Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 IV 193



Urteilskopf

134 IV 193

20. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen A. und
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
6B_235/2007 vom 13. Juni 2008

Regeste

Willkür in der Beweiswürdigung (Art. 9 BV). Natürlicher Kausalzusammenhang
zwischen ungeschütztem Geschlechtsverkehr und HIV-Infektion. Tragweite
wissenschaftlicher Gutachten für den Nachweis der direkten Übertragung des
HI-Virus (E. 4).

Regeste

Fahrlässige schwere Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB); fahrlässiges
Verbreiten menschlicher Krankheiten (Art. 231 Ziff. 2 StGB). Fahrlässigkeit und
erlaubtes Risiko (Art. 12 Abs. 3 StGB). Ungeschützte Sexualkontakte einer
HIV-infizierten Person. Wer konkrete Anhaltspunkte für die Möglichkeit der
eigenen HIV-Infektion hat, ist gehalten, auf ungeschützte Sexualkontakte
solange zu verzichten, wie er die eigene Infektion nicht mit hinreichender
Sicherheit ausschliessen kann. Andernfalls schafft er pflichtwidrig eine Gefahr
für die Rechtsgüter seiner Sexualpartner, die das erlaubte Risiko übersteigt
(E. 8.1). Eine Verurteilung der HIV-infizierten Person wegen (fahrlässiger)
schwerer Körperverletzung fällt ausser Betracht, wenn der Partner mit dem
ungeschützten Sexualkontakt einverstanden ist, ohne frühere Risikokontakte und
damit die Möglichkeit einer HIV-Infektion des anderen ausschliessen zu können;
es sei denn, auf Seiten des Opfers bestehe ein konkret entscheidrelevantes
Wissensdefizit (E. 9.3).

Sachverhalt ab Seite 195

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- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führte gegen A. eine
Strafuntersuchung wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung und
vorsätzlichen Verbreitens menschlicher Krankheiten. Mit Einstellungsverfügung
vom 26. November 2004 wurde das Strafverfahren eingestellt. Die Verfügung ist
in Rechtskraft erwachsen.
Die Staatsanwaltschaft erhob indessen Anklage wegen fahrlässiger Begehung der
gleichen Delikte. In der Anklageschrift vom 28. Juli 2005 wird A. vorgeworfen,
er habe die Geschädigte X. beim ungeschützten Geschlechtsverkehr im Frühjahr/
Sommer 2002 mit dem HI-Virus angesteckt. Dazu sei es gekommen, obwohl er früher
mehrfach mit B. ungeschützt sexuell verkehrt und diese ihm im Juli 2000
mitgeteilt habe, dass sie HIV-positiv sei. Im Wissen um die Möglichkeit, von B.
oder einer anderen Person mit dem HI-Virus angesteckt worden zu sein, habe A.
es unterlassen, einen HIV-Test zu machen, und die Geschädigte über das
Ansteckungsrisiko nicht aufgeklärt. Damit habe er den ungeschützten
Geschlechtsverkehr - auf die Nichtexistenz der eigenen HIV-Positivität und das
Ausbleiben einer Infizierung vertrauend - in pflichtwidriger Unvorsicht
ausgeführt.
- Das Bezirksgericht Zürich sprach A. am 27. März 2006 der fahrlässigen
schweren Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1 und 2 StGB) sowie der fahrlässigen
Verbreitung menschlicher Krankheiten (Art. 231 Ziff. 2 StGB) schuldig und
bestrafte ihn mit einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 9 Monaten. Es
verpflichtete ihn, der Geschädigten X. eine Genugtuung in der Höhe von Fr.
30'000.- zu bezahlen und ihr den aus der HIV-Infizierung entstandenen Schaden
vollumfänglich zu ersetzen. Für die Bemessung des Schadenersatzes verwies es
die Geschädigte auf den Zivilweg.
- Gegen das Urteil des Bezirksgerichts erhob A. Berufung (im Schuldpunkt) und
X. Anschlussberufung (im Zivilpunkt). Mit Urteil vom 28. März 2007 sprach das
Obergericht des Kantons Zürich A. vollumfänglich frei. Auf die Zivilforderungen
der Geschädigten trat es nicht ein.
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- X. führt gegen das Urteil des Obergerichts vom 28. März 2007 Beschwerde ans
Bundesgericht mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der
Beschwerdegegner der schweren fahrlässigen Körperverletzung im Sinne von Art.
125 Abs. 1 und 2 StGB sowie der fahrlässigen Verbreitung menschlicher
Krankheiten im Sinne von Art. 231 Ziff. 2 StGB schuldig zu sprechen und
angemessen zu bestrafen.
X. verlangt weiter, der Beschwerdegegner sei zu Schadenersatz und Genugtuung zu
verpflichten, es seien ihm die Kosten des vorinstanzlichen und des vorliegenden
Verfahrens vollumfänglich aufzuerlegen, und sie sei für beide Verfahren
angemessen zu entschädigen. Schliesslich stellt sie ein Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege.
- Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme zur
Beschwerde. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich lässt sich mit dem
Antrag auf Gutheissung der Beschwerde vernehmen. A. beantragt deren
vollumfängliche Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:
-
- Die Vorinstanz hält eingangs fest, es sei unbestritten, dass der
Beschwerdegegner und die Beschwerdeführerin Anfang/Mitte Juni 2002
ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Der erste positive HIV-Test der
Beschwerdeführerin datiere vom 14. August 2002. Mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit liege der Ansteckungszeitpunkt gemäss den Ausführungen des
behandelnden Arztes, Dr. med. C., im Juni 2002, was durch das Gutachten von
Prof. Dr. D. und Dr. E. vom Nationalen Zentrum für Retroviren der Universität
Zürich vom 5. August 2004 bestätigt werde.
- Die Vorinstanz würdigt das Gutachten vom 5. August 2004 als einziges direktes
Beweismittel für die Frage, ob der Beschwerdegegner Ende Mai 2002 HIV-positiv
gewesen sei und er das HI-Virus direkt auf die Beschwerdeführerin übertragen
habe.
