Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 153



Urteilskopf

134 I 153

16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X.
gegen Erziehungsrat des Kantons St. Gallen (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_704/2007 vom 1. April 2008

Regeste

Art. 5 Abs. 2 und Art. 9 BV; Art. 95 lit. a BGG; Kognition des Bundesgerichts
bei der Verhältnismässigkeitsprüfung von kantonalrechtlichen Anordnungen.
Ausserhalb von Grundrechtseingriffen (Art. 36 Abs. 3 BV) schreitet das
Bundesgericht wegen Verletzung des Verhältnismässigkeitsgebots nur dann ein,
wenn die kantonalrechtliche Anordnung offensichtlich unverhältnismässig ist und
damit gleichzeitig gegen das Willkürverbot verstösst (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 154

BGE 134 I 153 S. 154
X., geboren 1988, trat auf Beginn des Schuljahres 2005/2006 in die
Wirtschaftsmittelschule K. ein. Am 14. Februar 2006 sprach der Rektor gegen ihn
wegen Störung des Unterrichts, Fussballspielen mit einer Plastikflasche sowie
wiederholtem Vergessen von Hausaufgaben einen schriftlichen Verweis aus. Am 25.
Mai 2006 erliess die Rektoratskommission eine bis Ende des Schuljahres 2005/
2006 befristete Androhung des Schulausschlusses (Ultimatum) gegen X. Als Gründe
für diese Disziplinarmassnahme wurden u.a. die Wegweisung aus einer
Französischstunde infolge Störung des Unterrichts sowie Sachbeschädigungen
(Flecken auf einer weissen Wand durch hingeworfene Kautabakkügelchen) genannt.
Bis zum Ablauf dieses Ultimatums verhielt sich X. darauf korrekt.
Im Schuljahr 2006/2007 kam es bei X. erneut zu Fehlverhalten (mehrmalige
Störung des Unterrichts durch Schwatzen und Schreiben von SMS und darauf
folgende Ausschlüsse aus dem Unterricht; häufiges Vergessen des
Unterrichtsmaterials), worauf die Rektoratskommission am 8. Januar 2007
wiederum ein bis zum Ende des Schuljahres befristetes Ultimatum aussprach.
Diese Androhung war - wie schon die vorangegangene - in die Form einer mit
Rechtsmittelbelehrung versehenen Verfügung gekleidet und blieb unangefochten.
In der Folge kam es zu erneuten Vorfällen ("Fast-Einschlafen" im Unterricht
wegen Übermüdung nach einem Eishockeymatch; Weigerung, nach einer
Unterrichtsstörung das Schulzimmer zu verlassen; Benützung eines unerlaubten
Hilfsmittels bzw. "Spicken" während einer Prüfung), worauf die
Rektoratskommission und die Klassenkonferenz am 9. Juli 2007 dem Erziehungsrat
des Kantons St. Gallen den Antrag stellten, X. aus der Schule auszuschliessen.
Nachdem sich der Betroffene durch seinen Rechtsvertreter dazu hatte äussern
können, beschloss der Erziehungsrat am 29./30. August 2007 den Schulausschluss
von X. Eine von Letzterem hiergegen erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen am 5. November 2007 ab.
Nachdem die Vereinigung sämtlicher Abteilungen im Sinne der nachstehenden
Erwägungen entschieden hat, mit welcher Kognition im Rahmen einer Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die Verhältnismässigkeit zu prüfen ist,
wenn die Anwendung kantonalen Gesetzesrechts ausserhalb von
Grundrechtseingriffen in Frage steht, weist das Bundesgericht die von X. gegen
den Verwaltungsgerichtsentscheid erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten ab.
BGE 134 I 153 S. 155

