Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 IV 216



Urteilskopf

134 IV 216

22. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. und Mitb.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen)
6B_498/2007 vom 3. April 2008

Regeste

Nötigung (Art. 181 StGB); Streikrecht (Art. 28 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 1 lit. d
UNO-Pakt I), Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, § 17 Abs. 1 KV/AG),
Meinungsfreiheit (Art. 16 BV). Blockade des Verkehrs auf einer Autobahn im
Rahmen eines Streiks. Nötigung im konkreten Fall bejaht (E. 4-6).

Sachverhalt ab Seite 216

BGE 134 IV 216 S. 216
- Am 4. November 2002 führte die (damalige) Gewerkschaft Bau und Industrie
(GBI) einen nationalen Streiktag der Bauarbeiter durch. Dabei ging es um die
Durchsetzung des flexiblen Altersrücktritts im Bauhauptgewerbe ab dem 60.
Altersjahr. Zum Abschluss des Streiktages fanden an verschiedenen Orten, unter
anderem in Genf, Bern und Buchs/SG, Schlusskundgebungen statt. Eine
Schlussdemonstration wurde unter der Organisation der GBI auch auf der Autobahn
A1 durchgeführt. Dabei wurden mit insgesamt zirka 30 Autobussen und zahlreichen
Personenwagen von rund 2000 Demonstranten in der Zeit von 14.50 bis 16.10 Uhr
die beiden Tunnelröhren des Bareggtunnels beidseitig, am Ost- und am
Westportal, blockiert. Als Folge dieser nicht im Voraus angekündigten
Blockadeaktion kam der Verkehr vollständig zum Erliegen. Es bildeten sich auf
der Autobahn A1 am Baregg-Ostportal auf der Fahrbahn Richtung Bern und am
Baregg-Westportal auf der Fahrbahn Richtung Zürich sowie auf der A3 Richtung
Zürich Staus, die um zirka 16.45 Uhr Längen von rund 10, 9 respektive 3
Kilometern erreichten und sich erst um 19.15 Uhr respektive um 17.47 Uhr
beziehungsweise um 17.43 Uhr auflösten. Die Ausweichrouten auf den
Kantonsstrassen waren überlastet, und die Rettungsachsen für Sanität, Feuerwehr
und Polizei waren abgeriegelt.
BGE 134 IV 216 S. 217
-
- Der Präsident 3 des Bezirksgerichts Baden verurteilte A., B., C. und D. am
22. August 2006 wegen Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB zu bedingt
vollziehbaren Gefängnisstrafen von 14 Tagen und zu Bussen von 500 Franken. Die
Verurteilten waren als Mitglieder der Geschäftsleitung der GBI massgeblich an
der Planung und Vorbereitung der Aktion am Bareggtunnel beteiligt und, mit
Ausnahme von C., auch an der Aktion selbst vor Ort anwesend.
Vom Vorwurf der Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB) wurden die
vier Angeklagten freigesprochen. Das Verfahren wegen Verletzung von
Verkehrsregeln durch Behinderung und Gefährdung des Verkehrs durch
Abstellenlassen von Fahrzeugen auf der Fahrbahn einer Autobahn sowie durch das
Betreten der Autobahn als Fussgänger wurde eingestellt. Der Freispruch vom
Vorwurf der Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB) wurde von der
ersten Instanz damit begründet, dass zwar der objektive, nicht aber der
subjektive Tatbestand erfüllt sei. Die Angeklagten hätten glaubhaft versichert,
dass das Organisationskomitee im Rahmen seiner Möglichkeiten alles unternommen
habe, um Unfälle zu verhindern. Damit fehle es an dem gemäss Art. 237 Ziff. 1
StGB ("...wissentlich...") erforderlichen direkten Vorsatz der konkreten
Gefährdung mindestens eines Menschen. Ob allenfalls fahrlässige Störung des
öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 2 StGB) vorliege, hat die erste Instanz -
möglicherweise mangels einer entsprechenden Anklage - nicht geprüft. Das
Verfahren gegen die vier Angeklagten wegen Verletzung von Verkehrsregeln wurde
von der ersten Instanz mit der Begründung eingestellt, es liege keine grobe
Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG vor, da die
Angeklagten alles ihnen mögliche unternommen hätten, um Unfälle zu verhindern.
Somit liege lediglich eine einfache Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art.