- Die Sachverständigen führten im Gutachten aus:
"Beim Virus des Angeschuldigten handelt es sich um eine bisher nicht
charakterisierte Rekombinante. (...) Mehrere Sequenzvergleiche mit
verschiedenen Datenbanken aus der Schweiz und im öffentlichen internationalen
Bereich ergaben keine nahe verwandten HIV-1-Isolate. Es handelt sich deshalb
nicht um ein weit verbreitetes, gut charakterisiertes Virus."
"Aufgrund der Divergenzen gegenüber anderen uns zur Verfügung stehenden
Isolaten mit Sequenzen des Subtyps A sowie der statistischen Tests
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('Bootstrapping') ist an einem gemeinsamen phylogenetischen Ursprung der
Probandenisolate nicht zu zweifeln."
Die zusammenfassende Beurteilung der Sachverständigen lautete:
"Für die Beurteilung einer möglichen Virusübertragung zwischen dem
Angeschuldigten und der Geschädigten ist der Umstand relevant, dass die Sequenz
MB15181_2 und MB15181_3 des Angeschuldigten einen gemeinsamen Ast mit allen
Sequenzen der Geschädigten bilden, der durch die statistische Analyse ebenfalls
sehr gut abgesichert ist. Die Isolate der Geschädigten entspringen aus einem
Ast, der dem Angeschuldigten zuzuordnen ist, und sie liegen alle innerhalb des
Sequenzenschwarms des Angeschuldigten."
"Die Infektion erfolgte deshalb in der Richtung vom Angeschuldigten auf die
Geschädigte. (...) Diese Schlussfolgerungen sind ebenfalls vereinbar mit den
klinischen Befunden, wonach aufgrund der niedrigen CD4-Werte des
Angeschuldigten die Infektion bei ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit früher als
bei der Geschädigten erfolgte."
"Mit Hilfe der vorliegenden Virussequenzen kann zwar die Richtung der
Virusübertragung festgestellt werden, es ist aber nicht möglich festzustellen,
ob die Übertragung direkt oder indirekt, d.h. über eine in dieser Untersuchung
nicht vertretene weitere Person, welche vom Angeschuldigten infiziert worden
wäre und das Virus dann auf die Geschädigte übertragen hätte, erfolgte.
Aufgrund der Tatsache, dass der wiederholte ungeschützte Geschlechtsverkehr
zwischen dem Angeschuldigten und der Geschädigten unbestritten ist und dass
laut Akten in der fraglichen Zeit keine weiteren Sexualpartner vorhanden waren,
kann eine Infektion der Geschädigten durch eine solche Drittperson jedoch
praktisch ausgeschlossen werden."
- Die Vorinstanz folgt den Ausführungen der Sachverständigen insofern, als sie
feststellt, dass das HI-Virus der Beschwerdeführerin von jenem des
Beschwerdegegners abstammt, mithin dieser bereits infiziert war, bevor sie (im
Juni 2002) ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Hingegen erachtet sie den
Schluss, eine Infektion über eine Drittperson könne praktisch ausgeschlossen
werden, als unzulässig. Wesentlich sei die Aussage, es sei nicht möglich
festzustellen, ob die Übertragung direkt oder indirekt erfolgte. Die
Möglichkeit einer direkten Übertragung sei somit genau so wahrscheinlich wie
die Möglichkeit einer indirekten Übertragung über eine oder mehrere
Drittpersonen, was die Sachverständigen ausdrücklich offenliessen.
- Die Vorinstanz prüft in der Folge, ob sich die Beschwerdeführerin bis zum
positiven Testresultat im August 2002 auf indirektem Wege mit dem HI-Virus des
Beschwerdegegners infiziert haben könnte.
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- Den Aussagen der Beschwerdeführerin zufolge käme in der Tat nur der
Beschwerdegegner als Infektionsquelle in Betracht, weil er der einzige Mann
gewesen wäre, mit dem sie ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte. Darauf sei
aber nicht abzustellen. Gerade im Kernpunkt, nämlich der Frage, mit welchen
Männern und wie oft sie in der fraglichen Zeit Geschlechtsverkehr hatte, habe
die Beschwerdeführerin nicht konzis, widerspruchsfrei und gleichbleibend
ausgesagt. Anfänglich habe sie ihre Beziehung zu F. zwischen April 2001 und Mai
2002 verschwiegen. Sodann habe sie zwar eine kurze Beziehung zu einer
Discobekanntschaft ("G.") erwähnt, später aber einräumen müssen, dass sie mit
G. im Mai 2002 zweimal Geschlechtsverkehr hatte. Ferner falle auf, dass sie zum
Kontakt in der Disco aussagte, sie habe sich "immer geschützt", obwohl sie nur
von einer Discobekanntschaft erzählte. Damit sei nicht auszuschliessen, dass
die Beschwerdeführerin in der fraglichen Zeit noch mit anderen Männern
verkehrte, und es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich dabei um
ungeschützten Geschlechtsverkehr gehandelt habe.
- Nach den Aussagen des Beschwerdegegners sei es im Juni/ Juli 2002 zweimal zu
ungeschützten sexuellen Kontakten mit H. gekommen, die in Spanien wohnt. Er
habe sie für ein Wochenende in die Schweiz nach Zürich eingeladen, womöglich
als die Beschwerdeführerin - vom 16. Juli 2002 bis 2. August 2002 - in
Brasilien war. H. habe er zwei bis drei Monate vorher in Marbella kennen
gelernt, wo es zum Geschlechtsverkehr gekommen sei.
- Gestützt auf diese Aussagen kommt die Vorinstanz zum Schluss, es sei "denkbar
und nicht völlig realitätsfremd", dass der Beschwerdegegner H. in Marbella mit
dem HI-Virus infizierte und diese ihrerseits einem unbekannten Dritten das
Virus weitergab, welcher es dann auf die Beschwerdeführerin übertrug. Damit
fehle es am Nachweis einer direkten Übertragung des HI-Virus durch den
Beschwerdegegner bzw. am Kausalzusammenhang.
