Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 331



Urteilskopf

134 I 331

38. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.
gegen Kanton Schwyz (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_391/2008 vom 1. September 2008

Regeste

Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Staatshaftung; Anspruch auf eine öffentliche
Gerichtsverhandlung. Der Anspruch auf Durchführung einer mündlichen
öffentlichen Verhandlung ist noch nicht verwirkt, wenn eine solche erst im
zweiten Schriftenwechsel ausdrücklich verlangt wird. Ein während des
ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag ist grundsätzlich rechtzeitig
(E. 2 und 3).

Sachverhalt ab Seite 332

BGE 134 I 331 S. 332
A. war als Kollektivgesellschafter an einer Gärtnerei für ethnobotanische
Pflanzen in Brunnen beteiligt. Im Rahmen des Strafverfahrens, welches die
Untersuchungsbehörden des Kantons Schwyz gegen ihn und die übrigen
Gesellschafter (wegen Verdachts auf Produktion von Hanf zur
Betäubungsmittelgewinnung) eröffnet hatten, wurden am 7. Juni 2004 sämtliche
Hanfpflanzen und Produktionsanlagen der Gärtnerei mit Beschlag belegt. Im
anschliessenden Rechtsmittelverfahren erstritten die Gesellschafter die
Freigabe von Hanf und Produktionsanlagen unter "geeigneten Auflagen und
Kontrollen" (Beschluss des Schwyzer Kantonsgerichts vom 26. Mai 2006). Nachdem
die Kollektivgesellschaft am 5. Juli 2006 gelöscht worden war, reichte A. am
30. Mai 2007 Klage gegen den Kanton Schwyz ein und verlangte eine
Schadenersatzleistung in der Höhe von 391'141.60 Franken; seine ehemaligen
Mitgesellschafter hatten ihm vorgängig ihre allfälligen Ansprüche abgetreten.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz wies die Klage mit Urteil vom 2.
April 2008 ab, soweit es darauf eintrat.
Am 23. Mai 2008 hat A. beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten eingereicht. Das Bundesgericht heisst diese gut, hebt den
angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zu neuem Entscheid an das
Verwaltungsgericht zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Der Beschwerdeführer hatte im vorinstanzlichen Verfahren die Durchführung
einer öffentlichen mündlichen Verhandlung verlangt. Weil seinem Antrag nicht
entsprochen worden ist, sieht er nun Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.

2.1 Nach dieser Konventionsbestimmung ist in Streitigkeiten über
"zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" eine (mündliche) öffentliche
Verhandlung durchzuführen, sofern die Parteien nicht ausdrücklich oder
stillschweigend darauf verzichten. Von Art. 6 Ziff. 1 EMRK werden nicht nur
zivilrechtliche Streitigkeiten im eigentlichen Sinne erfasst, sondern auch
Verwaltungsakte hoheitlich handelnder Behörden, die massgeblich in private
Rechtspositionen eingreifen. In
BGE 134 I 331 S. 333
diesem Sinne als zivilrechtlich gelten unter anderem Schadenersatzforderungen
gegenüber dem Gemeinwesen (vgl. BGE 130 I 388 E. 5.1 S. 394 und E. 5.3 S. 397).
Hinsichtlich der vorliegenden Staatshaftungsstreitigkeit wird deshalb zu Recht
von keiner Seite in Frage gestellt, dass der Beschwerdeführer an sich Anspruch
auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gehabt hätte (vgl. BGE 126 I
144 E. 3a S. 150 f.). Die vom Gericht zu beurteilenden Fragen waren weder
ausschliesslich rechtlicher noch hochtechnischer Natur, so dass eine
persönliche Befragung bzw. Äusserungsmöglichkeit der Parteien nicht sinnlos -
und damit zum vornherein überflüssig - erschienen wäre (vgl. hierzu BGE 122 V
47 E. 3 S. 54 ff.; Urteil 9C_555/ 2007 vom 6. Mai 2008, E. 3.2).

