Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 231



Urteilskopf

134 V 231

28. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. K. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_152/2007 vom 26. Mai 2008

Regeste

Art. 6 Abs. 1 UVG; Beweiswert diagnostischer Methoden; funktionelle
Magnetresonanztomographie; Schleudertrauma. Eine medizinisch-diagnostische
Methode muss wissenschaftlich anerkannt sein, damit der mit ihr erhobene Befund
eine zuverlässige Beurteilungsgrundlage zu bieten vermag. Als wissenschaftlich
anerkannt gilt eine Untersuchungsart, wenn sie von Forschern und Praktikern der
medizinischen Wissenschaft auf breiter Basis anerkannt ist (E. 5.1). Beweiswert
des mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT; fmri) erhobenen
Befundes für die Beurteilung der Unfallkausalität von Beschwerden nach
Schleudertraumen der Halswirbelsäule (HWS) und äquivalenten Unfallmechanismen
nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft verneint (E. 5.2-5.5).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 232

BGE 134 V 231 S. 232
Aus den Erwägungen:

5.

5.1 Zur Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche bedarf es
verlässlicher medizinischer Entscheidsgrundlagen. Wie die einzelnen
Beweismittel zu würdigen sind, ist in BGE 125 V 351 E. 3 S. 352 ff. festgelegt.
Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist demnach entscheidend, ob
dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet
und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a
S. 352 mit Hinweis).
Die Frage des Beweiswertes stellt sich auch bei den anzuwendenden
medizinisch-diagnostischen Methoden. Diese müssen wissenschaftlich anerkannt
sein, damit der mit ihnen erhobene Befund eine zuverlässige
Beurteilungsgrundlage zu bieten vermag. Als wissenschaftlich anerkannt gilt
eine Untersuchungsart, wenn sie von Forschern und Praktikern der medizinischen
Wissenschaft auf breiter Basis anerkannt ist (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 160/98 vom 2. Juni 2000, E. 5 und 6 mit Hinweisen,
publ. in:
BGE 134 V 231 S. 233
RKUV 2000 Nr. U 395 S. 316; vgl. auch BGE 134 V 109 E. 7.2 S. 119).