- Die Beschwerdeführerin begründet ihre Willkürrüge im Einzelnen wie folgt: Es
gebe keine Hinweise darauf, dass sie im relevanten Zeitraum Juni 2002 noch mit
weiteren Personen ungeschützt sexuell verkehrt habe. Die Möglichkeit, dass der
Beschwerdegegner H. im Juni/Juli 2002 mit dem HI-Virus angesteckt haben soll,
diese wiederum einen unbekannten Dritten, der das Virus im Juni 2002 auf sie
übertragen haben könnte, sei eine rein theoretische Möglichkeit,
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denn: (1.) All dies müsste sich innerhalb eines Monates, nämlich im Juni 2002,
abgespielt haben. (2.) H. wohnte primär in Spanien und besuchte den
Beschwerdegegner nur einmal in der Schweiz. (3.) Zu diesem Zeitpunkt weilte die
Beschwerdeführerin gemäss Vorinstanz bereits in Brasilien, war also schon
angesteckt. Die Variante, dass das HI-Virus über nur eine unbekannte
Drittperson übertragen worden sei, just in dem Zeitraum (Juni 2002), als der
Beschwerdegegner und die Beschwerdeführerin ungeschützten Geschlechtsverkehr
praktizierten, erscheine als blosse Spielerei, zumal es sich bei dem
festgestellten HI-Virus um eine seltene Virusart handle. Die Zweifel der
Vorinstanz an der Tatbestandsverwirklichung seien höchstens theoretischer und
abstrakter Natur, die auch in Berücksichtigung der Unschuldsvermutung nicht
massgebend seien. Bezeichnend sei, dass nicht einmal mehr die Verteidigung vor
Vorinstanz die objektive Tatbestandsverwirklichung in Frage gestellt habe.
-
- In der Lehre wird teilweise die Auffassung vertreten, dem Täter sei ein
Kausalzusammenhang zwischen dem ungeschützten Geschlechtsverkehr und der
HIV-Infektion des Opfers nur schwer nachzuweisen. Einerseits fehle es daran,
wenn die Möglichkeit offenbleibe, dass sich das Opfer später oder auf anderem
Wege angesteckt habe. Andererseits lasse sich aufgrund eines positiven
Testresultats nicht auf einen bestimmten Übertrager schliessen, zumal es
vorkommt und sogar eher wahrscheinlich ist, dass nach einem einmaligen
Risikoverhalten noch keine Übertragung des Virus erfolgt (Stefan Trechsel,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 231
StGB N. 9; WILFRIED BOTTKE, Strafrechtliche Probleme von AIDS und der
AIDS-Bekämpfung, in: Die Rechtsprobleme von AIDS, Bernd Schünemann/Gerd
Pfeiffer [Hrsg.], Baden-Baden 1998, S. 180; Paul Baumann, Strafrechtliche
Probleme im Zusammenhang mit einer Aidsinfektion, in: Recht gegen Aids, Bern
1987, S. 139 f., 143 f.).
Nach heutigem Wissensstand kann indessen der Nachweis gelingen oder wenigstens
erleichtert werden, wenn fest steht, wer sich zuerst infiziert hat (Fridolin
Beglinger, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, Basel 2003, Art. 231 StGB N.
41). Statistische Tests und ein Vergleich der Virenstämme ermöglichen unter
Umständen sowohl Rückschlüsse auf die Infektionsquelle als auch auf den
Zeitpunkt der Infektion (BEGLINGER, a.a.O., Art. 231 StGB N. 41, mit
zahlreichen Beispielen).
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Genau dies leistet im vorliegenden Fall das Gutachten vom Nationalen Zentrum
für Retroviren vom 5. August 2004. Aufgrund der DNA-Extraktion der Blutproben
der Prozessbeteiligten, den Subtypenbestimmungen und phylogenetischen Analysen
der HI-Viren ist erstellt, dass die Beschwerdeführerin mit einem zweifelsfrei
vom Beschwerdegegner abstammenden HI-Virus infiziert wurde und dieser bereits
vor Juni 2002 infiziert war. Davon geht auch der angefochtene Entscheid aus.
- Die Vorinstanz verkennt allerdings die Tragweite der gutachterlichen
Schlussfolgerung, wenn sie ausführt, die Frage nach der Übertragung durch eine
Drittperson werde ausdrücklich offengelassen. Erfahrungswissenschaften
verfahren methodisch-abstrakt, d.h., Aufschluss über den
Untersuchungsgegenstand können sie nur so weit geben, wie es ihre bestimmte
Methode zulässt. Was sich dem methodischen Zugriff entzieht, darüber kann ein
wissenschaftliches Gutachten keine Aussage treffen. Es liegt auf der Hand, dass
die Übertragung des HI-Virus " über eine in dieser Untersuchung nicht
vertretene weitere Person " nicht ausgeschlossen werden kann. Um eine
allfällige Trägerschaft des unbekannten Dritten mit dem HI-Virus überhaupt
festzustellen und es mit den bekannten Virussequenzen vergleichen zu können,
bedürfte es je einer Blutprobe, die fehlt. Die Aussage im Gutachten ist daher
nichts anderes als ein methodischer Hinweis. Sie besagt keineswegs, dass die
Wahrscheinlichkeit einer indirekten Übertragung mit jener einer
Direktübertragung gleichzustellen wäre. Aus statistischen Gründen leuchtet
nämlich unmittelbar ein, dass mit jeder weiteren Person, die in einer
hypothetischen Kettenübertragung hinzugedacht werden muss, die
Übertragungswahrscheinlichkeit - exponentiell - abnimmt. Offensichtlich
unzutreffend ist daher die Auffassung der Vorinstanz, dass die Möglichkeit
einer direkten Übertragung genauso wahrscheinlich sei wie jene einer indirekten
Übertragung über mehrere Drittpersonen.