90 Ziff. 1 SVG vor, die aber als Übertretung verjährt sei.
- Die Verurteilten erhoben Berufung und beantragten darin ihre Freisprechung
vom Vorwurf der Nötigung.
Das Obergericht des Kantons Aargau wies mit Urteilen vom 25. Mai 2007 die
Berufungen ab. Es änderte von Amtes wegen den erstinstanzlichen Entscheid im
Strafpunkt, indem es die vier Angeklagten in Anwendung des am 1. Januar 2007 in
Kraft getretenen neuen, milderen Rechts zu bedingten Geldstrafen von 14
BGE 134 IV 216 S. 218
Tagessätzen und zu Bussen von 500 Franken verurteilte, wobei die Tagessätze auf
200, 125, 190 respektive 250 Franken festgesetzt wurden.
- Die Verurteilten führen Beschwerden an das Bundesgericht mit den Anträgen,
der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und sie seien von Schuld und
Strafe freizusprechen.
- Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Aargau haben unter
Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid auf Vernehmlassung
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:
- Gemäss Art. 181 StGB wird wegen Nötigung mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer jemanden durch Gewalt oder Androhung
ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit
nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden.
- Die in der Rechtsprechung als "gefährlich weit" bezeichnete
Tatbestandsvariante der "anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit" in Art.
181 StGB ist aus rechtsstaatlichen Gründen restriktiv auszulegen (BGE 119 IV
301 E. 2a; BGE 107 IV 113 E. 3b). Das Zwangsmittel der "anderen Beschränkung
der Handlungsfreiheit" muss, um tatbestandsmässig zu sein, das üblicherweise
geduldete Mass an Beeinflussung in ähnlicher Weise eindeutig überschreiten, wie
es für die im Gesetz ausdrücklich genannten Zwangsmittel der Gewalt und der
Androhung ernstlicher Nachteile gilt (BGE 129 IV 6 E. 2.1; BGE 119 IV 301 E. 2a
mit Hinweisen).
Die weite Umschreibung des Nötigungstatbestands von Art. 181 StGB hat zur
Folge, dass nicht jedes tatbestandsmässige Verhalten bei Fehlen von
Rechtfertigungsgründen auch rechtswidrig ist. Vielmehr bedarf die
Rechtswidrigkeit bei Art. 181 StGB einer zusätzlichen, besonderen Begründung.
Eine Nötigung ist unrechtmässig, wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist
oder wenn das Mittel zum angestrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis steht
oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich zulässigen Mittel und einem
erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist (BGE 129 IV 6 E.
3.4; BGE 119 IV 301 E. 2b; BGE 108 IV 165 E. 3, je mit Hinweisen). Bei der
Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist den verfassungsmässigen Rechten der
Beteiligten Rechnung zu tragen (BGE 129 IV 6 E. 3.4 mit Hinweisen).
- Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat sich schon verschiedentlich mit
Blockadeaktionen unter dem Gesichtspunkt der Nötigung befassen müssen. BGE 108
IV 165 betraf den Fall der Bildung eines sog. "Menschenteppichs" durch 24
Demonstranten vor dem Zugang zu einer militärischen Ausstellung, wodurch
während ca. 15 Minuten die Wegfahrt eines Motorfahrzeugs verhindert worden war.
In BGE 119 IV 301 ging es um drei Personen, welche an einem Bahnübergang ein
Transparent gegen den Golfkrieg aufgestellt und zur Unterstützung der Aktion
die geschlossenen Bahnschranken manipuliert hatten, so dass diese bis zum
Einschreiten der Polizei nicht geöffnet werden konnten, wodurch der
Strassenverkehr während zehn Minuten aufgehalten worden war. Das Urteil 6S.671/
1998 vom 11. Dezember 1998 betraf den Fall von Aktivisten, welche aus Protest
gegen die Planung eines Zwischenlagers für radioaktive Abfälle während etwa
anderthalb Stunden, bis zum Eintreffen der Polizei, den Haupteingang zum
Verwaltungsgebäude einer Kraftwerkgesellschaft blockiert hatten. In BGE 129 IV
6 ging es um Aktivisten, die an mehreren Tagen die Zufahrten beziehungsweise
die Werksgeleise zu verschiedenen Kernkraftwerken blockiert hatten, um gegen
den Transport von nuklearen Brennelementen zum Zwecke der Wiederaufbereitung zu
protestieren. In allen diesen Fällen hat das Bundesgericht Nötigung bejaht und
damit die letztinstanzlichen kantonalen Schuldsprüche bestätigt.
