Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 202



Urteilskopf

134 V 202

25. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. D. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_202/2007 vom 9. April 2008

Regeste

Art. 26 Abs. 1 ATSG; Art. 41bis Abs. 1 AHVV; Verzugszinsregelung nach dem
Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003. Art. 41bis Abs. 1 AHVV ist
gesetzeskonform und bleibt auch nach Inkrafttreten von Art. 26 Abs. 1 ATSG
anwendbar (Bestätigung des Urteils des Eidg. Versicherungsgerichts H 20/04 vom
19. August 2004, publ. in: AHI 2004 S. 257). Der Umstand, dass gemäss Art. 26
Abs. 1 ATSG der Verzugszins auf fälligen Beitragsforderungen geschuldet ist,
während in dem bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Art. 14 Abs. 4 lit. e
AHVG, auf welchem Art. 41bis Abs. 1 AHVV beruht, das Wort Fälligkeit nicht
enthalten war, ändert nichts (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 203

BGE 134 V 202 S. 203
A. Der 1948 geborene D. ist selbstständig erwerbstätig. Mit Verfügung vom 5.
Mai 2006 verpflichtete ihn die Ausgleichskasse des Kantons Aargau zur Bezahlung
der persönlichen AHV/IV/EO-Beiträge für das Jahr 2003 in der Höhe von Fr.
41'077.20, einschliesslich Verwaltungskosten. Nach Anrechnung der geleisteten
Akontobeiträge wurde ihm gleichentags ein Betrag von noch Fr. 14'198.- in
Rechnung gestellt. Diesen Ausstand beglich D. am 31. Mai 2006. Am 9. Juni 2006
erliess die Ausgleichskasse eine Verzugszinsverfügung über Fr. 1'005.70,
entsprechend einem Zins zu 5 % auf dem Betrag von Fr. 14'198.- für 510 Tage.
Auf Einsprache des Versicherten hin hielt die Ausgleichskasse mit Entscheid vom
27. Juni 2006 an der Verzugszinspflicht fest.

B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher der Versicherte die
Aufhebung des Einspracheentscheides hatte beantragen lassen, wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 27. Februar 2007).

C. D. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem
Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid und der Einspracheentscheid seien
aufzuheben.
Während die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine
Stellungnahme verzichten, lässt sich das Versicherungsgericht in ablehnendem
Sinne zur Beschwerde vernehmen.

D. Am 9. April 2008 hat das Bundesgericht eine publikumsöffentliche Beratung
durchgeführt und die Beschwerde abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1. Nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 ATSG (SR 830.1) sind für fällige
Beitragsforderungen und Beitragsrückerstattungsansprüche Verzugs- und
Vergütungszinsen zu leisten. Verzugszinsen zu entrichten haben nach Art. 41^bis
Abs. 1 lit. f AHVV (SR 831.101) u.a. Selbstständigerwerbende auf
auszugleichenden persönlichen Beiträgen, falls die Akontobeiträge mindestens 25
% unter den tatsächlich
BGE 134 V 202 S. 204
geschuldeten Beiträgen liegen und nicht bis zum 1. Januar nach Ablauf des dem
Beitragsjahr folgenden Kalenderjahres entrichtet werden, ab dem 1. Januar nach
Ablauf des dem Beitragsjahr folgenden Kalenderjahres. Gemäss Art. 41^bis Abs. 2
AHVV endet der Zinsenlauf mit der vollständigen Bezahlung der Beiträge, mit
Einreichung der ordnungsgemässen Abrechnung oder bei deren Fehlen mit der
Rechnungsstellung. Bei Beitragsnachforderungen endet der Zinsenlauf mit der
Rechnungsstellung, sofern die Beiträge innert Frist bezahlt werden. Laut Art.
42 Abs. 2 AHVV beträgt der Verzugszinssatz 5 % im Jahr, wobei die Zinsen
tageweise berechnet und ganze Monate zu 30 Tagen gerechnet werden (Art. 42 Abs.
3 AHVV). Nach der Rechtsprechung (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 20/
04 vom 19. August 2004, publ. in: AHI 2004 S. 257) sind die zitierten
Ausführungsbestimmungen der AHVV nach Inkrafttreten des ATSG weiterhin
anwendbar.