- Die hypothetische Annahme, der Beschwerdegegner könnte H. in Marbella
(Spanien) mit dem HI-Virus angesteckt haben, diese wiederum eine Dritt- bzw.
Viertperson (in der Schweiz), welche dann die Beschwerdeführerin angesteckt
hätte, ist im höchsten Mass unwahrscheinlich. Selbst wenn man zu Gunsten des
Beschwerdegegners für das vorliegende Verfahren annimmt, er habe H. im Juni
2002 tatsächlich infiziert, bleibt sie eine bloss abstrakte Möglichkeit.
Konkrete Anhaltspunkte dafür liegen nicht vor, weder für die (zweite)
Übertragung des HI-Virus auf den unbekannten Dritten und noch weniger
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für die (dritte) Übertragung auf die Beschwerdeführerin. Die Vorinstanz lässt
vermuten, H. könnte das Virus dem Unbekannten bei ihrem Aufenthalt in der
Schweiz weitergegeben haben, während die Beschwerdeführerin - vom 16. Juli 2002
bis 2. August 2002 - in Brasilien weilte, doch trug diese das Virus zum
damaligen Zeitpunkt bereits in sich. Obwohl die Vorinstanz selbst feststellt,
dass ihre Infektion "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" im Juni
2002 erfolgte, prüft sie alsdann die Hypothese einer unrealistischen
Kettenübertragung bis August 2002. Damit setzt sie sich nicht nur in
Widerspruch zu den eigenen Ausführungen, sondern weicht auch ohne triftige
Gründe von den Feststellungen des behandelnden Arztes und der Gutachter ab.
- Zusammenfassend stellt die Vorinstanz fest, dass der Beschwerdegegner ein
seltenes HI-Virus in sich trägt und das auf die Beschwerdeführerin übertragene
Virus zweifelsfrei von diesem abstammt, dass mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit ihre Ansteckung im Juni 2002 erfolgte und der
Beschwerdegegner damals bereits infiziert war, und dass sie
unbestrittenermassen im gleichen Zeitraum (Anfang/Mitte Juni 2002) mehrfach
ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Bei dieser Sachlage bleibt die
Hypothese einer indirekten HIV-Übertragung über mehrere Drittträger eine rein
theoretische Möglichkeit, die vernünftige Zweifel an der Infizierung durch den
Beschwerdegegner schlechterdings nicht zu begründen vermag. Die gegenteilige
Auffassung der Vorinstanz ist unhaltbar.
-
- Die Vorinstanz spricht den Beschwerdegegner vom Anklagevorwurf der
fahrlässigen schweren Körperverletzung und des fahrlässigen Verbreitens
menschlicher Krankheiten auch mangels Fahrlässigkeit frei.
Der Eventualbegründung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Der
Beschwerdegegner hatte in den letzten Jahren mit verschiedenen Frauen
ungeschützten Geschlechtsverkehr. Dabei war ihm das Risiko, das mit
ungeschützten sexuellen Kontakten einhergeht, bekannt und er wusste, wie man
sich davor schützen kann. Er selber bezeichnete sein Verhalten als "Kamikaze".
Im Juli 2000 eröffnete ihm eine seiner Sexualpartnerinnen, B., dass sie
HIV-positiv sei. Danach vollzog er mit ihr den Geschlechtsverkehr nur noch mit
Kondom. Eine eigene Infektion mit dem HI-Virus schloss er aus und einem
HIV-Test unterzog er sich nicht, weil er nie irgendwelche Symptome eines
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Primärinfektes, ähnlich einer Erkältung oder einer leichten Grippe, verspürte.
Zu Gunsten des Beschwerdegegners geht die Vorinstanz davon aus, dass er sich
kurz vor der Infizierung der Beschwerdeführerin - z.B. beim ungeschützten
Geschlechtsverkehr mit H. - infiziert hat. Der Ursprung seiner Infektion blieb
ungeklärt, wobei die Untersuchung ergeben hat, dass B. als Infektionsquelle
ausgeschlossen werden kann.
Die Vorinstanz verneint eine Fahrlässigkeit vorab damit, dass keine
Rechtspflicht bestehe, sich nach jedem ungeschützten Geschlechtsverkehr einem
HIV-Test zu unterziehen, ehe man sich mit dem nächsten Sexualpartner auf einen
ungeschützten Verkehr einlasse. Zu beachten sei sodann, dass das
Ansteckungsrisiko pro Sexualkontakt zwischen 0,2-50 % betrage. Die Hälfte aller
infizierten heterosexuellen Männer wisse während zehn Jahren nicht um ihre
HIV-Infektion, 70-80 % der Neuinfizierten zeigten tatsächlich grippeähnliche
Symptome (Fieber, Drüsen- und Lymphknoten-Schwellungen, usw.) und die
"Fieberschubtheorie" sei in der Bevölkerung ziemlich weit verbreitet. Trotz des
beruflichen Erfolgs und seiner Weltoffenheit könne dem Beschwerdegegner nicht
mehr Wissen angelastet werden als dem Durchschnittsmenschen. Die Frage, ob er
sich in guten Treuen auf das Ausbleiben von "Fieberschüben" habe verlassen
dürfen, könne aber offenbleiben. Selbst wenn man eine pflichtwidrige
Unvorsichtigkeit darin erblicken wollte, dass er sich nach der Eröffnung von B.
(im Juli 2000) nicht auf das HI-Virus testen liess, fehlte es an der
Voraussetzung des hypothetischen Kausalzusammenhangs. Da nämlich anzunehmen
sei, dass er sich erst kurz vor der Beschwerdeführerin (im Juni 2002) das
HI-Virus zugezogen habe, hätte ein HIV-Test zu jenem Zeitpunkt ein negatives
Testresultat erbracht. Es könne somit nicht gesagt werden, dass sein Verhalten
mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit oder mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit die Ursache des Erfolgs bildete.