Aktionen und Bummelfahrten auf Autobahnen wurden vom Bundesgericht (in
Bestätigung der letztinstanzlichen kantonalen Entscheide) auch schon als grobe
Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG (BGE 111 IV 167; BGE
120 Ib 285) beziehungsweise als (fahrlässige) Störung des öffentlichen Verkehrs
gemäss Art. 237 StGB (Urteil 6S.312/2003 vom 1. Oktober 2003) qualifiziert,
wobei aus prozessualen Gründen nicht zu prüfen war, ob allenfalls (auch)
Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB hätte vorliegen können.
- Die Rechtsprechung zur Nötigung durch Blockadeaktionen findet in der Lehre
teilweise, zumindest im Ergebnis, Zustimmung und stösst teilweise auf Ablehnung
(siehe etwa betreffend BGE 108 IV 165 zustimmend Hans Schultz, ZBJV 120/1984 S.
13; ablehnend Niccolò Raselli, Menschenteppich: Grundrecht oder Nötigung-,
Plädoyer 1990 6 S. 44 ff.; betreffend BGE 119 IV 301 grundsätzlich zustimmend
Marcel A. Niggli, AJP 1994 S. 518 ff.; ablehnend MARC SPESCHA, Nötigung gemäss
Art. 181 StGB -
BGE 134 IV 216 S. 220
Maulkorb für Politisches-, Plädoyer 1994 6 S. 30 ff.; betreffend BGE 129 IV 6
teilweise zustimmend Guido Jenny, ZBJV 141/2005 S. 369 f.). Die kritischen
Stimmen beanstanden, dass sich das Bundesgericht zwar verbal zur restriktiven
sowie zur verfassungskonformen Auslegung von Art. 181 StGB bekennt, in Wahrheit
aber den Tatbestand nicht einschränkend auslegt und die in Betracht fallenden
Grundrechte der Beteiligten nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt (statt
vieler Jonas Peter Weber/René Wiederkehr, AJP 2003 S. 432 ff., 433, 435). Es
wird unter anderem die Auffassung vertreten, Art. 181 StGB schütze bei der
gebotenen verfassungskonformen Auslegung nicht jede (erlaubte) Handlung, welche
ein Mensch nach seinem freien Willen vornehmen will, sondern nur grundrechtlich
geschützte Handlungen (Weber/Wiederkehr, a.a.O., S. 434). Es wird darauf
hingewiesen, dass unter den Kommunikationsbedingungen in der heutigen
informationsgesättigten Gesellschaft das Grundrecht der
Meinungsäusserungsfreiheit vielfach auf verstärkende Begleitumstände angewiesen
sei, um sich im öffentlichen Raum überhaupt noch wirksam entfalten zu können
(MARC SPESCHA, a.a.O., S. 33).
-
- Beim Tatbestand der Nötigung gemäss Art. 181 StGB sind die Gewalt, die
Androhung ernstlicher Nachteile und die andere Beschränkung der
Handlungsfreiheit die Nötigungsmittel. Das Verhalten, zu dem der Betroffene
durch den Einsatz eines solchen Mittels genötigt wird, d.h. etwas zu tun, zu
unterlassen oder zu dulden, ist im strafrechtlichen Sinne der Nötigungszweck.
Von diesem Nötigungszweck ist das Fernziel der Nötigung zu unterscheiden.
Insbesondere Verkehrsblockaden werden in der Regel, aber nicht
notwendigerweise, im Hinblick auf ein Fernziel veranstaltet. Die Blockade wird
durchgeführt, um auf dieses Fernziel hinzuweisen und ihm allenfalls näher zu
kommen; darin liegt das Motiv der Täter für die Aktion. Das Fernziel und das
Motiv sind im Unterschied zum Nötigungsmittel und zum Nötigungszweck keine
Elemente des Tatbestands der Nötigung.
- Im vorliegenden Fall wurden im Rahmen der von den Beschwerdeführern
geplanten, vorbereiteten und organisierten Aktion zirka 30 Busse und zahlreiche
weitere Motorfahrzeuge auf der Fahrbahn der Autobahn abgestellt und auf diese
Weise ein Hindernis errichtet. Dies ist das Nötigungsmittel. Durch die
Errichtung des Hindernisses wurden die übrigen Verkehrsteilnehmer genötigt,
BGE 134 IV 216 S. 221
etwas zu tun, zu dulden und zu unterlassen, nämlich anzuhalten, zu warten und
nicht weiterzufahren. Dies ist im strafrechtlichen Sinne der Nötigungszweck.
