Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 199



Urteilskopf

134 I 199

22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Scherr
und Mitb. gegen Stadt Zürich und Bezirksrat Zürich (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_451/2007 vom 17. März 2008

Regeste

Art. 5 Abs. 3 und Art. 29a BV, Art. 49, 82 lit. c, 88 und 130 Abs. 3 und 4 BGG;
Rechtsweggarantie, Letztinstanzlichkeit eines kantonalen Entscheids in
Stimmrechtsangelegenheiten, unrichtige Rechtsmittelbelehrung. Erfordernis einer
richterlichen Behörde als letzte kantonale Rechtsmittelinstanz in kantonalen
und kommunalen Stimmrechtsangelegenheiten (E. 1.2). Das kantonale
Ausführungsrecht sieht die Beschwerde an das kantonale Verwaltungsgericht vor
(E. 1.2.1). Die Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung war für die
Beschwerdeführer nicht ohne Weiteres erkennbar. Die Stimmrechtsbeschwerde wird
dem Verwaltungsgericht zur Behandlung überwiesen (E. 1.3).

Sachverhalt ab Seite 200

BGE 134 I 199 S. 200
Der Gemeinderat Zürich genehmigte am 16. Dezember 2006 den Entwurf zum Budget
der laufenden Rechnung und der Investitionsrechnung für das Jahr 2007 und
lehnte dabei einen in der Budgetdebatte gestellten Antrag, die Ausgaben für die
Sanierung der Hardbrücke nicht zu genehmigen, ab. Mit Beschlüssen vom 20.
Dezember 2006 setzte der Stadtrat von Zürich das Instandsetzungsprojekt
Hardbrücke fest und bewilligte als neue Ausgabe einen Objektkredit von 1,85
Mio. Franken für den Bau eines kombinierten Rad-/Gehwegs zwischen Hardplatz und
Bahnhof Hardbrücke sowie gebundene Ausgaben von insgesamt 88,5 Mio. Franken für
die Instandsetzung der Hardbrücke. Diese Finanzbeschlüsse wurden keinem
Referendum unterstellt.
Niklaus Scherr und Mitbeteiligte gelangten gegen die Beschlüsse des Stadtrats
mit Stimmrechtsrekurs an den Bezirksrat Zürich, der das Rechtsmittel am 5. Juli
2007 abwies und den für die Instandsetzung der Hardbrücke bewilligten Betrag
als gebundene Ausgaben bezeichnete. Einen gegen den Entscheid des Bezirksrats
erhobenen Rekurs wies der Regierungsrat des Kantons Zürich mit Beschluss vom 7.
November 2007 ab, soweit er darauf eintreten konnte.
Mit als Stimmrechtsbeschwerde bezeichneter Eingabe vom 14. Dezember 2007
beantragen die im kantonalen Verfahren unterlegenen Rekurrenten unter anderem,
der Entscheid des Regierungsrats sei aufzuheben.
Das Bundesgericht überweist die Eingabe der Beschwerdeführer dem
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich zur Beurteilung.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82
lit. c BGG kann die Verletzung politischer Rechte geltend gemacht werden. Dazu
zählt die Rüge, ein Finanzbeschluss sei zu Unrecht nicht dem Referendum
unterstellt worden. Zur Beschwerde ist gemäss Art. 89 Abs. 3 BGG legitimiert,
wer in der betreffenden Angelegenheit stimmberechtigt ist. Dieses Erfordernis
erfüllen
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die Beschwerdeführer. Die Beschwerdefrist von Art. 100 Abs. 1 BGG ist
eingehalten.

1.2 Beschwerden betreffend Volksabstimmungen in kantonalen Angelegenheiten sind
gegen Akte letzter kantonaler Instanzen zulässig (Art. 88 Abs. 1 lit. a BGG).
Die Kantone sehen gegen behördliche Akte, welche die politischen Rechte
verletzen können, ein Rechtsmittel vor (Art. 88 Abs. 2 Satz 1 BGG). Diese
Pflicht erstreckt sich nicht auf Akte des Parlaments oder der Regierung (Art.
88 Abs. 2 Satz 2 BGG).
Vor dem Hintergrund von Art. 29a BV und der Zielsetzungen des
Bundesgerichtsgesetzes hat das Bundesgericht entschieden, dass die Kantone als
Rechtsmittelinstanz im Sinne von Art. 88 Abs. 2 Satz 1 BGG eine gerichtliche
Behörde einsetzen müssen. Diese Pflicht besteht sowohl in kantonalen als auch
in kommunalen Stimmrechtsangelegenheiten (Urteile des Bundesgerichts 1P.338/
2006 und 1P.582/ 2006 vom 12. Februar 2007, E. 3.10, publ. in: ZBl 108/2007 S.
313; 1C_185/2007 vom 6. November 2007, E. 1.2 mit Hinweisen).