- Die Beschwerdeführerin wendet dagegen zusammengefasst ein, das Strafverfahren
wegen (Eventual-)Vorsatzes sei nur deshalb eingestellt worden, weil die
Staatsanwaltschaft davon ausgegangen sei, dem Beschwerdegegner lasse sich der
Wille zur Tatbestandsverwirklichung nicht rechtsgenügend nachweisen. Als
Fahrlässigkeit sei ihm aber vorzuwerfen, dass er im Wissen um die Möglichkeit
seiner eigenen HIV-Infektion und der Ansteckungsgefahr ungeschützten
Geschlechtsverkehr praktizierte, was zur HIV-Übertragung geführt hat. Wer einen
konkreten Hinweis habe, dass er Träger des HI-Virus sein
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könnte, und dennoch ungeschützt sexuell verkehre, verhalte sich nicht
sorgfältig und überschreite das noch als zulässig zu bezeichnende Risiko. Das
ergebe sich nicht zuletzt aus den Safer-Sex-Regeln. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz könne und müsse von jeder Person mit einem konkreten Hinweis auf die
eigene HIV-Infektion verlangt werden, dass sie nur noch geschützten
Geschlechtsverkehr praktiziere, bis sie das Risiko durch einen negativen
HIV-Test ausgeschlossen habe.
- Der objektive Tatbestand der schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB) sowie
des Verbreitens menschlicher Krankheiten (Art. 231 StGB) ist nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts erfüllt, wenn die HIV-infizierte Person durch
ungeschützte Sexualkontakte das HI-Virus auf eine andere überträgt (BGE 116 IV
125 E. 4 und 5; BGE 131 IV 1 E. 1 und 4). Subjektiv handelt (eventual-)
vorsätzlich, wer im Wissen um seine HIV-Infektion und in Kenntnis der
Übertragungsmöglichkeit den Partner nicht über die Infektion aufklärt und
gleichwohl mit ihm ungeschützt sexuell verkehrt, obschon sowohl die Aufklärung
als auch Schutzvorkehrungen ein Einfaches wären (BGE 131 IV 1 E. 2.2 S. 6). Die
fahrlässige Verursachung des Tatbestandserfolgs steht gemäss Art. 125 Abs. 2
StGB (schwere Körperverletzung) und Art. 231 Ziff. 2 StGB (Verbreitung
menschlicher Krankheiten) ebenfalls unter Strafe. Das Bundesgericht hat sich
bisher zur Strafbarkeit der HIV-Übertragung wegen Fahrlässigkeit noch nicht
geäussert.
-
- Gemäss Art. 12 Abs. 3 StGB (in der Fassung des Bundesgesetzes vom 13.
Dezember 2002, in Kraft seit 1. Januar 2007) handelt fahrlässig, wer die Folgen
seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder
darauf nicht Rücksicht nimmt (Satz 1). Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit,
wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und
nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Satz 2).
- Der Ausgangspunkt aller Vorsichts- bzw. Sorgfaltspflichten liegt im
prinzipiellen Verbot, fremde Rechtsgüter zu gefährden. Wo besondere Normen ein
bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der im Einzelfall zu
beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften. Das Gleiche gilt
für entsprechende allgemein anerkannte Verhaltensregeln (in Form von
Empfehlungen, Richtlinien, Merkblättern usw.), auch wenn diese keine
BGE 134 IV 193 S. 204
Rechtsnormen darstellen (BGE 118 IV 130 E. 3a S. 133 mit Hinweisen; ferner BGE
126 IV 13 E. 7a/bb; BGE 127 IV 62 E. 2d und e). Das schliesst nicht aus, dass
der Vorwurf der Fahrlässigkeit auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze wie etwa
den allgemeinen Gefahrensatz gestützt werden kann (BGE 127 IV 62 E. 2d S. 65).
Danach hat derjenige, welcher eine gefährliche Handlung ausführt, alles
Zumutbare vorzukehren, damit die Gefahr nicht zu einer Verletzung fremder
Rechtsgüter führt (Andreas Donatsch/Brigitte Tag, Strafrecht I, 8. Aufl.,
Zürich 2006, S. 338).
Nach dem Prinzip des erlaubten Risikos lässt sich eine Gefährdung fremder
Rechtsgüter, die über das allgemeine Lebensrisiko nicht hinausgeht, nicht
verbieten, sondern gefordert werden kann nur die Einhaltung eines bestimmten
Mindestmasses an Sorgfalt und Rücksichtnahme (BGE 117 IV 58 E. 2b S. 61 f.;
Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl.,
Bern 2005, § 9 Rz. 34 und 37 S. 159 f.). Beim erlaubten Risiko tritt an die
Stelle des Verbots jeglicher Gefährdung das Gebot, die Gefahr auf dasjenige
Minimum einzuschränken, das gar nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand
ausgeschlossen werden kann, wenn man die entsprechende Tätigkeit überhaupt
zulassen will (STRATENWERTH, a.a.O., § 9 Rz. 37 S. 160). Dabei geht es um die
Frage, welche Risiken allgemein in Kauf zu nehmen sind, und nicht um eine
Ermässigung der Sorgfaltsanforderungen (BGE 117 IV 58 E. 2b S. 62).
- Eine Sorgfaltspflichtverletzung ist nur anzunehmen, wenn der Täter eine
Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte voraussehen bzw. erkennen können
und müssen. Für die Beantwortung dieser Frage gilt der Massstab der Adäquanz.
Danach muss das Verhalten des Täters geeignet sein, nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge und den Erfahrungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen
herbeizuführen oder mindestens zu begünstigen (BGE 133 IV 158 E. 6.1 S. 168;
BGE 131 IV 145 E. 5.1 S. 147 f.). Damit der Eintritt des Erfolgs dem Täter
zuzurechnen ist, genügt seine blosse Vorhersehbarkeit nicht. Vielmehr stellt
sich die weitere Frage, ob er auch vermeidbar war. Dazu wird ein hypothetischer
Kausalverlauf untersucht und geprüft, ob der Erfolg bei pflichtgemässem
Verhalten des Täters ausgeblieben wäre. Dabei genügt es für die Zurechnung des
Erfolgs, wenn das Verhalten des Täters mindestens mit einem hohen Grad der
Wahrscheinlichkeit oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die
Ursache des Erfolgs bildete (BGE 130 IV 7 E. 3.2 S. 11 mit Hinweisen).