Die Blockadeaktion wurde im Hinblick auf die Forderung nach der Einführung
eines flexiblen Altersrücktritts ab dem 60. Altersjahr durchgeführt. Dies ist
nicht der Nötigungszweck im strafrechtlichen Sinne. Die betroffenen
Verkehrsteilnehmer wurden nicht zur Einführung des flexiblen Altersrücktritts,
sondern zum Anhalten und Warten genötigt. Die geforderte Einführung des
flexiblen Altersrücktritts ist im vorliegenden Fall das Fernziel der Nötigung.
Die Blockadeaktion wurde von den Beschwerdeführern organisiert, um auf dieses
Fernziel aufmerksam zu machen und ihm allenfalls etwas näher zu kommen. Darin
liegt das Tatmotiv der Beschwerdeführer.
- Geschütztes Rechtsgut von Art. 181 StGB ist nach der Rechtsprechung die
Handlungsfreiheit beziehungsweise die Freiheit der Willensbildung und
Willensbetätigung des Einzelnen (BGE 129 IV 6 E. 2.1 mit Hinweisen). Diese
Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung ist strafrechtlich unabhängig
von der Art der (legalen) Tätigkeit geschützt, welche der Betroffene nach
seinem frei gebildeten Willen verrichten will. Geschützt ist damit auch die
Freiheit des Einzelnen, den Willen der automobilen Fortbewegung zu betätigen.
Durch die inkriminierte Aktion wurden indessen die Verkehrsteilnehmer für die
Dauer von anderthalb Stunden und mehr nicht allein an dieser Fortbewegung,
sondern vielmehr auch daran gehindert, ihren vielfältigen Verpflichtungen
namentlich auch beruflicher Art nachzugehen.
- Allerdings kommt es auf den schweizerischen Strassen täglich aus
verschiedenen Gründen zu Verkehrsbehinderungen und Staus. Solche können zum
einen etwa wegen Verkehrsüberlastung, Baustellen, Unfällen und besonders hohem
Verkehrsaufkommen bei Grossveranstaltungen entstehen. Zum andern kommt es in
jüngerer Zeit vermehrt nach Sportveranstaltungen, namentlich nach wichtigen
Fussballspielen, zu erheblichen Verkehrsbehinderungen, weil die Anhänger der
siegreichen Mannschaft spontan gleichzeitig in grosser Zahl mit ihren
Fahrzeugen etwa in den Innenstädten umherfahren und dabei gelegentlich auch
anhalten, um mit den Insassen von anderen Fahrzeugen ihre Freude auszutauschen.
Im erstgenannten Fall ist der Tatbestand der Nötigung offensichtlich schon
deshalb nicht erfüllt, weil es keinen Täter gibt. Im zweitgenannten Fall
handeln die feiernden Anhänger der siegreichen Mannschaft
BGE 134 IV 216 S. 222
zwar mit Wissen und Willen, aber nicht zum Zweck, die andern Verkehrsteilnehmer
zu behindern. Das Verhalten der feiernden Anhänger lässt sich nicht als ein
bewusst eingesetztes Mittel zum Zwecke der Behinderung anderer
Verkehrsteilnehmer verstehen. Davon unterscheidet sich der inkriminierte Fall
wesentlich. Die Beschwerdeführer verfolgten mit der von ihnen geplanten,
vorbereiteten und organisierten Aktion den Zweck, einen Verkehrsstau zu
provozieren. Damit sollte nach den Vorstellungen der Beschwerdeführer unter
anderem dargestellt werden, wie wichtig die Autobahntunnels und damit die
Bauarbeiter sind, deren Tätigkeit im Tunnelbau besonders anstrengend ist. Im
Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass einzig gegen die für die Planung,
Vorbereitung und Organisation der Blockadeaktion verantwortlichen
Gewerkschaftsfunktionäre Strafverfahren eröffnet wurden. Gegen die zahlreichen
Bauarbeiter und anderen Personen, die in den von der Gewerkschaft gemieteten
Bussen sowie in ihren privaten Fahrzeugen an der Aktion teilnahmen, wurden
keine Strafverfahren eingeleitet.
