Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 II 201



Urteilskopf

134 II 201

24. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Bundesamt für Migration gegen X. sowie Verwaltungsrekurskommission des Kantons
St. Gallen, Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_253/2008 vom 7. Juli 2008

Regeste

Art. 89 Abs. 2 lit. a und Art. 46 BGG; Art. 78 und 112 AuG;
Verhältnismässigkeit der Verlängerung einer Durchsetzungshaft, welche dreizehn
Monate gedauert hat. Beschwerdebefugnis des Bundesamts für Migration gegen den
Entscheid des kantonalen Haftrichters, die Verlängerung einer Durchsetzungshaft
wegen Unverhältnismässigkeit der Massnahme abzulehnen (E. 1.1). Nach Art. 112
Abs. 1 AuG richten sich die Verfahren der Bundesbehörden grundsätzlich nach den
allgemeinen Bestimmungen der Bundesrechtspflege; der Friststillstand gemäss
Art. 46 BGG gilt deshalb auch für bundesgerichtliche Verfahren betreffend
ausländerrechtliche Zwangsmassnahmen (E. 1.2). Es ist jeweils aufgrund aller
Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob eine Durchsetzungshaft (noch) geeignet
bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst. Ein
erklärtes, konsequent unkooperatives Verhalten bildet dabei bloss einen unter
mehreren zu berücksichtigenden Gesichtspunkten (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 202

BGE 134 II 201 S. 202
X. (geb. 1981) will als staatenloser Palästinenser im Flüchtlingslager Bar
Elias in Beirut geboren sein und seit seinem zweiten Lebensjahr in Algerien
gelebt haben. Am 11. März 2004 lehnte das Bundesamt für Flüchtlinge sein
Asylgesuch ab und forderte ihn auf, die Schweiz zu verlassen, was er nicht tat.
Vom 21. Dezember 2004 bis zum 21. Dezember 2006 verbüsste X. mehrere
Gefängnisstrafen im Zusammenhang mit verschiedenen Diebstählen und
Betäubungsmitteldelikten. Abklärungen bei den algerischen Behörden zu seiner
Identität blieben ohne Erfolg.
Am 17. Januar 2007 nahm das Ausländeramt des Kantons St. Gallen X. in
Durchsetzungshaft. Der Einzelrichter der Verwaltungsrekurskommission des
Kantons St. Gallen genehmigte diese am 19. Januar 2007 und verlängerte sie in
der Folge - jeweils in Schritten von zwei Monaten - bis zum 16. Februar 2008.
Ein weiteres Gesuch des Ausländeramts, die Haft um zwei Monate zu verlängern,
wies er am 14. Februar 2008 ab: Die Fortsetzung der Durchsetzungshaft erscheine
trotz Fehlens von Haftbeendigungsgründen nicht mehr verhältnismässig, da der
"Haftvollzug seinen Zweck bis zur gesetzlichen Haftbeendigung in fünf Monaten
voraussichtlich nicht mehr
BGE 134 II 201 S. 203
erreichen" werde. Es fehlten konkrete Anhaltspunkte dafür, dass X. "innerhalb
der gesetzlich maximal zulässigen Haftdauer von 18 Monaten zu einer Änderung
seines Verhaltens gebracht werden" könne.
Das Bundesgericht heisst die vom Bundesamt für Migration hiergegen eingereichte
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut und hebt den
haftrichterlichen Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1.

1.1 Das Bundesamt für Migration ist im Bereich der ausländerrechtlichen
Zwangsmassnahmen zur Behördenbeschwerde legitimiert, falls es um die Klärung
einer Rechtsfrage eines tatsächlich bestehenden Einzelfalls mit Auswirkungen
auf künftig ähnlich gelagerte Sachverhalte geht (vgl. Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG
in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 OV-EJPD [SR 172.213.1]; BGE 129 II 1 E. 1.1 S.
4). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sich eine neue Rechtsfrage stellt
oder wenn es gilt, einer drohenden bundesrechtswidrigen Rechtsentwicklung in
der kantonalen Praxis Einhalt zu gebieten (vgl. die Urteile 2A.709/2006 vom 23.
März 2007, E. 2.1, und 2A.748/2006 vom 18. Januar 2007, E. 2.2). Diese
Voraussetzungen sind hier erfüllt: Zwar hat sich das Bundesgericht in BGE 134 I
92 ff. mit der EMRK-Konformität und der Problematik der Verhältnismässigkeit
der Durchsetzungshaft bereits auseinandergesetzt, doch stand der vorliegend zu
prüfende Aspekt in jenem Verfahren nicht im Vordergrund.