-
- Für das Mass der zu beachtenden Sorgfalt im Zusammenhang mit der
Übertragungsgefahr des HI-Virus ist von den Empfehlungen des Bundesamtes für
Gesundheit (sog. Safer-Sex-Regeln) auszugehen. Danach gilt als genügender
Schutz vor einer HIV-Infektion der geschützte Geschlechtsverkehr mit geprüften
Präservativen. Ausserhalb treuer Partnerschaften wird Safer Sex immer
empfohlen, innerhalb treuer Partnerschaften jedem, der auch nur möglicherweise
infiziert ist und eine eigene HIV-Infektion nicht mit hinreichender Sicherheit
ausschliessen kann. Hinreichende Sicherheit bietet ein negativer HIV-Test nach
Ablauf von drei Monaten (serologisches Fenster) seit der letzten
Infektionsmöglichkeit, wozu jede sexuelle Handlung zählt, die nicht als Safer
Sex gilt (BEGLINGER, a.a.O., Art. 231 StGB N. 32, mit Hinweisen).
Das Problem des erlaubten Risikos stellt sich bei der Gefahr einer
HIV-Übertragung namentlich insofern, als etliche Personen unerkannt Virusträger
sind. In der Lehre ist umstritten, ob es diesen Personen erlaubt ist,
unabgeschirmt gefährliche Kontakte einzugehen, obwohl sie womöglich mit ihrer
HIV-Infektion rechnen müssen (für erlaubtes Risiko: Karl-Ludwig Kunz, Aids und
Strafrecht, Die Strafbarkeit der HIV-Infektion nach schweizerischem Recht,
ZStrR 107/1990 S. 49 ff.; ablehnend: BEGLINGER, a.a.O., Art. 231 StGB N. 33;
Christian Huber, Ausgewählte Fragen zur Strafbarkeit der HIV-Übertragung, ZStrR
115/1997 S. 116 f.; ferner ders., HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung im Lichte
des Art. 231 StGB sowie der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte, SJZ 85/1989
S. 152 f.). Nach zutreffender Auffassung kann die Gefahr der Übertragung des
HI-Virus nicht generell ein erlaubtes Risiko darstellen, das der Partner (z.B.
der nichts ahnende Ehegatte bei einseitiger Untreue) in jedem Fall hinzunehmen
hätte. Der gegenteiligen Auffassung, die darauf abstellt, dass mangels
Rechtspflicht und zuverlässiger faktischer Erkennbarkeit kein Sorgfaltsgebot
existiere, sich vor infektionsgefährdeten Kontakten der eigenen Gesundheit zu
vergewissern (Kunz, a.a.O., S. 52), kann nicht gefolgt werden. Zum einen vermag
das Fehlen einer - ausdrücklichen - Rechtspflicht, sich einem HIV-Test zu
unterziehen, die Frage nicht zu beantworten, unter welchen Umständen die Grenze
des erlaubten Risikos überschritten wird. Zum anderen wird übersehen, dass sich
die staatlichen Empfehlungen gerade an die nichtwissentlich HIV-Infizierten
richten (BEGLINGER, a.a.O., Art. 231 StGB N. 33).
BGE 134 IV 193 S. 206
Massgebend bleibt somit, ob der Risikostifter zur Zeit der Tat konkrete
Anhaltspunkte für die eigene HIV-Infektion hat, was aufgrund der jeweiligen
Umstände im Einzelfall zu beurteilen ist. Als Anhaltspunkt gilt grundsätzlich
jeder erkannte bzw. bewusst erlebte Risikokontakt in der Vergangenheit, etwa
ungeschützte Intimkontakte mit einer Person, deren sexuelles Vorleben er nicht
kennt. Bei Vorliegen solcher Verdachtsmomente ist der Risikostifter gehalten,
auf ungeschützten Geschlechtsverkehr solange zu verzichten, wie er die eigene
HIV-Infektion nicht mit hinreichender Sicherheit ausschliessen kann. Wer trotz
Kenntnis der Möglichkeit seiner HIV-Infektion in Missachtung der
Safer-Sex-Regeln weiterhin ungeschützt verkehrt, handelt pflichtwidrig und
schafft eine objektiv erhöhte Gefahr für die Rechtsgüter seiner Sexualpartner,
die das erlaubte Risiko übersteigt.
- Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz steht fest, dass der
Beschwerdegegner während mehreren Jahren mit verschiedenen Partnerinnen
ungeschützt sexuell verkehrte. Die Möglichkeit, sich bei einem der
Risikokontakte mit dem HI-Virus infiziert zu haben, konnte er nicht
ausschliessen, weshalb er gehalten gewesen wäre, risikominimierende
Schutzvorkehrungen zu treffen. Spätestens mit der Eröffnung von B., sie sei
HIV-positiv, wurde ihm die Möglichkeit der eigenen HIV-Infektion
unmissverständlich vor Augen geführt. In der Folge schützte er sich zwar beim
Geschlechtsverkehr mit B., doch verkehrte er mit den übrigen Sexualpartnerinnen
weiterhin ungeschützt. Damit missachtete er die Safer-Sex-Regeln und setzte
seine Partnerinnen pflichtwidrig einem unerlaubten HIV-Infektionsrisiko aus.