- Die Beschwerdeführer haben somit durch die von ihnen verantwortete Aktion den
Tatbestand der Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB erfüllt.
- Die Blockadeaktion dauerte von 14.50 bis 16.10 Uhr. Sie war nicht im Voraus
angekündigt worden. Infolge der Aktion kam der Verkehr auf den im fraglichen
Abschnitt ohnehin stark verkehrsbelasteten Autobahnen A1 und A3 vollständig zum
Erliegen. Es bildeten sich Staus von maximal zehn Kilometern Länge, die sich
teilweise erst nach 19.00 Uhr auflösten. Die Verkehrsteilnehmer hatten auf der
Autobahn keine Möglichkeit, auszuweichen oder zu wenden. Die von der Aktion
betroffenen Menschen waren für die von den Beschwerdeführern beklagten
Missstände weder verantwortlich noch konnten sie etwas zu deren Beseitigung
beitragen. Es ging nicht darum, die Bevölkerung aufzurütteln, um etwa auf ein
erhebliches Fehlverhalten staatlicher Organe hinzuweisen. Die Aktion war nicht
ein Akt des zivilen Ungehorsams. Es ging einzig um die von einer Gewerkschaft
definierten Interessen einer bestimmten Berufsgruppe. In Anbetracht dieser
Umstände sind das Nötigungsmittel und der Nötigungszweck unrechtmässig.
Daran ändert die gebotene Berücksichtigung der hier in Betracht zu ziehenden
verfassungsmässigen Rechte der Beteiligten, nämlich des Streikrechts, der
Versammlungsfreiheit und der Meinungsäusserungsfreiheit, aus nachstehenden
Gründen (siehe E. 5) nichts.
BGE 134 IV 216 S. 223
-
- Gemäss Art. 28 Abs. 3 BV sind Streik und Aussperrung zulässig, wenn sie
Arbeitsbeziehungen betreffen und wenn keine Verpflichtungen entgegenstehen, den
Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen. Nach Art. 8
Abs. 1 lit. d UNO-Pakt I (SR 0.103.1) verpflichten sich die Vertragsstaaten zur
Gewährleistung des Streikrechts, soweit es in Übereinstimmung mit der
innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird.
- Streik ist die kollektive Verweigerung der geschuldeten Arbeitsleistung zum
Zwecke der Durchsetzung von Forderungen nach bestimmten Arbeitsbedingungen
gegenüber einem oder mehreren Arbeitgebern (BGE 125 III 277 E. 3a). Ein Streik
ist rechtmässig, wenn er von einer tariffähigen Organisation getragen ist,
durch Gesamtarbeitsvertrag regelbare Ziele verfolgt, nicht gegen die
Friedenspflicht verstösst und verhältnismässig ist (BGE 125 III 277 E. 3b; BGE
132 III 122 E. 4.4; Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue
Bundesverfassung, BBl BGE 1997 I 1 ff., S. 179 f.). Ein Streik wirkt sich nicht
nur auf die Arbeitgeber, gegen die er sich richtet, sondern in mehr oder
weniger ausgeprägtem Umfang auch auf Dritte aus. Das Ausmass dieser
Auswirkungen hängt unter anderem davon ab, welcher Branche die Streikenden
angehören. Ein Streik von Lokomotivführern beispielsweise wirkt sich sofort und
in erheblichem Ausmass auch auf beliebige Dritte aus. Demgegenüber hat ein
Streik von Bauarbeitern für Dritte weniger unmittelbar einschneidende
Auswirkungen.
Im Rahmen von Streiks werden in der Regel, aber nicht notwendigerweise auch
Kundgebungen und Demonstrationen durchgeführt, die meist auf öffentlichem Grund
stattfinden. Diese haben unter anderem den Zweck, eine breitere Öffentlichkeit
über die Gründe und Ziele des Streiks zu informieren und auf diesem Wege auch
Verständnis und gar Sympathie für die Anliegen der Streikenden zu gewinnen,
wodurch zusätzlicher Druck auf den Arbeitskampfgegner, d.h. die Arbeitgeber,
ausgeübt werden kann.
