Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 286



Urteilskopf

134 I 286

33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Verein
gegen Tierfabriken Schweiz VgT und Erwin Kessler gegen Staatsanwaltschaft des
Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_302/2007 vom 2. April 2008

Regeste

Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Öffentlichkeitsprinzip, Einsicht in
verfahrensabschliessende strafprozessuale Entscheide. In begründeten Fällen
kann aus dem Öffentlichkeitsprinzip auch ein Einsichtsrecht von Interessierten
in strafprozessuale Entscheide (insbesondere Einstellungsverfügungen) folgen,
welche eine nichtgerichtliche Verfahrenserledigung ohne Straffolgen nach sich
ziehen. Dies setzt voraus, dass der Gesuchsteller ein schutzwürdiges
Informationsinteresse nachweist und der beantragten Einsicht keine
überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen (E. 5 und
6).

Sachverhalt ab Seite 287

BGE 134 I 286 S. 287
Am 18. August 2006 ersuchten Erwin Kessler und der Verein gegen Tierfabriken
Schweiz (VgT) bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau um Einsicht in die
in den letzten fünf Jahren vom Bezirksamt Arbon erlassenen Strafentscheide,
inklusive Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen, betreffend X. bzw. Y.
Mit Verfügung vom 5. Februar 2007 wies die Staatsanwaltschaft das Begehren ab.
Gegen die Verfügung vom 5. Februar 2007 erhoben Erwin Kessler und der VgT
Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Thurgau hiess diese mit Beschluss vom
14. Mai 2007 teilweise gut. Das Begehren um Einsicht in die materiellen
Strafentscheide wurde zuständigkeitshalber an das Bezirksamt Arbon überwiesen.
Soweit Einsicht in Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen beantragt
worden war, überwies das Obergericht die Beschwerde zuständigkeitshalber an die
Anklagekammer des Kantons Thurgau.
Mit Beschluss vom 3. Juli 2007 hob die Anklagekammer des Kantons Thurgau die
Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 5. Februar 2007 im Beschwerdeverfahren
auf. Gleichzeitig wies sie das Gesuch um Einsicht in die fraglichen
Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen des Bezirksamtes Arbon ab.
Gegen den Beschluss der Anklagekammer vom 3. Juli 2007 gelangten Erwin Kessler
und der VgT mit Beschwerde an das Bundesgericht. Dieses heisst die Beschwerde
gut.
BGE 134 I 286 S. 288

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

5. In BGE 124 IV 234 hatte das Bundesgericht den Fall eines Strafanzeigers zu
beurteilen, dem die Einsicht in einen rechtskräftigen Strafbescheid verweigert
worden war.

5.1 Die Strafverfügung war im abgekürzten Verfahren nach VStrR (SR 313.0)
erlassen worden. Das Bundesgericht erwog zunächst, dass der Anzeiger keine
Parteirechte ausgeübt habe, weshalb ihm die Strafverfügung nicht förmlich
eröffnet werden musste (BGE 124 IV 234 E. 2a-c S. 237). Es erwog weiter, dass
unter dem Gesichtspunkt des Öffentlichkeitsgrundsatzes (Art. 6 Ziff. 1 EMRK,
Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II [SR 0.103.2], Art. 30 Abs. 3 BV) zwischen der
förmlichen Eröffnung an die Parteien und der öffentlichen Verkündung des
Straferkenntnisses zu unterscheiden ist: Der Anspruch auf öffentliche
Urteilsverkündung bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz.
Die Kontrolle durch die Öffentlichkeit soll nicht nur eine korrekte und
gesetzmässige Behandlung der Verfahrensbeteiligten durch die Strafjustiz
gewährleisten. Die allgemeine Öffentlichkeit soll darüber hinaus Kenntnis
erhalten können, wie das Recht verwaltet und wie die Rechtspflege ausgeübt
wird. Der Öffentlichkeitsgrundsatz sorgt damit auch für Transparenz in der
Rechtspflege, die eine demokratische Kontrolle durch das Volk erst ermöglicht
und als wesentliches Element des Rechts auf ein faires Verfahren zu den
Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates gehört (BGE 124 IV 234 E. 3b S.
238; s. auch BGE 133 I 106 E. 8.1-8.2 S. 107 f.; BGE 121 II 22 E. 4c S. 27 f.;
BGE 119 Ia 99 E. 4a S. 104, je mit Hinweisen). Der entsprechende
Informationsanspruch steht daher nicht nur den Parteien des Strafverfahrens zu,
sondern grundsätzlich auch der interessierten Öffentlichkeit (BGE 124 IV 234 E.
3c S. 239 mit Hinweis). Zwar verlangt das Bundesgericht, dass die Person,
welche Einsicht in Strafverfügungen verlangt, eine berechtigtes Interesse
darlegt. Für behördliche Einschränkungen des Einsichtsrechtes sind jedoch
strenge Massstäbe anzulegen. Es genügt deshalb, wenn der Gesuchsteller ein
ernsthaftes Interesse an der Kenntnisnahme glaubhaft macht. Ein solches
Interesse ist insbesondere für den Anzeiger im Verwaltungsstrafverfahren zu
bejahen (BGE 124 IV 234 E. 3d S. 239 f. mit Hinweisen).