1.2 Der Entscheid der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen ging
dem Bundesamt für Migration am 22. Februar 2008 zu. Dieses hat seine Beschwerde
- unter Inanspruchnahme des Friststillstands über Ostern (Art. 46 Abs. 1 lit. a
BGG) - am 28. März 2008 eingereicht. Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung hat
entschieden, dass der gesetzliche Friststillstand von Art. 46 Abs. 1 BGG bei
der strafprozessualen Haft nicht zur Anwendung komme (vgl. BGE 133 I 270 E.
1.2.2); diese Rechtsprechung kann indessen nicht auf die ausländerrechtlichen
Festhaltungen übertragen werden: Der Friststillstand gilt nicht in Verfahren
betreffend aufschiebende Wirkung und andere vorsorgliche Massnahmen sowie in
der Wechselbetreibung und auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe (Art.
46 Abs. 2 BGG). Die ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen fallen unter keine
dieser Ausnahmen. Art. 112 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über
die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20; in Kraft seit dem 1. Januar
2008) sieht ausdrücklich vor,
BGE 134 II 201 S. 204
dass die Bestimmungen über den Friststillstand einzig bei der bundesrechtlichen
Wegweisung am Flughafen (Art. 65 AuG) und beim Empfangsstellenverfahren (Art.
76 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 AuG) keine Anwendung finden; nach Art. 112 Abs. 1 AuG
richtet sich das Verfahren der Bundesbehörden nach den allgemeinen Bestimmungen
der Bundesrechtspflege, womit Art. 46 BGG vor Bundesgericht zur Anwendung
kommt. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.

2.

2.1 Umstritten ist, ob der Haftrichter davon ausgehen durfte, dass die
Durchsetzungshaft des Beschwerdegegners nicht (mehr) verlängert werden konnte,
da dies unverhältnismässig war. Die Frage ist mit dem Bundesamt für Migration
zu verneinen:

2.2

2.2.1 Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in
jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der
Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder
Ausweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre
Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint (vgl. Art. 78 AuG). Der damit
verbundene Freiheitsentzug stützt sich sowohl auf Art. 5 Ziff. 1 lit. f (Haft
zur Sicherung eines schwebenden Ausweisungsverfahrens) als auch auf Art. 5
Ziff. 1 lit. b EMRK (Haft zur Erzwingung einer durch das Gesetz
vorgeschriebenen Verpflichtung). Die Durchsetzungshaft bildet das letzte
Mittel, wenn und soweit keine andere Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den
illegal anwesenden Ausländer auch gegen seinen Willen in seine Heimat
verbringen zu können. Sie darf nach dem Willen des Gesetzgebers bis zu 18
Monaten dauern (BGE 134 I 92 E. 2.1 und 2.3.1; BGE 133 II 97 E. 2.2 S. 99 f.
[zu Art. 13g ANAG]).

2.2.2 Nach der Rechtsprechung muss jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall
beurteilt werden, ob die Durchsetzungshaft (noch) geeignet bzw. erforderlich
erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (BGE 134 I 92 E. 2.3.2;
BGE 133 II 97 E. 2.2 S. 100 [zu Art. 13g ANAG]). Dabei ist dem Verhalten des
Betroffenen, den die Papierbeschaffung allenfalls erschwerenden objektiven
Umständen (ehemalige Bürgerkriegsregion usw.) sowie dem Umfang der von den
Behörden bereits getroffenen Abklärungen Rechnung zu tragen und zu
berücksichtigen, wieweit der Ausländer es tatsächlich in der Hand hat, die
Festhaltung zu beenden, indem er seiner Mitwirkungs- bzw. Ausreisepflicht
nachkommt (BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97 [zu Art. 13g ANAG]).
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2.2.3 Der Beschwerdegegner hat sich strikte geweigert, in sein Heimatland
zurückzukehren und bei der Abklärung bzw. Erstellung seiner Identität in
irgendeiner Weise mitzuwirken. Er erklärte am 6. Februar 2008, nicht bereit zu
sein, sein renitentes Verhalten aufzugeben; er nehme vielmehr eine weitere
Verlängerung der Durchsetzungshaft in Kauf. Entgegen der Annahme des
Haftrichters konnte hieraus nicht geschlossen werden, diese Zwangsmassnahme
könne ihr Ziel (überhaupt) nicht mehr erreichen: Der Beschwerdegegner wurde
seit 13 Monaten administrativ festgehalten; die Haft konnte bis zu einer Dauer
von 18 Monaten verlängert werden und hätte - bei einer allenfalls anschliessend
möglichen Ausschaffungshaft - insgesamt bis zu 24 Monaten dauern können (vgl.
Art. 79 AuG). Vor der Anordnung der Durchsetzungshaft hatten die Behörden alles
Denkbare vorgekehrt, um den Vollzug der Wegweisung zu organisieren, doch
scheiterten ihre Bemühungen immer wieder an der unkooperativen Haltung des
Betroffenen. Dieser verfügte in der Schweiz über keine sozialen Beziehungen
(Familie usw.), denen im Rahmen der Interessenabwägung bei der Haftverlängerung
Rechnung zu tragen gewesen wäre; er hatte sich seit seiner Wegweisung auch
nicht klaglos verhalten, wurde er hier doch wiederholt straffällig (Diebstahl,
Betäubungsmittelhandel usw.). Seiner Durchsetzungshaft war denn wiederum eine
Tätlichkeit gegen einen Mitbewohner an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort
vorausgegangen. Beim Beschwerdegegner handelte es sich schliesslich auch nicht
um eine "besonders schutzbedürftige" Person, welche wegen ihres Alters,
Geschlechts oder Gesundheitszustands spezieller Betreuung bedurft hätte, die
ihr nicht in einer Vollzugsanstalt gewährt werden konnte. Damit sprachen keine
überwiegenden Gründe gegen die Verlängerung der Durchsetzungshaft um die vom
Ausländeramt beantragten zwei Monate.