5.2 Bei der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT; englisch: functional
magnetic resonance imaging, fmri) handelt es sich um eine neuere Form der
Kernspintomographie, welche sich von der herkömmlichen MRT dadurch
unterscheidet, dass Aufnahmen in verschiedenen Funktionsstellungen (oder
Aktivierungszuständen) durchgeführt werden. Bei Beschleunigungsverletzungen der
Halswirbelsäule (HWS) werden neben Aufnahmen in der Normalstellung in der Regel
solche in unterschiedlicher Rechts- und Linksrotation sowie in Flexions- und
Extensionsstellung des Schädels vorgenommen.
Über die diagnostische Bedeutung der mittels fMRT erhobenen Befunde und deren
Eignung für die Beurteilung der Unfallkausalität von Beschwerden nach
HWS-Distorsionen gehen die ärztlichen Meinungen auseinander. Dies gilt auch
hinsichtlich der hier zur Diskussion stehenden Läsionen der Kopfgelenkbänder,
insbesondere der Ligamenta alaria (nachfolgend: Ligg. alaria). Eine Durchsicht
der von den Parteien eingereichten Auszüge aus der medizinischen Literatur und
ein Blick auf das weitere Schrifttum (vgl. hiezu auch die Literaturhinweise in:
HANS SCHMIDT/JÜRG SENN [Hrsg.], Schleudertrauma - neuester Stand, Zürich 2004)
zeigt ein uneinheitliches Bild. Teils wird der Aussagewert von fMRT-Befunden
grundsätzlich in Frage gestellt, weil Untersuchungen ergeben haben, dass auch
bei Personen ohne HWS-Distorsionstrauma Breitenasymmetrien der Ligg. alaria
ausgesprochen häufig sind und die Bänder oft unregelmässige Konturen aufweisen,
weshalb entsprechende Befunde in der Regel keinen zuverlässigen Schluss auf
durch Schleudertrauma bewirkte Bandläsionen zulassen (C.W. PFIRRMANN et al.,
Functional MR imaging of the craniocervical junction. Correlation with alar
ligaments and occipito-atlantoaxial joint morphology: a study in 50
asymptomatic subjects, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 2000 S.
645-651). Verschiedene Autoren weisen auf Schwierigkeiten bei der
Interpretation der fMRT-Befunde hin, insbesondere wenn es um den Nachweis
leichterer Läsionen und die Beurteilung des Schweregrades von Bandverletzungen
geht (S. ROY et al., Pitfalls of magnetic resonance imaging of alar ligament,
in: Neuroradiology 2004 S. 392-398; J.T. WILMINK/J. PATIJN, MR imaging of alar
ligament in whiplash-associated disorders: an observer study, in:
Neuroradiology 2001
BGE 134 V 231 S. 234
S. 859-863). Teils wird die Signifikanz des Befundes für eine durch
Schleudertrauma verursachte Läsion generell oder unter bestimmten
Voraussetzungen (hohe Signalintensität, Rotation des Kopfes, Schwere des
Traumas) bejaht (so etwa: B.H. JOHANSSON, Whiplash injuries can be visible by
functional magnetic resonance imaging, in: Pain Res Manage 2006 S. 197-199; J.
KRAKENES/B.R. KAALE, Magnetic resonance imaging assessment of craniovertebral
ligaments and membranes after whiplash trauma [deutsch: MRT-Darstellung der
craniovertebralen Ligamente und Membranen nach einem Schleudertrauma], in:
Spine 2006 S. 2820-2826).

5.3 Zur medizinischen Kontroverse und den diesbezüglichen Vorbringen der
Parteien hat das Gericht nicht näher Stellung zu nehmen. Es besteht auch kein
Anlass zur Einholung eines Grundsatzgutachtens, da hievon unter den gegebenen
Umständen kaum abschliessende Ergebnisse zu erwarten wären (BGE 124 V 90 E. 4b
S. 94; BGE 122 V 157 E. 1d S. 162). Es ist zudem nicht Sache des
Sozialversicherungsgerichts, medizinisch-wissenschaftliche Kontroversen zu
klären; seine Aufgabe beschränkt sich darauf, die Unfallkausalität aufgrund der
im konkreten Fall gegebenen Verhältnisse und unter Berücksichtigung der
medizinischen Lehrmeinung zu beurteilen (Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts U 294/01 vom 13. Februar 2003, E. 2.5.1, und U 4/00 vom
18. August 2000, E. 3c).
Es ist daher festzustellen, dass die fachärztlichen Meinungen hinsichtlich des
Aussagewertes von fMRT-Untersuchungen des kraniozervikalen Übergangs,
insbesondere auch der Ligg. alaria, stark auseinandergehen. Ein breit
abgestützter Konsens, welcher gestatten würde, diese Abklärungsmethode als
zuverlässige Grundlage für die Beurteilung der Unfallkausalität von Beschwerden
nach HWS-Traumen zu betrachten, liegt nicht vor. Es verhält sich somit wie bei
den SPECT-Untersuchungen, bei denen das damalige Eidgenössische
Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts) zum Schluss gelangt ist, dass diese
wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Untersuchungsmethode nicht geeignet
ist, den Nachweis der Unfallkausalität für hirnorganische Schädigungen zu
erbringen (RKUV 2000 Nr. U 395 S. 316, E. 6, U 160/98; Urteil U 186/06 / U 213/
06 vom 29. Oktober 2007, E. 5.3).