Durch Demonstrationen im öffentlichen Raum werden Dritte, insbesondere
Verkehrsteilnehmer, in mehr oder weniger ausgeprägtem Umfang behindert, wobei
das Ausmass der Behinderung unter anderem vom Ort der Demonstration abhängt. Es
ist naheliegend, dass Kundgebungen im Rahmen von Streiks an Orten durchgeführt
werden, zu denen die Streikenden einen bestimmten Bezug
BGE 134 IV 216 S. 224
haben. Es ist daher nachvollziehbar, dass Demonstrationen von streikenden
Bauarbeitern gerade in Baustellenbereichen oder in deren Nähe stattfinden, weil
hier der Zusammenhang mit dem Streikzweck auch für unbeteiligte Dritte
sinnfällig zum Ausdruck kommt. Die daraus für Dritte resultierenden
Behinderungen sind grundsätzlich hinzunehmen und in der Regel nicht als
Nötigung strafbar.
- Es kann entgegen der Meinung der Beschwerdeführer keine Rede davon sein, dass
"die Aktionen", welche eine Gewerkschaft im Rahmen eines rechtmässigen Streiks
"autonom" beschliesst und durchführt, "verfassungsmässig garantiert" und somit
rechtmässig sind. Vielmehr ist stets zu prüfen, ob eine bei Gelegenheit eines
rechtmässigen Streiks ergriffene Massnahme überhaupt ein Mittel des
Arbeitskampfes und gegebenenfalls verhältnismässig und rechtmässig ist. So ist
es etwa im Rahmen eines rechtmässigen Streiks den Streikposten erlaubt,
arbeitswillige Arbeitnehmer auf friedliche Weise davon zu überzeugen zu
versuchen, nicht zur Arbeit zu gehen (sog. "peaceful picketing"). Es ist den
Streikposten aber auch im Rahmen eines rechtmässigen Streiks nicht gestattet,
arbeitswilligen Arbeitnehmern, die sich nicht überzeugen lassen, den Zutritt
zur Arbeit zu versperren (siehe BGE 132 III 122 E. 4.5.4 mit Hinweisen). Somit
sind selbst die im Rahmen eines rechtmässigen Streiks gegen den
Arbeitskampfgegner gerichteten Massnahmen nur rechtmässig, wenn sie
verhältnismässig sind. Die Blockadeaktion am Bareggtunnel war nicht gegen den
Arbeitskampfgegner, sondern gegen unbeteiligte Dritte gerichtet, die im Übrigen
nichts zur Erfüllung der Forderung nach einem flexiblen Altersrücktritt
beitragen konnten. Die Blockadeaktion stellt daher keine Arbeitskampfmassnahme
dar, die unter der gebotenen Berücksichtigung des verfassungsmässigen
Streikrechts rechtmässig sein könnte.
- Gemäss Art. 22 BV ist die Versammlungsfreiheit gewährleistet. Jede Person hat
das Recht, Versammlungen zu organisieren, an Versammlungen teilzunehmen oder
Versammlungen fernzubleiben. Die Versammlungsfreiheit wird auch in § 17 Abs. 1
KV/AG gewährleistet.
- Die von den Beschwerdeführern zu verantwortende Aktion am Bareggtunnel fand
nicht auf dem Areal der Baustelle der dritten Röhre statt. Vielmehr wurde
zielgerichtet der Verkehr auf den Fahrbahnen am Ost- und am Westportal der
beiden bestehenden
BGE 134 IV 216 S. 225
Tunnelröhren unter Einsatz von rund 30 eigens zu diesem Zweck gemieteten Bussen
und durch weitere Motorfahrzeuge von insgesamt etwa 2000 Personen blockiert.
Was sich am Ort des Geschehens im Einzelnen abspielte, wird im angefochtenen
Urteil nicht festgestellt. Aus dem angefochtenen Entscheid geht aber hervor,
dass keine Kundgebung in dem Sinne stattfand, dass vor den Teilnehmenden
Ansprachen gehalten wurden. Nach den Aussagen eines Beschwerdeführers im
kantonalen Verfahren sollte die Aktion gemäss Plan lediglich 30 Minuten dauern.
Leider habe sie dann länger gedauert. Die Organisatoren hätten ihre Kräfte
darauf konzentriert, dass sich keine Unfälle ereigneten. Sie hätten aber zu
wenig überlegt, was am Baregg mit den Bauarbeitern geschehe. Unter den
Bauarbeitern habe eine grosse Freude geherrscht. Sie hätten sich treffen
wollen, was dann halt spontan im Tunnel passiert sei. Damit hätten die
Organisatoren nicht gerechnet; dies sei nicht geplant gewesen. Daher habe das
Ganze länger gedauert.