2. Der am 9. Juni 2006 verfügte Verzugszins von Fr. 1'005.70 wird in masslicher
Hinsicht zu Recht nicht beanstandet. Der Beschwerdeführer macht vielmehr
geltend, nach Art. 26 Abs. 1 ATSG setze die Verzugszinsforderung im Gegensatz
zur altrechtlichen Regelung auf Verordnungsstufe voraus, dass die
Beitragsforderung der Ausgleichskasse fällig ist. Im Übrigen sei der
angefochtene Entscheid stossend. Der Ausgleichskasse würde aufgrund des
Versäumnisses des Steueramtes nicht bloss ein Schadensausgleich, sondern ein
massiv überhöhter Vorteil zufliessen. Auch die öffentliche Hand sei in der
fraglichen Zeit nicht in der Lage gewesen, auf vergleichbaren Beträgen Renditen
von über einem Prozent zu erzielen. Die Forderung eines Verzugszinses von 5 %
sei daher überrissen.

3.

3.1 Der Auffassung des Beschwerdeführers kann nicht beigepflichtet werden. Wie
das kantonale Gericht zutreffend festhält, bestand schon vor Inkrafttreten des
ATSG am 1. Januar 2003 in Art. 14 Abs. 4 lit. e AHVG eine formell-gesetzliche
Grundlage für die Erhebung von Verzugszinsen. Art. 26 Abs. 1 ATSG verdeutlicht
zwar, dass Verzugszinsen nur für fällige Beitragsforderungen zu leisten sind,
was schon unter altem Recht selbstverständlich war. Zum Eintritt der Fälligkeit
äussert sich das ATSG jedoch nirgends. Weil die Ausführungsbestimmungen der
AHVV auch nach dem 1. Januar 2003 in Kraft bleiben (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 20/04 vom 19. August 2004, publ. in: AHI 2004 S. 257),
ist für die Fälligkeit weiterhin Art. 41^bis AHVV massgebend. Im
BGE 134 V 202 S. 205
vorliegenden Fall anwendbar ist, wie im angefochtenen Entscheid richtig
dargelegt, Art. 41^bis Abs. 1 lit. f AHVV. Danach haben
u.a.Selbstständigerwerbende auf auszugleichenden Beiträgen, falls
dieAkontobeiträge mindestens 25 % unter den tatsächlich geschuldeten Beiträgen
liegen und nicht bis zum 1. Januar nach Ablauf des dem Beitragsjahr folgenden
Kalenderjahres entrichtet werden, ab dem 1. Januar nach Ablauf des dem
Beitragsjahr folgenden Kalenderjahres Verzugszinsen zu entrichten. Die
Ausgleichskasse hat gestützt auf diese Verordnungsbestimmung den Verzugszins
für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. Mai 2006 gefordert, was die Vorinstanz
zu Recht bestätigt hat. Inwiefern diese die Entstehungeiner Forderung mit ihrer
Fälligkeit verwechselt haben soll, wie inder Beschwerde geltend gemacht wird,
ist nicht ersichtlich, nachdem der Beginn der Verzugszinspflicht auf nicht
bezahlten Beiträgenin Art. 41^bis AHVV umfassend geregelt ist.

3.2 Im Übrigen würde auch eine von der bisherigen Rechtsprechung losgelöste, an
den anerkannten Kriterien (Wortlaut der Bestimmung, Entstehungsgeschichte,
Normzweck innerhalb des Normengefüges: BGE 131 I 394 E. 3.2 S. 396; BGE 131 II
697 E. 4.1 S. 703; BGE 131 V 90 E. 4.1 S. 93 und 286 E. 5.2 S. 292) orientierte
Auslegung von Art. 26 Abs. 1 ATSG kein abweichendes Resultat zeitigen. Der
Gesetzeswortlaut ("Für fällige Beitragsforderungen sind Verzugszinsen zu
leisten"; "les créances des cotisations échues sont soumises à la perception
d'intérêts moratoires"; "i crediti di contributi dovuti sottostanno a interessi
di mora") steht der Anwendbarkeit der Ausführungsbestimmungen der AHVV über den
1. Januar 2003 hinaus nicht entgegen. Im Gegenteil: Die italienische Version,
welche das Adjektiv "fällig", das mit Art. 26 Abs. 1 ATSG in der deutschen und
der französischen Fassung Eingang ins AHV-Verzugszinsrecht gefunden hat, nicht
verwendet, unterstützt die Auffassung, die im erwähnten Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 20/04 vom 19. August 2004 zum Ausdruck kommt. In den
für die Auslegung namentlich bei neuen Gesetzen bedeutungsvollen Materialien (
BGE 131 V 286 E. 5.2 S. 292) finden sich sodann zu Art. 26 Abs. 1 ATSG keine
Anhaltspunkte, die für die Ansicht des Beschwerdeführers und damit gegen die
weitere Anwendbarkeit der Verzugszinsordnung des Art. 41^bis AHVV und des im
Zusammenhang damit stehenden Art. 42 Abs. 2 und 3 AHVV sprechen würden.
BGE 134 V 202 S. 206