2.2 Die Vorinstanz führte trotz ausdrücklichem dahingehendem Antrag des
Beschwerdeführers keine (mündliche) öffentliche Verhandlung durch. Ihre
ablehnende Haltung hat sie damit begründet, dass der betreffende Antrag nicht
rechtzeitig gestellt worden sei. Gemäss § 70 der kantonalen Verordnung über die
Verwaltungsrechtspflege (VRP/SZ) in Verbindung mit § 109 Abs. 1 der Schwyzer
Zivilprozessordnung (ZPO/SZ) könne der Gerichtspräsident für Replik und Duplik
das mündliche oder schriftliche Verfahren anordnen. Der Antrag auf Durchführung
einer mündlichen Verhandlung müsse deshalb frühzeitig - jedenfalls vor
Einreichung der schriftlichen Replik - gestellt werden. Würde einem erst in der
Replik gestellten Antrag noch entsprochen, so käme es neben dem doppelten
Schriftenwechsel zusätzlich noch zu einer mündlichen Triplik und Quadruplik,
was eine ungerechtfertigte "Verfahrensaufblähung" bedeuten würde.

2.3 Weil die Parteien auch stillschweigend auf ihren Anspruch auf eine
mündliche öffentliche Verhandlung verzichten können, haben sie in jenen
Verfahren, für die das anwendbare Prozessrecht eine solche nicht zwingend
vorschreibt, einen dahingehenden Verfahrensantrag zu stellen; unterlassen sie
dies, wird angenommen, sie hätten auf ihren Anspruch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK
verzichtet (BGE 127 I 44 E. 2e/aa S. 48; Näheres bei RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK
und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Bern 1995, S. 350 ff.). Liegt ein
entsprechender Antrag vor, so kann unter anderem dann ausnahmsweise doch von
einer öffentlichen Verhandlung abgesehen werden, wenn er "nicht frühzeitig
genug" gestellt worden ist, als schikanös erscheint oder auf eine
Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und
Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder gar rechtsmissbräuchlich ist (BGE
122 V 47 E. 3b S. 56).
BGE 134 I 331 S. 334
Zu prüfen ist hier also, ob das Verwaltungsgericht zu Recht von einer
verspäteten Antragstellung ausgegangen ist.

2.3.1 Ausser Frage steht die Rechtzeitigkeit des Antrags auf Durchführung einer
öffentlichen Gerichtsverhandlung, wenn dieser bereits in der das betreffende
Verfahren einleitenden Rechtsschrift gestellt wurde (vgl. etwa Urteil 8C_67/
2007 vom 25. September 2007, publ. in: Schweizerische Zeitschrift für
Zivilprozessrecht [SZZP] 2008 S. 6, E. 3.1; Urteil 4D_22/2007 vom 16. Juli
2007, E. 2.4 in Verbindung mit lit. C). Als rechtzeitig wurde weiter ein Antrag
betrachtet, der zwar nicht bereits in der Beschwerdeschrift, sondern erst in
einer anschliessenden Eingabe, aber noch innerhalb des ordentlichen
Schriftenwechsels gestellt und im Rahmen der Replik bekräftigt worden war
(Urteil I 98/07 vom 18. April 2007, E. 4.1). Demgegenüber beurteilte das
Eidgenössische Versicherungsgericht einen Antrag als verspätet, der mehr als 14
Monate nach Abschluss des Schriftenwechsels, aber noch während der
Rechtshängigkeit des betreffenden Verfahrens gestellt wurde (Urteil K 116/03
vom 23. November 2004, E. 1).

2.3.2 Vorliegend hat der Beschwerdeführer in seiner Klageschrift wiederholt
eine Parteibefragung sowie die Einvernahme von verschiedenen Zeugen verlangt.
Diesen Anträgen mochte zwar stillschweigend die Erwartung zugrunde liegen, dass
das Gericht eine mündliche Verhandlung durchführen werde, doch haben solche
Begehren praxisgemäss bloss den Charakter von Beweisanträgen; sie lassen für
sich allein noch nicht hinreichend klar auf den Wunsch der Partei nach einer
konventionskonformen publikumsöffentlichen Gerichtsverhandlung schliessen (BGE
122 V 47 E. 3a S. 55). Unmissverständlich verlangte der Beschwerdeführer die
Durchführung einer entsprechenden mündlichen Verhandlung erstmals in seiner
Replik. Einen genügenden Antrag stellte er damit - auch wenn er die betreffende
Eingabe erst nach gewährter zweimaliger Fristverlängerung einreichte (nachdem
der Regierungsrat seinerseits eine Fristverlängerung für die Klageantwort
erhalten hatte) - noch im Rahmen des Schriftenwechsels. Mit Blick auf die
Rechtsprechung (vgl. E. 2.3.1) sowie auf Sinn und Zweck von Art. 6 Ziff. 1 EMRK
können seine konventionsrechtlichen Ansprüche deshalb nicht verwirkt sein. In
der Regel muss ein Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung dann
als rechtzeitig gelten, wenn er während des ordentlichen Schriftenwechsels
gestellt wird (im gleichen Sinne bezüglich
BGE 134 I 331 S. 335
einer entsprechenden kantonalen Verfahrensgarantie: Urteil 2C_699/ 2007 vom 30.
April 2008, E. 2.2 nicht publ. in BGE 134 II 108).