- Das Zusammentreffen der Bauarbeiter am und im Bareggtunnel kann allenfalls
auch unter derartigen Umständen als eine Versammlung im weiten
verfassungsrechtlichen Sinne qualifiziert werden. Daraus folgt aber nicht, dass
die Aktion rechtmässig war. Die Behinderung der Verkehrsteilnehmer war nicht
eine von den Beschwerdeführern bloss in Kauf genommene, mehr oder weniger
unvermeidliche Folge einer Versammlung von Bauarbeitern im öffentlichen Raum.
Sie war nach dem Plan der Beschwerdeführer vielmehr die angestrebte Folge einer
gezielten Blockadeaktion, indem durch das Abstellen der zirka 30 gemieteten
Busse und der weiteren Fahrzeuge auf der Autobahn medienwirksam ein
unüberwindliches Hindernis errichtet und dadurch auf dem stark befahrenen
Autobahnabschnitt kilometerlange Staus provoziert wurden. Damit tritt die
allfällige Versammlung der Bauarbeiter im Rahmen der gesamten von den
Beschwerdeführern geplanten und organisierten Aktion in den Hintergrund. Die
Blockade ist daher auch unter der gebotenen Berücksichtigung des Grundrechts
der Versammlungsfreiheit unrechtmässig.
- Gemäss Art. 16 BV ist die Meinungsfreiheit gewährleistet. Jede Person hat das
Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu
verbreiten.
- Die Beschwerdeführer berufen sich nicht ausdrücklich auf dieses Grundrecht.
Sie machen aber geltend, am Baregg sei den
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Verkehrsteilnehmern und dem Publikum demonstriert worden, dass ohne die harte
Schichtarbeit von Bauarbeitern und Mineuren keine Autobahntunnels gebohrt
werden. Es sei darum gegangen, der Öffentlichkeit aufzuzeigen, welche für sie
wichtigen Tätigkeiten die Bauarbeiter verrichten. Der Kontext von Tunnelbau,
Bauarbeitern und vorzeitiger Pensionierung habe am 4. November 2002 am dafür
symbolischen Baregg auf der Hand gelegen. Mit diesen Ausführungen machen die
Beschwerdeführer unter anderem geltend, dass durch die Aktion den
Verkehrsteilnehmern und dem Publikum respektive der Öffentlichkeit eine
Botschaft vermittelt werden sollte. Sie berufen sich damit implizit auch auf
die Meinungsäusserungsfreiheit.
- Die meisten im Stau festsitzenden Verkehrsteilnehmer konnten aufgrund ihrer
Entfernung vom Ort des eigentlichen Geschehens weder allfällige Parolen
wahrnehmen noch überhaupt den Grund für den Stau erkennen. Die Blockadeaktion
am Bareggtunnel war - im Unterschied zu anderen am Streiktag durchgeführten
Aktionen - gar nicht geeignet und konnte daher auch nicht bezwecken, Dritte im
öffentlichen Raum über die Anliegen der Streikenden zu informieren. Die in den
Staus festsitzenden Verkehrsteilnehmer waren in ihrer überwiegenden Mehrheit
bloss Statisten für die von den Beschwerdeführern organisierte spektakuläre
Aktion, die im Wesentlichen eine erhöhte Medienaufmerksamkeit für das Anliegen
der Streikenden bezweckte, worauf jedoch kein verfassungsrechtlicher Anspruch
besteht.
- Die weiteren Einwände der Beschwerdeführer sind ebenfalls unbegründet.
- Der aussergesetzliche Rechtfertigungsgrund der Wahrung berechtigter
Interessen kann nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur angerufen
werden, wenn die Tat ein notwendiges und angemessenes Mittel ist, um ein
berechtigtes Ziel zu erreichen, die Tat also insoweit den einzigen möglichen
Weg darstellt und offenkundig weniger schwer wiegt als die Interessen, die der
Täter zu wahren sucht (BGE 127 IV 122 E. 5c, BGE 127 IV 166 E. 2b; BGE 126 IV
236 E. 4b mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die
Blockadeaktion war nicht ein notwendiges Mittel und der einzige Weg, um den
flexiblen Altersrücktritt ab 60 Jahren im Bauhauptgewerbe möglichst rasch
durchzusetzen.