5.2 Das Bundesgerichtsurteil 1P.298/2006 vom 1. September 2006 betraf den VgT.
Dieser hatte einen Aargauer Landwirt wegen tierschutzgesetzwidriger Haltung von
Schweinen und Kaninchen
BGE 134 I 286 S. 289
angezeigt. Der Tierhalter wurde in der Folge vom Bezirksamt Baden mit Fr. 500.-
gebüsst. Der VgT verlangte eine Kopie des betreffenden Strafbefehls. Die
ablehnenden Entscheide der kantonalen Behörden zog er ans Bundesgericht weiter.
Dieses hiess die staatsrechtliche Beschwerde teilweise gut. Das Bundesgericht
erwog, es bestehe gestützt auf den Öffentlichkeitsgrundsatz zwar kein Anspruch
auf amtliche Zustellung von Entscheidkopien. Der VgT habe als Anzeigeerstatter
jedoch das Recht, auf der Kanzlei der Untersuchungsbehörde Einsicht in den
Strafbefehl zu nehmen und sich dabei (allenfalls gegen eine Gebühr) eine Kopie
der Verfügung erstellen zu lassen.

6. Die Vorinstanz vertritt die Ansicht, bei Einstellungs- und
Nichtanhandnahmeverfügungen sei eine Einsichtnahme durch Dritte (auch durch
Anzeigeerstatter) von vornherein ausgeschlossen, da solche Verfügungen keine
oder nur eine beschränkte materielle Rechtskraft nach sich zögen. Diese
Auffassung erscheint im Lichte der dargelegten Rechtsprechung zu formalistisch.
Sie trägt weder dem rechtsstaatlichen Öffentlichkeitsgrundsatz ausreichend
Rechnung noch den individuellen Grundrechten von Privaten mit schutzwürdigen
Informationsinteressen.

6.1 Zwar betraf BGE 124 IV 234 den Fall eines Strafbescheides (der im
abgekürzten Verfahren nach VStrR erlassen worden war). Das Bundesgericht hat
dort jedoch nicht entschieden, dass bei Verfahrensabschlüssen ohne Straffolgen
der Öffentlichkeitsgrundsatz schlechterdings unbeachtlich wäre. Diesem und den
daraus abgeleiteten Informationsrechten wird vielmehr eine allgemeine und
zentrale rechtsstaatliche Bedeutung zugeschrieben: Das Öffentlichkeitsprinzip
gehöre zu den elementaren Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates und
bedeute eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Die interessierte
Öffentlichkeit müsse erfahren können, wie das Recht verwaltet und wie die
Rechtspflege ausgeübt wird. Der Öffentlichkeitsgrundsatz sorge für Transparenz
in der Rechtspflege, die eine demokratische Kontrolle durch das Volk erst
ermögliche (BGE 124 IV 234 E. 3b S. 238; s. auch BGE 133 I 106 E. 8.1 S. 107
mit Hinweisen).

