "Invalidität" eingetreten, wenn ein Ehegatte - weitergehende
reglementarische Bestimmungen vorbehalten - mindestens zu 50 % dauernd
erwerbsunfähig geworden ist oder während eines Jahres ohne wesentlichen
Unterbruch mindestens zu 50 % arbeitsunfähig war und von der Einrichtung der
beruflichen Vorsorge eine Invalidenrente bezieht oder in Form einer
Kapitalabfindung bezogen hat. Für die Annahme eines Vorsorgefalles genügt
somit blosse Teilinvalidität (BGE 129 III 481 E. 3.2.2 S. 484).

  3.5  Aus dieser Klärung kann die Beschwerdeführerin indessen nichts zu
ihren Gunsten ableiten. Das kantonale Gericht hat festgestellt, dass sich
der Bruder des Beschwerdegegners das Leben genommen hat. Die
Beschwerdeführerin geht in ihrer Sachverhaltsdarstellung - allerdings ohne
nähere Begründung und ohne sich mit der Sachverhaltsfeststellung des
kantonalen Gerichts auseinanderzusetzen - davon aus, das Krebsleiden habe
zum Tode geführt. Dass das kantonale Gericht von einer offensichtlich
unrichtigen Sachverhaltsfeststellung ausgegangen sein oder eine
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 begangen haben soll, wird nicht
behauptet. Somit bleibt die Feststellung der Vorinstanz, der Versicherte sei
freiwillig

aus dem Leben geschieden, für das Bundesgericht verbindlich. War damit weder
das Krebsleiden, das zur Arbeitsunfähigkeit führte, Ursache des Todes, noch
der Verstorbene im Zeitpunkt seines Todes bei der Beschwerdeführerin
berufsvorsorgeversichert (auch die Nachdeckungsfrist von einem Monat [Art.
10 Abs. 3 BVG] war abgelaufen), hatte der Bruder des Beschwerdegegners die
Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor der Vorsorgefall "Tod" eingetreten ist.
Damit ist hier der Anspruch auf eine Austrittsleistung im Grundsatz
entstanden (Art. 2 Abs. 1 FZG). Die Sache wäre auch nicht anders zu
beurteilen, wenn W. an den Folgen seiner Krebserkrankung verstorben wäre.
Entscheidend ist allein, dass sein im Sommer 2004 ausgebrochenes Leiden
nicht zu einer Invalidität geführt hatte, wie das kantonale Gericht
ebenfalls zutreffend festgestellt hat.

Erwägung 4

  4.  Die Beschwerdeführerin wiederholt schliesslich letztinstanzlich den
Vorwurf, der Verstorbene habe die Aufnahme der selbstständigen
Erwerbstätigkeit lediglich fingiert; es liege ein klarer Rechtsmissbrauch
vor. Auch das kantonale Gericht hat das Vorgehen des Bruders des
Beschwerdegegners beanstandet und einen Missbrauch der
Barauszahlungsbestimmungen als gegeben erachtet, diesen aber nicht im Sinne
von Art. 2 Abs. 2 ZGB als offenbar qualifiziert. Dem ist im Ergebnis
beizupflichten. Denn das kantonale Gericht hat festgestellt, dass der
Verstorbene tatsächlich eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen
hat. An dieser Feststellung tatsächlicher Natur sind zwar durchaus Zweifel
angebracht. Sie ist jedoch nicht offensichtlich unrichtig und bindet daher
das Bundesgericht. Ist somit von einem Barauszahlungsfall auszugehen, kann
im Vorgehen des Versicherten kein offenbarer Missbrauch (siehe dazu BGE 131
V 97 E. 4.3.4 S. 105 f.; THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen
Recht, Zürich 2005, S. 67) erblickt werden.

Erwägung 5

  5.  Da sich der Verstorbene selbstständig gemacht und vor seinem Tod die
Barauszahlung verlangt hat, hat das kantonale Gericht die Voraussetzungen,
unter denen die Austrittsleistung bar ausgerichtet werden kann (vgl. Art. 5
Abs. 1 lit. b FZG), zu Recht als erfüllt betrachtet und die Klage
gutgeheissen.