3.3

3.3.1 Mit der Vorinstanz ist des Weiteren daran zu erinnern, dass dem
Verzugszins die Funktion eines Vorteilsausgleichs wegen verspäteter Zahlung der
Hauptschuld zukommt (BGE 129 V 345 E. 4.2.1 S. 347). Die Verzugszinsen
bezwecken unbekümmert um den tatsächlichen Nutzen und Schaden, den Zinsverlust
des Gläubigers und den Zinsgewinn des Schuldners in pauschalierter Form
auszugleichen. Hingegen weist der Verzugszins nicht pönalen Charakter auf und
ist unabhängig von einem Verschulden am Verzug geschuldet. Für die
Verzugszinspflicht im Beitragsbereich ist nicht massgebend, ob den
Beitragspflichtigen oder die Ausgleichskasse ein Verschulden an der Verzögerung
der Beitragsfestsetzung oder -zahlung trifft (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts H 221/90 vom 24. Januar 1992, E. 4b, publ. in: ZAK 1992
S. 167 f.).

3.3.2 Im Lichte dieser Rechtsprechung sind die in der Beschwerde vorgebrachten
Argumente unerheblich. Nachdem die Verzugszinspflicht auch besteht, wenn der
Verzug einem Verschulden der Ausgleichskasse zuzuschreiben ist, hat die
Zinspflicht erst recht zu gelten, wenn, wie vom Beschwerdeführer behauptet, ein
Versäumnis einer anderen Amtsstelle, namentlich des Steueramtes, vorliegen
sollte, wozu sich dem angefochtenen Entscheid keinerlei Feststellungen
tatsächlicher Natur entnehmen lassen, welche für das Bundesgericht im Rahmen
von Art. 97 Abs. 1 sowie Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG verbindlich wären. Da es
ohne Belang ist, ob die Steuerbehörde ein Verschulden trifft, braucht nicht
geprüft zu werden, ob eine offensichtlich unrichtige oder auf einer
Bundesrechtsverletzung beruhende Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz im
Sinne von Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben ist, welche nach dieser Bestimmung einer
Ergänzung zugänglich wäre.

3.4 Hingewiesen sei zu guter Letzt darauf, dass die Beitragspflichtigen den
Ausgleichskassen nach Art. 24 Abs. 4 AHVV die für die Festsetzung der
Akontobeiträge erforderlichen Auskünfte zu erteilen, Unterlagen auf Verlangen
einzureichen und wesentliche Abweichungen vom voraussichtlichen Einkommen zu
melden haben. Damit hat es die beitragspflichtige Person in der Hand,
Verzugszinsen gemäss Art. 41^bis lit. f AHVV zu vermeiden, indem die
Ausgleichskasse dank rechtzeitiger Meldung des höheren Erwerbseinkommens die
Akontobeiträge heraufsetzt, womit diese weniger als 25 % unter den tatsächlich
geschuldeten Beiträgen liegen. Die (rückwirkende) Verzugszinspflicht nach
Massgabe von Art. 41^bis
BGE 134 V 202 S. 207
lit. f AHVV setzt somit nur ein, wenn die beitragspflichtige Person es - wie
hier - versäumt, der Verwaltung das höhere Einkommen rechtzeitig zu melden.

3.5 Ob die öffentliche Hand in den fraglichen Jahren (2005 und 2006) in der
Lage gewesen wäre, mit der geschuldeten Summe Erträge von über einem Prozent im
Jahr zu erwirtschaften, ist entgegen der in der Beschwerde vertretenen
Auffassung unerheblich, da der Verzugszins nicht exakt den der Verwaltung durch
den Verzug der beitragspflichtigen Person entstandenen Schaden auszugleichen
hat (E. 3.3.1 hievor) und die Höhe des Verzugszinses (seinerzeit 6 %) als
gesetzeskonform erachtet wurde (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 170/89
vom 5. März 1990, publ. in: ZAK 1990 S. 284).