6.2 Eine Verfahrenserledigung durch Einstellungs- und
Nichtanhandnahmeverfügungen erfolgt grundsätzlich, wenn im Hinblick auf eine
gerichtliche Beurteilung des beanzeigten Falles mit grosser Wahrscheinlichkeit
ein Freispruch (mangels Beweisen oder mangels Strafbarkeit) erfolgen würde bzw.
eine Verfahrenseinstellung
BGE 134 I 286 S. 290
aufgrund eines Prozesshindernisses (§§ 20, 73 Abs. 4 und 137-141 StPO/TG; vgl.
auch ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL HARTMANN, Schweizerisches
Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 78 Rz. 2-17). Soweit in
Nichteintretens- und Einstellungsverfügungen die Tatverantwortung des
Beanzeigten verneint wird, sind auch diese zu den strafprozessualen
Sachentscheiden zu zählen (vgl. NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Aufl.,
Zürich 2004, § 37 Rz. 573 und Fn. 65). In den übrigen Fällen stellen sie
verfahrenserledigende Prozessentscheide dar (vgl. SCHMID, a.a.O., Rz. 580).

6.3 In begründeten Fällen kann die Öffentlichkeit und können interessierte
Private durchaus ein legitimes Interesse an der Klärung der Frage haben,
weshalb es zu nichtgerichtlichen Verfahrenserledigungen ohne Straffolgen durch
Sach- und Prozessentscheide kommt. Ein solches Informationsbedürfnis kann sich
insbesondere bei systematischen bzw. auffällig häufigen Verfahrenserledigungen
dieser Art durch Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden bzw.
Staatsanwaltschaften aufdrängen, gerade in Bereichen, die auf ein besonderes
Interesse der Öffentlichkeit stossen. Bei nicht verfahrensbeteiligten Dritten
erscheint es allerdings geboten, ein schutzwürdiges Informationsinteresse zu
verlangen (vgl. BGE 124 IV 234 E. 3d S. 239 f.). Ein solches Interesse ist
ausserdem (im Lichte des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes) gegen allfällige
besondere Geheimhaltungsinteressen der Justizbehörden oder von mitbetroffenen
Dritten abzuwägen (vgl. BGE 133 I 106 E. 8.1 S. 107 f.). Einsichtsgesuche
dürfen insbesondere das gute Funktionieren der Strafjustiz nicht gefährden und
finden eine Schranke auch am Rechtsmissbrauchsverbot. Bei entgegenstehenden
privaten oder öffentlichen Interessen ist allerdings zu prüfen, ob diesen durch
Kürzung oder Anonymisierung ausreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. BGE
124 IV 234 E. 3c S. 239). Jegliche Information aus diesem Bereich der
Justiztätigkeit von vornherein völlig auszuschliessen, hiesse demgegenüber,
rechtsstaatlich unzulässige Reservate möglicher behördlicher Willkür oder
intransparenter "Geheimjustiz" zu öffnen.

6.4 Zwar wird in der Lehre teilweise die Ansicht vertreten, der
Öffentlichkeitsgrundsatz beschränke sich in der Regel auf materielle
Straferkenntnisse bzw. Strafverfügungen (vgl. HANS WIPRÄCHTIGER, Kontrolle der
Strafjustiz durch Medien und Öffentlichkeit - eine Illusion?, Medialex 2004 S.
38 ff., 44). Eine allzu rigide formale Unterscheidung trüge jedoch der
dargelegten rechtsstaatlichen Funktion des Öffentlichkeitsprinzips nicht
ausreichend Rechnung.
BGE 134 I 286 S. 291
Ausserdem übersähe sie, dass in gewissen Fällen (nämlich soweit darin die
Tatverantwortung des Beanzeigten verneint wird) auch Einstellungsverfügungen
den strafprozessualen Sachentscheiden zuzurechnen sind.