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Art. 47 des Mittelschulgesetzes des Kantons St. Gallen vom 12. Juni 1980
(MSG; sGS 215.1), der die gesetzliche Grundlage der Disziplinarordnung an
staatlichen Mittelschulen darstellt, umschreibt in Abs. 1 die Disziplinarfehler
wie folgt: Vernachlässigung von Schülerpflichten (lit. a), Verletzung der
Schulordnung (lit. b) sowie Verhalten in Schule und Öffentlichkeit, das mit der
Zugehörigkeit zur Mittelschule nicht vereinbar ist (lit. c). Gemäss Abs. 2
können für derartige Regelverstösse als schwerste Disziplinarmassnahmen der
Ausschluss aus der Schule (durch den Erziehungsrat; lit. b) und die befristete
Androhung des Schulausschlusses (durch die Rektoratskommission; lit. a) verfügt
werden. Diese Disziplinarordnung wird durch Art. 30 bis Art. 37 der
Mittelschulverordnung vom 17. März 1981 (MSV; sGS 215.11) näher ausgeführt.
Art. 33 MSV bestimmt für die Zumessung der Disziplinarsanktion, dass sich diese
"nach den Beweggründen, dem Mass des Verschuldens, dem bisherigen Verhalten an
der Schule sowie nach Umfang und Bedeutung der gestörten oder gefährdeten
Interessen" zu richten hat.

3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, der gegenüber ihm verfügte
Schulausschluss verstosse gegen das Willkürverbot (Art. 9 BV; vgl. BGE 127 I 60
E. 5a S. 70). Unter dem Vorwand, sämtliche Disziplinarfehler seien nicht als
schwer zu betrachten, sei die Durchführung einer förmlichen
Disziplinaruntersuchung - in deren Rahmen der massgebende Sachverhalt hätte
abgeklärt und auch entlastende Momente hätten festgehalten werden müssen -
umgangen worden. Alsdann sei dennoch die schwerstmögliche Massnahme angeordnet
worden, was in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufe: Ein
Schüler, der einen schweren Disziplinarfehler begangen habe, komme in den
Genuss einer Disziplinaruntersuchung, bei welcher der Sachverhalt sorgfältig
untersucht und auch entlastende Elemente berücksichtigt würden, während ein
Schüler, dem nur leichte oder mittelschwere Disziplinarfehler vorgeworfen
würden, insoweit schlechter gestellt sei, als er ohne Disziplinaruntersuchung
von der Schule gewiesen werden könne.

3.3 Mit dieser Argumentation lässt der Beschwerdeführer ausser Acht, dass er
seine jüngsten Verfehlungen, die zum Schulausschluss geführt haben, während der
"Bewährungsfrist" eines Ultimatums begangen hat. Die entsprechende Androhung
des Schulausschlusses enthielt nicht nur einen schweren Tadel für sein
bisheriges
BGE 134 I 153 S. 156
Fehlverhalten, sondern hatte zugleich die rechtliche Wirkung, dass während der
festgelegten Frist schon geringfügige neue Disziplinarfehler den
Schulausschluss nach sich ziehen konnten (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom
24. Mai 1978, E. 1a, publ. in: ZBl 79/1978 S. 508). Das betreffende Ultimatum
ist am 8. Januar 2007 in Verfügungsform ausgesprochen worden und unangefochten
in Rechtskraft erwachsen. Einwendungen über die Berechtigung dieser Massnahme
können deshalb grundsätzlich nicht mehr gehört werden.