- Dass andere Schlussdemonstrationen am nationalen Streiktag nicht zu
Verurteilungen geführt haben, weil überhaupt keine
BGE 134 IV 216 S. 227
Straf verfahren eingeleitet oder eröffnete Strafverfahren eingestellt
beziehungsweise aufgehoben wurden, ist unerheblich. Gegenstand des vorliegenden
Verfahrens ist einzig die Aktion am Bareggtunnel. Diese unterscheidet sich im
Übrigen von der in Buchs/SG durchgeführten Schlussdemonstration unter anderem
darin, dass dort tatsächlich eine Kundgebung stattfand, an welcher Ansprachen
vor etwa 500 (zu Fuss) versammelten Teilnehmern gehalten wurden. Dieser
Unterschied ist entgegen einem Einwand in der Beschwerde keine von der
Vorinstanz "fabrizierte Differenz", die "gestelzt" wirkt. Allerdings fand die
Kundgebung in Buchs/SG an einer Baustelle an einem Verkehrskreisel in der Nähe
eines Autobahnzubringers statt, weshalb es zu einer Blockierung beziehungsweise
Behinderung des Verkehrs während zirka 45 Minuten kam. Ob die Strafuntersuchung
von der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen zu Recht aufgehoben wurde,
ist hier nicht zu prüfen.
- Aus dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Juni
2003 (Rechtssache C-112/00, Schmidberger gegen Österreich, Slg. 2003, I-5659)
können die Beschwerdeführer nichts zu ihren Gunsten ableiten. Gegenstand jenes
Urteils war eine 30-stündige Blockade der Brenner-Autobahn durch Umweltschützer
und unter anderem die Frage des Verhältnisses zwischen dem Grundsatz des freien
Warenverkehrs und den Grundrechten der Meinungsäusserungs- und
Versammlungsfreiheit. Jener Fall unterscheidet sich vom vorliegenden in
tatsächlicher Hinsicht wesentlich unter anderem darin, dass die Blockade der
Brenner-Autobahn bereits rund einen Monat vorher angekündigt worden war.
Demgegenüber wurde die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildende Blockade
nicht im Voraus angekündigt und lag ihr Zweck gerade auch darin, möglichst
grosse und damit spektakuläre Verkehrsstaus zu provozieren.
- Die Beschwerdeführer weisen darauf hin, dass keine Zivilklagen eingereicht
worden seien. Auch dies mache deutlich, dass der durch die Aktion bewirkte Stau
von den betroffenen Verkehrsteilnehmern toleriert worden sei. Der Einwand ist
unbehelflich. Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB setzt keinen Schaden voraus.
Im Übrigen kann aus mehreren, ganz unterschiedlichen Gründen von Zivilklagen
abgesehen worden sein.
- Die Beschwerdeführer machen sinngemäss geltend, die Durchführung des
nationalen Streiktages am 4. November 2002 sei eine
BGE 134 IV 216 S. 228
"ultima ratio" und daher zur Erreichung des angestrebten Ziels notwendig und
verhältnismässig gewesen. Ob der nationale Streiktag als "ultima ratio"
bezeichnet werden kann, ist in Anbetracht der tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz betreffend den Verlauf der Verhandlungen vor dem 4. November 2002
zweifelhaft. Wie es sich damit verhält, kann hier jedoch dahingestellt bleiben.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind weder der Streik als solcher noch
die mehreren am Streiktag an verschiedenen Orten durchgeführten Kundgebungen.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist allein die von den Beschwerdeführern
geplante, vorbereitete und organisierte Blockadeaktion am Bareggtunnel. Diese
Aktion kann indessen schon deshalb nicht als eine "ultima ratio" dargestellt
werden, weil sie am nationalen Streiktag selbst und somit an dem Tag
durchgeführt wurde, an welchem zur Erreichung des angestrebten Ziels erstmals
landesweit gestreikt worden ist.
- Die Beschwerdeführer behaupten, gerade auch wegen der Aktion am Bareggtunnel
habe wenige Tage später der Arbeitgeberverband eingelenkt. Daraus ziehen sie
den Schluss, dass die Aktion notwendig und verhältnismässig gewesen sei. Der
behauptete Kausalzusammenhang ist gemäss den Ausführungen im angefochtenen
Entscheid mehr als zweifelhaft und nach der zutreffenden Auffassung der
Vorinstanz jedenfalls rechtlich unerheblich. Eine Straftat, auch eine Nötigung,
wird nicht dadurch rechtmässig, dass die Täter das damit angestrebte und
grundsätzlich nachvollziehbare Fernziel erreichen.