- Entgegen der Auffassung der Vorinstanz besteht der Vorwurf der
Pflichtwidrigkeit nicht darin, der Beschwerdegegner habe sich keinem HIV-Test
unterzogen. Vorzuwerfen ist ihm vielmehr nur, dass er beim Geschlechtsverkehr
mit der Beschwerdeführerin die ihm zumutbaren Schutzvorkehrungen nicht
getroffen hat, obwohl er zur Zeit der Tat konkrete Anzeichen für die eigene
HIV-Infektion hatte. Die aufgeworfene (aber offengelassene) Frage, ob er sich
in guten Treuen auf das Ausbleiben von Fieberschüben habe verlassen dürfen, ist
zu verneinen. Aufgrund der staatlichen Kampagnen zur AIDS-Prävention gilt als
bekannt, dass der ungeschützte Geschlechtsverkehr mit unbekannten oder
wechselnden Sexualpartnern ein deutlich erhöhtes Infektionsrisiko mit sich
bringt und das Risiko durch entsprechende Schutzmassnahmen zu minimieren ist
(Benützen von Präservativen). Bei risikobelastetem Vorverhalten ist diese
BGE 134 IV 193 S. 207
Schutzmassnahme von jedermann zu verlangen, erst recht von einer gebildeten,
weltoffenen und erfahrenen Person wie dem Beschwerdegegner. Unerheblich sind
schliesslich die Überlegungen der Vorinstanz zum Ansteckungsrisiko im
Allgemeinen. Die Pflicht zu Schutzvorkehrungen besteht unabhängig von der
statistischen Wahrscheinlichkeit der Übertragung des HI-Virus. Denn es ist
unmöglich zu wissen, ob nicht gerade der eine ungeschützte Sexualkontakt den
Partner infiziert (BGE 131 IV 1 E. 2.2 S. 6). Auf den diesbezüglichen
Wissensstand kommt es weder beim vorsätzlich noch beim fahrlässig handelnden
Täter an. Im Übrigen stellt die Tatbestandsvariante der unbewussten
Fahrlässigkeit klar, dass die Unvorsicht nicht nur pflichtwidrig ist, wenn der
Täter auf die Folgen seines Verhaltens keine Rücksicht nimmt, sondern auch,
wenn er die Gefährdung für die Rechtsgüter des Opfers überhaupt nicht bedenkt
(Art. 12 Abs. 3 Satz 1 StGB).
- Nach dem Massstab der Adäquanz ist der ungeschützte Geschlechtsverkehr ohne
weiteres geeignet, das HI-Virus auf den Partner zu übertragen, stellen
ungeschützte sexuelle Kontakte doch den Hauptgrund für die HIV-Übertragung dar.
Die Gefahr des Erfolgseintritts war somit voraussehbar. Hätte der
Beschwerdegegner entsprechend den Safer-Sex-Regeln jeweils Schutzvorkehrungen
getroffen, wäre die Beschwerdeführerin mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit nicht infiziert worden. Damit ist auch die Voraussetzung der
Vermeidbarkeit des Erfolgs gegeben. Zu prüfen bleibt, ob der Erfolgszurechnung
das Verhalten der Beschwerdeführerin entgegensteht.
-
- Die Zurechnung des Erfolgs kann an der Selbstverantwortung des Opfers
scheitern. In diesem Zusammenhang ist unter anderem zwischen Mitwirkung an
fremder Selbstgefährdung und einverständlicher Fremdgefährdung zu
unterscheiden. Die Unterscheidung richtet sich danach, ob der Rechtsgutträger
das Tatgeschehen derart beherrscht, dass er darin jederzeit und bis zuletzt
steuernd einzugreifen vermag, oder aber das Gefährdungsgeschehen in den Händen
des Dritten liegt (BGE 125 IV 189 E. 3a; BGE 131 IV 1 E. 3.2; BGE 134 IV 149 E.
4.5, je mit Hinweisen).
Die Selbstgefährdung ist stets straflos. Die Mitwirkung daran (d.h. die
Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung) ist es auch, solange der sich selbst
Gefährdende das Risiko im selben Masse übersieht
BGE 134 IV 193 S. 208
wie der Mitwirkende. Die Straflosigkeit der Mitwirkung an fremder
Selbstgefährdung ergibt sich aus der Straflosigkeit des Suizids und -
vorbehältlich Art. 115 StGB - der Teilnahme hierzu. Wenn schon die Teilnahme an
einer Selbsttötung und auch an einer vorsätzlichen Selbstverletzung straflos
bleibt, kann um so weniger die Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung strafbar
sein. Dahinter steht die normative Wertentscheidung, dass kein Grund besteht,
die Handlungsfreiheit einzuschränken, solange niemand gegen seinen Willen
gefährdet wird (BGE 131 IV 1 E. 3.2; BGE 134 IV 149 E. 4.5).
Die Straflosigkeit der Mitwirkung an fremder Selbstgefährdung findet ihre
Grenze jedoch dort, wo der Veranlasser oder Förderer ein überlegenes Sachwissen
in Bezug auf die in Frage stehende Gefahr hat (BGE 125 IV 189 E. 3a S. 194)
oder erkennt, dass das Opfer die Tragweite seines Entschlusses nicht
überblickt. In diesem Fall schafft er ein Risiko, das vom Willen des Opfers
nicht mehr gedeckt und dessen Verwirklichung daher dem Mitwirkenden zuzurechnen
ist (BGE 131 IV 1 E. 3.3 mit Hinweisen).
- Nach der Rechtsprechung gilt der ungeschützte Sexualkontakt einer
HIV-infizierten Person mit einem freiverantwortlich handelnden, informierten
Partner als Mitwirkung an einer Selbstgefährdung und nicht als einverständliche
Fremdgefährdung. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, dass bei Sexualkontakten
die Herrschaft über das Gefährdungsgeschehen grundsätzlich beiden Beteiligten
zukommt. Sie haben es jederzeit in der Hand, noch rechtzeitig abzubrechen oder
aber ein Kondom zu benützen bzw. darauf zu beharren, dass der Partner dieses
verwendet (BGE 131 IV 1 E. 3.4 S. 10). Im genannten Entscheid hat das
Bundesgericht eine straflose Mitwirkung an einer Selbstgefährdung bejaht, weil
das Opfer ab einem bestimmten Zeitpunkt wusste, dass sein Partner HIV-infiziert
war, und sich dennoch freiverantwortlich auf ungeschützte sexuelle Kontakte mit
ihm einliess. Zu verneinen war dagegen eine Straffreistellung in Bezug auf den
Tatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten (Art. 231 StGB). Bei
Delikten der Gemeingefährdung, die sich ausschliesslich gegen öffentliche
Interessen richten, kann es auf die Haltung oder das Wissen des zunächst
Betroffenen nicht ankommen (BGE 131 IV 1 E. 4 mit Hinweisen).