2.2.4 Was der Haftrichter hiergegen einwendet, überzeugte - jedenfalls zum
Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids, auf den abzustellen ist - nicht: Dass
sich der Betroffene (immer noch) unkooperativ zeigt, ist Voraussetzung, um die
Festhaltung überhaupt verlängern zu können, und insoweit sachimmanent, als der
Durchsetzungshaft (auch) die Funktion einer Beugehaft zukommt (vgl. BGE 134 I
92 E. 2.3.1). Allein die Tatsache, dass der Beschwerdegegner sich konsequent
geweigert hat, seine Identität offenzulegen oder zu deren Klärung beizutragen,
konnte noch nicht bedeuten, dass die Durchsetzungshaft nicht mehr geeignet war,
das angestrebte Ziel zu
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erreichen. Das mutmassliche künftige Verhalten des Betroffenen ist jeweils
aufgrund sämtlicher Umstände abzuschätzen. Ein erklärtes konsequent
unkooperatives Verhalten bildet dabei nur einen unter mehreren zu
berücksichtigenden Gesichtspunkten, andernfalls die Festhaltung umso weniger
angeordnet werden könnte, je renitenter sich die betroffene Person zeigt und je
stärker sie versucht, ihre Ausschaffung zu hintertreiben (BGE 134 I 92 E. 2.3.2
S. 97).

2.2.5 Dass der Beschwerdegegner jeweils keine mündliche richterliche
Haftüberprüfung verlangt hat, ist nicht entscheidend: Es steht dem Betroffenen
frei, dies zu tun, ohne dass daraus etwas zu seinen Gunsten oder Ungunsten
abgeleitet werden darf. Auch eine Unterscheidung - wie sie der Haftrichter in
seiner Vernehmlassung vorschlägt - danach, ob die Identität des Betroffenen
erstellt ist und die Rückführung (nur noch) an der Unmöglichkeit eines
Sonderflugs scheitert oder aber noch keinerlei bestätigte Angaben zu seinen
Personalien vorliegen, überzeugt nicht. Die Verhältnismässigkeit ist - wie
dargelegt - jeweils im Einzelfall aufgrund der konkreten Umstände zu
überprüfen; die Zwangsmassnahmen können insgesamt bis zu 24 Monaten dauern,
wobei nach einer (erfolglosen) Durchsetzungshaft - etwa bei allfälligen
Verhandlungen mit dem Heimatstaat bezüglich einer zwangsweisen Rückführung -
eine anschliessende Ausschaffungshaft nicht ausgeschlossen ist. Beim
Beschwerdeführer wäre in diesem Fall eine weitere Festhaltung von insgesamt 11
Monaten möglich gewesen, womit der Umstand, dass seine Personalien noch nicht
erstellt waren, für seine Freilassung nicht ausschlaggebend sein konnte. Das
öffentliche Interesse, die Durchsetzungshaft zu verlängern, um die
rechtskräftige Wegweisung vollziehen zu können, überwog (zumindest) im Februar
2008 noch jenes des Beschwerdegegners, auf freien Fuss gesetzt zu werden, auch
wenn die Verhältnismässigkeit der Durchsetzungshaft desto kritischer zu
hinterfragen ist, je länger sie dauert. Die Durchsetzungshaft unterliegt zudem
in dem Sinn dem Beschleunigungsgebot, dass die Behörden regelmässig von Amtes
wegen zu prüfen haben, ob die Ausschaffung tatsächlich vollzogen werden könnte,
falls der Betroffene bereit wäre, zu kooperieren; überdies müssen sie ihn bei
seinen Bemühungen, die erforderlichen Papiere zu beschaffen, jeweils aktiv
unterstützen (BGE 134 I 92 E. 2.3.1 S. 96).