6.5 Nach der dargelegten Praxis ergibt sich aus Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK kein pauschaler und unbeschränkter Anspruch von nicht
verfahrensbeteiligten Dritten, in Straferkenntnisse bzw. Einstellungs- und
Nichtanhandnahmeverfügungen Einsicht zu nehmen. Art. 30 BV bezeichnet als
Grundrechtsträger jene Personen, "deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren
beurteilt werden muss". Auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK schützt primär den Angeklagten
und die übrigen Parteien des Strafverfahrens (insbesondere allfällige
Geschädigte mit Parteistellung). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes
ist der rechtsstaatlichen Funktion und dem Schutzbereich des
Öffentlichkeitsgrundsatzes jedoch ausreichend Rechnung zu tragen. Insbesondere
hat der demokratische Rechtsstaat sicherzustellen, dass sich Medien, aber auch
interessierte Institutionen und Private mit schutzwürdigen
Informationsinteressen über wichtige Bereiche der Justiztätigkeit ausreichend
informieren können. Der betreffende Anspruch steht nicht nur den Parteien des
Strafverfahrens zu, sondern auch der interessierten Öffentlichkeit (BGE 124 IV
234 E. 3c S. 239). Das Bundesgericht hat in diesem Zusammenhang entschieden,
dass nicht nur Geschädigte bzw. Strafkläger mit Parteistellung grundsätzlich
das Recht haben, in sie tangierende verfahrensabschliessende Verfügungen
Einsicht zu erhalten, sondern auch blosse Strafanzeiger (BGE 124 IV 234 E. 3d
S. 240). Wie dargelegt, wäre angesichts der zentralen rechtsstaatlichen
Funktion des Öffentlichkeitsprinzips kein überzeugender Grund ersichtlich,
diese Praxis ausnahmslos auf materielle Straferkenntnisse zu beschränken.

6.6 Nach dem Gesagten kann aus dem grundrechtlich verankerten rechtsstaatlichen
Öffentlichkeitsprinzip (Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK) ein
Informationsanspruch und Einsichtsrecht fliessen, sofern der Gesuchsteller ein
schutzwürdiges Informationsinteresse nachweisen kann und keine überwiegenden
öffentlichen oder privaten Interessen der beantragten Einsichtnahme
entgegenstehen.

6.7 Unbestrittenermassen handelt es sich beim VgT um einen Verein, der sich
gemäss seinen Statuten für die Durchsetzung der einschlägigen
Tierschutzvorschriften zugunsten von Nutztieren
BGE 134 I 286 S. 292
einsetzt. Erwin Kessler nimmt als Vereinspräsident die Interessen des VgT wahr.
Eine nach Ansicht der Beschwerdeführer tierschutzgesetzwidrige Haltung von 80
Pferden durch zwei im Kanton Thurgau ansässige Pferdehändler habe in den
vergangenen 6-7 Jahren zu verschiedenen Anzeigen sowie zu Verzeigungen seitens
des kantonalen Veterinäramtes geführt. Diese Verfahren seien auf dubiose Weise
allesamt im Sand verlaufen bzw. vom zuständigen Untersuchungsrichter
systematisch eingestellt worden. Die kantonalen Behörden nehmen zu diesen
Darlegungen keine Stellung. Ebenso wenig machen sie überwiegende öffentliche
oder private Interessen geltend, die der beantragten Einsicht in die fraglichen
Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen entgegenstehen könnten.

6.8 Bei dieser Sachlage erweist sich die Beschwerde als begründet. Der
angefochtene Entscheid ist zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die kantonalen Behörden haben eine Interessenabwägung im Sinne der obigen
Erwägungen zu treffen. Fällt diese zugunsten der Beschwerdeführer aus, ist ihr
Einsichtnahmegesuch zu bewilligen.