1.2.1 Die Kantone sind gemäss Art. 130 Abs. 3 BGG verpflichtet, innert zwei
Jahren seit Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes die erforderlichen
Ausführungsbestimmungen über die Zuständigkeit, die Organisation und das
Verfahren der bundesgerichtlichen Vorinstanzen zu erlassen. § 43 Abs. 1 lit. a
des Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Zürich vom 24. Mai 1959 (VRG)
schliesst die Beschwerde an das kantonale Verwaltungsgericht auf dem Gebiet von
Wahlen und Abstimmungen grundsätzlich aus (vgl. ALFRED KÖLZ/JÜRG BOSSHART/
MARTIN RÖHL, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2.
Aufl., Zürich 1999, § 43 N. 5). § 43 Abs. 2 VRG sieht jedoch vor, dass die
Beschwerde an das Verwaltungsgericht auch in den Fällen von Abs. 1 zulässig
ist, soweit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht offensteht
oder wenn es sich um eine Angelegenheit gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK handelt.
Nach § 5 der Verordnung des Regierungsrats des Kantons Zürich vom 29. November
2006 über die Anpassung des kantonalen Rechts an das Bundesgerichtsgesetz (VO
BGG; OS 61,480) ist unter Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht
die ordentliche Beschwerde an das Bundesgericht zu verstehen. Diese genannte
Verordnung des Regierungsrats trat gleichzeitig wie das Bundesgerichtsgesetz am
1. Januar 2007 in Kraft. Damit hat der Regierungsrat von der ihm in Art. 130
Abs. 4 BGG in
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Verbindung mit Art. 67 der Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005
(KV/ZH) eingeräumten Kompetenz Gebrauch gemacht, die Ausführungsbestimmungen in
die Form nicht referendumspflichtiger Erlasse zu kleiden, sofern dies zur
Einhaltung der Fristen nach den Absätzen 1-3 von Art. 130 BGG notwendig ist.
Der Regierungsrat hat in § 5 VO BGG keine Vorbehalte in Bezug auf die früher
nicht der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht unterlegenen
kantonalen Rechtsmittelentscheide und Stimmrechtsangelegenheiten angebracht
(Art. 82 lit. a und c BGG). Dass er die zweijährige Übergangsfrist gemäss Art.
130 Abs. 3 BGG nicht ausgeschöpft hat, ist nicht zu beanstanden.

1.2.2 In der vorliegenden Angelegenheit sind kommunale Kreditbeschlüsse
umstritten, welche wie erwähnt nach den Vorschriften des Bundesgerichtsgesetzes
der ordentlichen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das
Bundesgericht unterliegen, nachdem ein kantonal letztinstanzlicher
Rechtsmittelentscheid vorliegt. Gemäss § 43 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 VRG in
Verbindung mit § 5 VO BGG ist in solchen Fällen deshalb die Beschwerde an das
kantonale Verwaltungsgericht zulässig. Das Verwaltungsgericht ist als einzige
richterliche Behörde zur freien Sachverhaltsprüfung und zur Rechtsanwendung von
Amtes wegen sowie zur Wahrung der Einheit des Verfahrens verpflichtet (Art. 110
f. BGG). Es ergibt sich, dass mit dem angefochtenen Entscheid des
Regierungsrats kein kantonal letztinstanzlicher Entscheid im Sinne von Art. 88
Abs. 1 lit. a BGG vorliegt.

1.3 Das Bundesgericht verzichtet in konstanter Praxis auf das Erfordernis der
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges, wenn an der Zulässigkeit eines
Rechtsmittels ernsthafte Zweifel bestehen (BGE 132 I 92 E. 1.5 S. 94 mit
Hinweisen). Solche Zweifel bestehen nach den vorstehenden Erwägungen nicht.

1.3.1 Unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) ist zu
beachten, dass der angefochtene Entscheid eine Rechtsmittelbelehrung enthält,
nach welcher gegen den Regierungsratsentscheid beim Bundesgericht Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben werden könne. Aus einer
unrichtigen Rechtsmittelbelehrung dürfen den Parteien keine Nachteile erwachsen
(Art. 49 BGG; Art. 18 Abs. 2 KV/ZH; BGE 132 I 92 E. 1.6 S. 96). Wird aufgrund
einer unrichtigen Belehrung ein falsches Rechtsmittel ergriffen, kann die Sache
daher von Amtes wegen an die zuständige Instanz
BGE 134 I 199 S. 203
überwiesen werden (BGE 123 II 231 E. 8b S. 239 f. mit Hinweisen). Allerdings
geniesst nur Vertrauensschutz, wer die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung
nicht kennt und sie auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen
können. Rechtsuchende geniessen keinen Vertrauensschutz, wenn der Mangel für
sie bzw. ihren Rechtsvertreter allein schon durch Konsultierung der
massgeblichen Verfahrensbestimmung ersichtlich ist. Dagegen wird nicht
verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch noch die einschlägige
Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird (vgl. BGE 124 I 255 E. 1a/ aa
S. 258; BGE 117 Ia 119 E. 3a S. 125, BGE 117 Ia 421 E. 2a, je mit weiteren
Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts 1P.653/1997 vom 13. Februar 1998, publ.
in: ZBl 100/1999 S. 80 ff.).

1.3.2 Der angefochtene Beschluss enthält eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung.
Es war für die nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer nicht ohne
Weiteres erkennbar, dass das Verwaltungsgericht als letzte kantonale Instanz
zur Beurteilung der vorliegenden Stimmrechtsangelegenheit zuständig ist, da
dies nicht dem Wortlaut von § 5 VO BGG und § 43 Abs. 2 VRG entnommen werden
kann, sondern nur im Zusammenhang mit den Neuerungen, die sich aus der
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ergeben, ersichtlich ist.
Unter diesen Umständen ist die Beschwerde dem Verwaltungsgericht des Kantons
Zürich zur Behandlung zu überweisen (vgl. BGE 132 I 92 E. 1.6 S. 96; BGE 125 I
313 E. 5 S. 320 mit Hinweis).