- Entsprechendes muss gelten, wenn keiner der beiden Sexualpartner (mit
Sicherheit) weiss, dass einer von ihnen HIV-infiziert ist.
BGE 134 IV 193 S. 209
Wer sich auf ungeschützte sexuelle Kontakte einlässt, ohne dass er frühere
Risikokontakte und damit die Möglichkeit einer HIV-Infektion seines Partners
ausschliessen kann, setzt sich selbst einer Gefährdung für seine Rechtsgüter
aus. Die Zurechnung des Verletzungserfolgs scheitert daher in der Regel an der
eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers, wenn sich das Risiko der
HIV-Übertragung realisiert. Das gilt nach dem Gesagten jedoch nur, solange
beide Sexualpartner das Risiko einer früheren HIV-Infektion und die
Ansteckungsgefahr im gleichen Mass überblicken. Besteht auf Seiten des Opfers
ein konkret entscheidrelevantes Wissensdefizit, ist die Selbstgefährdung nicht
mehr von seinem Willen getragen und daher nicht freiverantwortlich. In diesem
Fall ist die Risikoverwirklichung dem Mitwirkenden zuzurechnen (vgl. KUNZ,
a.a.O., S. 55 f.).
- Die Beschwerdeführerin verkehrte gemäss ihren eigenen Aussagen mit anderen
Sexualpartnern nur geschützt, während sie in Bezug auf den Beschwerdegegner mit
dem ungeschützten Geschlechtsverkehr einverstanden war. Umstände, wonach es ihr
nicht möglich oder zumutbar gewesen wäre, sich selbst zu schützen und auf das
Benützen eines Kondoms zu bestehen, sind nicht ersichtlich. Hingegen wusste nur
der Beschwerdegegner, dass er mit der HIV-infizierten B. ungeschützt sexuell
verkehrt hatte. Die Beschwerdeführerin hat er darüber nicht aufgeklärt. Ebenso
wusste diese nicht, dass er sich danach keinem HIV-Test unterzogen und trotz
der Information von B. weiterhin ungeschützte Sexualkontakte hatte, offenbar
unbekümmert darum, welches die Folgen seines Verhaltens sein könnten. Darin
liegt ein entscheidrelevantes Wissensdefizit. Denn es lässt sich nicht
annehmen, und wird im angefochtenen Entscheid auch nicht festgestellt, dass die
Beschwerdeführerin beim gleichen Kenntnisstand - insbesondere im Wissen um die
früheren Risikokontakte des Beschwerdegegners mit B. und deren HIV-Posivität -
noch immer mit dem ungeschützten Geschlechtsverkehr einverstanden gewesen wäre.
- Dass sich der Beschwerdegegner das HI-Virus nicht bei B., sondern bei anderer
Gelegenheit zugezogen hatte (E. 5.1), ändert nichts daran, dass die
Beschwerdeführerin das HIV-Infektionsrisiko zur Tatzeit nicht im gleichen Mass
überblicken konnte. War ihr Entschluss aber nicht freiverantwortlich und
gewollt, scheidet die Annahme einer straflosen Mitwirkung an einer
eigenverantwortlichen Selbstgefährdung aus. Auf Seiten des Beschwerdegegners
bleibt belanglos, welches seine Infektionsquelle war. Richtig ist, dass es für
die Zurechnung des tatbestandsmässigen Erfolgs nicht genügt, dass
BGE 134 IV 193 S. 210
der Täter ein (unerlaubtes) Risiko für dessen Eintritt geschaffen oder
gesteigert hat. Vielmehr muss sich im Erfolg gerade jenes Risiko verwirklicht
haben, dessentwegen das Verhalten als pflichtwidrig gilt (zum Erfordernis des
sog. Risikozusammenhanges siehe Stefan Trechsel, a.a.O., Art. 18 StGB N. 40;
Andreas Donatsch, Sorgfaltsbemessung und Erfolg beim Fahrlässigkeitsdelikt,
Habilitationsschrift Zürich 1987, S. 189 ff.; Stratenwerth, a.a.O., § 16 Rz. 21
S. 458 und § 9 Rz. 42 S. 163; CLAUS ROXIN, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4.
Aufl., München 2006, § 11 N. 69 ff., insbes. N. 84 ff. und 87; vgl. auch BGE
133 IV 158 E. 6.1 S. 168). Dem Beschwerdegegner ist als
Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen, dass er mit der Beschwerdeführerin
ungeschützten Geschlechtsverkehr praktizierte, obwohl er sich in der
Vergangenheit auf zahlreiche Sexualkontakte einliess, von denen er nicht wusste
und nicht weiter abgeklärt hat, ob er sich dabei mit dem HI-Virus angesteckt
hatte. Dadurch setzte er zunächst sich selbst und dann seine Partnerinnen einem
HIV-Infektionsrisiko aus, das sich im Erfolg der Körperverletzung der
Beschwerdeführerin realisiert hat (E. 4.4). Der erforderliche
Risikozusammenhang ist damit gegeben, weshalb die Verwirklichung des Risikos
dem Beschwerdegegner zuzurechnen ist.
- Der Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung (Art.
125 Abs. 2 StGB) und des fahrlässigen Verbreitens menschlicher Krankheiten
(Art. 231 Ziff. 2 StGB) verletzt aus den dargelegten Gründen Bundesrecht. Die
Beschwerde ist gutzuheissen.