5.4 Zu einer andern Beurteilung besteht umso weniger Anlass, als die Frage,
welche Bedeutung fMRT-Befunden bei
BGE 134 V 231 S. 235
Beschleunigungstraumen der HWS beizumessen ist, Gegenstand von Diskussionen in
der Kommission "Whiplash-associated Disorder" der Schweizerischen
Neurologischen Gesellschaft gebildet hat. Dabei wurde festgestellt, dass
funktionsradiologische Methoden von der Kooperation des Patienten abhängig sind
und unter günstigen Untersuchungsbedingungen Hinweise auf eine Instabilität
geben können. Deren Zusammenhang mit klinischen Beschwerden (z.B.
Nackenschmerzen) wurde nach Meinung der Kommission bisher aber nicht
hinreichend untersucht (vgl. A. SCHNIDER et al., Beschwerdebild nach
kraniozervikalem Beschleunigungstrauma ["whiplash-associated disorder"], in:
Schweizerische Ärztezeitung 2000 S. 2218- 2220). Unter Hinweis u.a. auf diese
Stellungnahme werden in den aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie zum Beschleunigungstrauma der HWS funktionell bildgebende Verfahren
(SPECT, PET, fMRT) als diagnostische Mittel generell nicht empfohlen (http://
www.dgn.org/182.0.htm, Abfrage vom 5. Mai 2008). Zum Nachweis von Verletzungen
der Ligg. alaria mittels fMRT äussern sich die Leitlinien nicht konkret. Es
wird aber darauf hingewiesen, dass solche Verletzungen nach neueren
Erkenntnissen in der Vergangenheit überbewertet worden seien.
Im Lichte dieser Stellungnahmen ist SUVA und Vorinstanz darin beizupflichten,
dass fMRT-Untersuchungen jedenfalls nach dem heutigen Stand der medizinischen
Wissenschaft kein geeignetes Beweismittel zur Beurteilung der Unfallkausalität
von Beschwerden nach HWS-Traumen darstellen (vgl. auch BGE 134 V 109 E. 7.2 S.
119). Der diesbezüglich etwa von CHRISTIAN THÖNY (Richter foutieren sich um
medizinische Fortschritte, in: Plädoyer 2007 1 S. 20) geäusserten Kritik an der
Rechtsprechung kann daher nicht gefolgt werden.

5.5 Zu keinem anderen Ergebnis führt der Hinweis des Beschwerdeführers auf das
vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Nationale Forschungsprogramm
"Muskuloskelettale Gesundheit - chronische Schmerzen" (NFP 53). Teil dieses
Programms bildet das Projekt "Frühzeitige Diagnose des Schleudertraumas mit
Magnetresonanztomographie", in welchem Patienten, welche nach einem
Schleudertrauma an Nackenschmerzen leiden, zunächst kurz nach dem Unfall und
später erneut mittels MRT untersucht werden. Die Durchführung dieser Studie
zeigt vielmehr auf, dass in medizinischen Fachkreisen hinsichtlich der
Diagnosestellung und Kausalitätsbeurteilung derartiger Verletzungen noch Fragen
offen sind.
BGE 134 V 231 S. 236
In der auf Internet zugänglichen Beschreibung findet sich zudem kein Hinweis,
wonach das erwähnte oder ein anderes Projekt des Forschungsprogramms auch die
Aussagekraft von Untersuchungen mittels funktioneller MRT beschlagen soll (
http://www.nfp53. ch/d.cfm-Slanguage=d; http://www.nfp53.ch/
d_module.cfm-Projects.Command=details&get=16, Abfragen vom 5. Mai 2008).
Abgesehen davon bedürfte es jedenfalls auch nach Vorliegen eines entsprechenden
Studienergebnisses zuerst einer vertieften Diskussion in fachmedizinischen
Kreisen, bevor die fMRT als wissenschaftlich anerkannte Untersuchungsform und
als verlässliche Grundlage für die Beurteilung der sich hier stellenden
Kausalitätsfragen in Betracht kommen könnte.