3.4 Es steht weiter fest, dass der Beschwerdeführer während der Bewährungsfrist
des fraglichen Ultimatums erneut negativ aufgefallen ist, indem er während
einer Prüfung ein unerlaubtes Hilfsmittel benutzte und sich nach einer
Unterrichtsstörung weigerte, das Schulzimmer zu verlassen. Wie diese beiden
Verfehlungen für sich allein gesehen disziplinarrechtlich zu gewichten und zu
sanktionieren wären, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Das erwähnte
Verhalten verstiess jedenfalls - was auch dem Beschwerdeführer bewusst sein
musste - selbst bei Berücksichtigung der von ihm hervorgehobenen Umstände klar
gegen die Disziplinarordnung. Weil er die fraglichen Regelverstösse während
eines laufenden Ultimatums beging, konnten ihn die Schulbehörden des Kantons
St. Gallen - der vorangegangenen förmlichen Androhung entsprechend - von der
Schule ausschliessen, ohne dadurch Art. 9 BV zu verletzen. Dass eine andere
Lösung ebenfalls vertretbar gewesen wäre oder den berührten Interessen
allenfalls gar besser gerecht geworden wäre, ist unter dem Gesichtswinkel des
hier angerufenen Willkürverbots ohne Belang. Wenn die kantonalen Schulbehörden
die ihnen zur Sicherung eines geordneten und effizienten Lehrbetriebs
zustehende Disziplinargewalt konsequent handhaben und einen Schüler, der trotz
wiederholter Androhungen immer wieder den Lehrbetrieb stört, von der Schule
weisen, ist dies nicht offensichtlich unhaltbar und willkürlich.

4.

4.1 Der Beschwerdeführer beruft sich neben dem Willkürverbot ausdrücklich auch
auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der zwar in Art. 5 Abs. 2 BV
verankert ist, aber bloss ein verfassungsmässiges Prinzip und kein Grundrecht
darstellt (HANSJÖRG SEILER, in: Seiler/von Werdt/Güngerich,
Bundesgerichtsgesetz, N. 18 zu Art. 98 und N. 7 zu Art. 116 BGG). Seine
Anrufung war deshalb bisher im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde nur in
Verbindung mit einem besonderen Grundrecht möglich (BGE 125 I 161 E. 2b S. 163
mit Hinweisen), während mit einer - der Durchsetzung
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des öffentlichen Bundesrechts dienenden - Verwaltungsgerichtsbeschwerde die
Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips unmittelbar geltend gemacht werden
konnte (vgl. etwa BGE 122 II 433 E. 2a S. 435; BGE 116 Ib 353 E. 2b S. 356 f.).
Auch die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erlaubt es heute,
das Verhältnismässigkeitsprinzip - als Grundsatz des Bundes(verfassungs)rechts
(vgl. Art. 95 lit. a BGG) - direkt und unabhängig von einem Grundrecht
anzurufen (SEILER, a.a.O., N. 20 zu Art. 95 BGG).

4.2 In der Lehre wird diesbezüglich teils postuliert, dass das Bundesgericht im
Rahmen einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die
Verhältnismässigkeit des angefochtenen Akts grundsätzlich mit freier Kognition
zu prüfen habe (so BEATRICE WEBER-DÜRLER, Zur neuesten Entwicklung des
Verhältnismässigkeitsprinzips, in: Mélanges Pierre Moor, Bern 2005, S. 607 f.).
Dem ist beizupflichten, soweit die Anwendung von Bundesverwaltungsrecht in
Frage steht, zumal die Rechtskontrolle des Bundesgerichts hier gleich weit
reicht wie bisher bei der eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Hingegen sind dem Bundesgericht bei der Kontrolle kantonaler Akte unter dem
Gesichtswinkel des in Art. 5 Abs. 2 BV verankerten allgemeinen
Verhältnismässigkeitsgebots Grenzen gesetzt.

4.2.1 Das leuchtet vorab ein, wenn - ausserhalb des Schutzbereichs eines
Grundrechts - die "Verhältnismässigkeit" eines kantonalen Gesetzes bzw. eines
generell-abstrakten Erlasses zu beurteilen ist. Auch wenn der Geltungsbereich
des Verhältnismässigkeitsprinzips nicht auf die Überprüfung von
Grundrechtseingriffen (vgl. Art. 36 Abs. 3 BV) beschränkt ist, verliert es
ausserhalb dieses Bereichs doch an Aussagekraft. Dem kantonalen Gesetzgeber
steht, soweit er nicht durch Grundrechte eingeschränkt ist, ein
Gestaltungsspielraum zu, den der Verfassungsrichter zu respektieren hat. Eine
Intervention des Bundesgerichts gestützt auf Art. 5 Abs. 2 BV kann hier nur
gerechtfertigt sein, wenn das Gebot der Verhältnismässigkeit ganz
offensichtlich missachtet worden ist und damit zugleich ein Verstoss gegen das
Willkürverbot gemäss Art. 9 BV vorliegt.