2.3.3 Der blosse Umstand, dass Replik und Duplik gemäss dem einschlägigen
kantonalen Verfahrensrecht auf Anordnung des Gerichtspräsidenten auch mündlich
hätten vorgetragen werden können (vgl. § 109 ZPO/SZ) und dass deshalb bei einer
frühzeitigen Stellung des Antrags auf eine (mündliche) öffentliche Verhandlung
im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK von einem zweiten Schriftenwechsel hätte
abgesehen werden können, lässt den in der (schriftlichen) Replik gestellten
Antrag nicht missbräuchlich erscheinen: Zum einen erschöpft sich der Sinn einer
öffentlichen Gerichtsverhandlung nicht darin, auf die Vorbringen der
Gegenpartei mündlich antworten zu können, sondern die Verfahrensbeteiligten
erhalten damit auch die Möglichkeit eines direkten Kontakts mit dem Richter.
Des Weiteren hätte der Verfahrensleiter hier den mit der Replik gestellten
Antrag, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, zum Anlass nehmen können,
auf einen zweiten Schriftenwechsel (allenfalls unter Zurückweisung der
eingereichten Rechtsschrift) zu verzichten und die Parteien stattdessen für
Replik und Duplik auf die mündliche öffentliche Verhandlung zu verweisen. Aus
diesen Überlegungen erhellt, dass § 109 ZPO/SZ keineswegs zwingend voraussetzt,
dass das durch Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistete Recht auf eine mündliche
Verhandlung bereits mit der Klageschrift geltend gemacht wird.

2.4 Ferner gibt es keine Hinweise auf ein schikanöses, auf blosse Verzögerung
ausgerichtetes oder sonst wie missbräuchliches prozessuales Verhalten des
Beschwerdeführers. Weil das gegen Letzteren ergangene (erstinstanzliche)
Straferkenntnis, welches für die Beurteilung der streitigen Ersatzforderung von
erheblicher Bedeutung sein dürfte, im Zeitpunkt der Urteilsfällung durch das
Verwaltungsgericht noch nicht rechtskräftig war (bzw. noch nicht einmal
schriftlich begründet war und mit der Möglichkeit eines Weiterzugs gerechnet
werden musste), sprachen auch keine Gründe der zeitlichen Dringlichkeit gegen
die Ansetzung der beantragten mündlichen Parteiverhandlung.

3.

3.1 Nach dem Gesagten hat das Verwaltungsgericht, indem es den Antrag des
Beschwerdeführers auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung zu Unrecht
als verspätet betrachtet hat, Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt. Eine Heilung dieses
Mangels durch eine öffentliche
BGE 134 I 331 S. 336
Parteiverhandlung im Verfahren vor Bundesgericht ist schon mit Blick auf dessen
wesentlich engere Kognition ausgeschlossen (vgl. BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390;
BGE 126 I 68 E. 2 S. 72). Das Bundesgericht kann die Anwendung der
Haftungsbestimmungen des kantonalen Rechts nicht frei, sondern nur unter dem
Gesichtswinkel des Willkürverbots prüfen (vgl. Art. 95 BGG), und es wäre
überdies grundsätzlich an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz
gebunden (vgl. Art. 97 und Art. 105 BGG). Mithin ist die Beschwerde
gutzuheissen und die Sache zu neuem Entscheid an das Verwaltungsgericht
zurückzuweisen, ohne dass es darauf ankäme, ob Aussichten auf eine günstigere
Beurteilung der streitigen Schadenersatzforderung bestehen.

3.2 Auch wenn im vorliegenden bundesgerichtlichen Entscheid nur
formell-rechtliche Fragen erörtert werden, geht es im Verfahren letztlich doch
um Vermögensinteressen, weshalb der unterliegende Kanton Schwyz kostenpflichtig
wird (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG e contrario). Er hat zudem den Beschwerdeführer
für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 BGG),
so dass das gestellte Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und
Verbeiständung hinfällig wird.