4.2.2 Einer generellen freien Prüfung der Verhältnismässigkeit stehen aber auch
bei der Anwendung kantonalen Rechts gewichtige Gründe entgegen. Die speziellen
Grundrechtsgarantien und die in Art. 36 BV für Einschränkungen derselben
aufgestellten Voraussetzungen (gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse,
Verhältnismässigkeit) würden verwässert und verlören letztlich den ihnen
BGE 134 I 153 S. 158
zugedachten Sinn, wenn eine gleichartige Kontrolle gegenüber sämtlichen
staatlichen Anordnungen schon gestützt auf die entsprechenden allgemeinen
Grundsätze in Art. 5 Abs. 1 und 2 BV erwirkt werden könnte. Zu beachten ist
weiter, dass die Verletzung einfachen kantonalen Gesetzesrechts, von hier nicht
in Betracht fallenden Ausnahmen abgesehen, keinen Beschwerdegrund darstellt
(vgl. Art. 95 BGG). Die unrichtige Anwendung kantonalen Rechts kann (ausserhalb
von schweren Grundrechtseingriffen) nur über das Willkürverbot erfasst werden.
Die in dieser Beschränkung zum Ausdruck kommende Rücksicht auf die
föderalistische Staatsstruktur spricht dafür, bei der Anwendung kantonalen
Rechts auch die Frage der Verhältnismässigkeit nur auf allfällige
Grundrechtsverletzungen hin - d.h. ausserhalb des Schutzbereichs spezieller
Grundrechte nur unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots - zu prüfen (im
gleichen Sinne: JÖRG PAUL MÜLLER, Grundlagen, Zielsetzung und Funktionen der
Grundrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier [Hrsg.], Handbuch der
Grundrechte in Deutschland und Europa, Heidelberg 2004, S. 25 Fn. 62 i.f.;
MATTHIAS SUTER, Der neue Rechtsschutz in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
vor dem Bundesgericht, Diss. St. Gallen 2007, S. 255 f.; zur ähnlichen
Problemlage bezüglich des in Art. 5 Abs. 1 BV als verfassungsmässiger Grundsatz
enthaltenen Legalitätsprinzips: vgl. Urteil 2C_212/2007 vom 11. Dezember 2007,
E. 3.1). Es war denn auch mit der Integration der bisherigen staatsrechtlichen
Beschwerde in die Einheitsbeschwerde keine Erweiterung der bundesgerichtlichen
Prüfungsbefugnis gegenüber kantonalrechtlichen Anordnungen beabsichtigt (vgl.
die bundesrätliche Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der
Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4236 f.).

4.3 Gestützt auf Art. 23 Abs. 2 BGG hat die Vereinigung sämtlicher Abteilungen
am 31. März 2008 dementsprechend entschieden, dass das in Art. 5 Abs. 2 BV als
allgemeiner Verfassungsgrundsatz verankerte Verhältnismässigkeitsgebot im
Rahmen einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten bei der
Anwendung kantonalen Rechts ausserhalb des Schutzbereichs spezieller
Grundrechte nur unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots angerufen werden
kann. Dem Einwand des Beschwerdeführers, der verfügte Schulausschluss verletze
das Verhältnismässigkeitsprinzip, kommt demzufolge gegenüber der gerügten
Verletzung des Willkürverbots, in dessen Rahmen dieser Aspekt bereits geprüft
wurde (vgl. E. 3), keine selbständige Bedeutung zu.