Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 II 176



Urteilskopf

134 II 176

20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Politische Gemeinde Opfikon-Glattbrugg gegen unique zurich airport Flughafen
Zürich AG und Kanton Zürich sowie Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
1E.22/2007 vom 28. April 2008

Regeste

Enteignung nachbarrechtlicher Abwehransprüche infolge Fluglärms sowie von
Abwehrrechten gegen den direkten Überflug; Bemessung der Entschädigung für eine
kommunale Liegenschaft mit Kindergarten und Sozialwohnungen. Ob eine
Liegenschaft zum Verwaltungs- oder Finanzvermögen gehört, ist nicht
ausschlaggebend bei der grundsätzlichen Beurteilung, ob überhaupt ein Schaden
vorliegen kann (E. 11.2). Voraussetzungen für die Geltendmachung einer besseren
Verwendung des Grundstücks nach Art. 20 Abs. 1 EntG (Bestätigung der
Rechtsprechung). Am Stichtag konnte nicht von einer Zufallsnutzung die Rede
sein; es handelte sich um eine langjährige entsprechende Bewirtschaftung.
Sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht hätten mehrere
Schritte unternommen und zahlreiche Aufwendungen getätigt werden müssen, um das
Grundstück besser zu nutzen. Setzt eine bessere Nutzung eines Grundstücks
Aufwendungen und Investitionen voraus, können diese bei der Wertbestimmung
nicht einfach übergangen werden (E. 11.4). In tatsächlicher Hinsicht wurde die
Nutzung der Liegenschaft als Kindergarten und Sozialwohnraum am Schätzungstag
durch den Fluglärm nicht beeinträchtigt, weshalb kein schwerer Schaden im Sinne
der Rechtsprechung vorliegt (E. 11.5).

Sachverhalt ab Seite 177

BGE 134 II 176 S. 177
Für den Sachverhalt kann auf BGE 134 II 49 verwiesen werden. Vorliegend hatte
die Eidgenössische Schätzungskommission über die Entschädigung für eine
Liegenschaft zu entscheiden, welche von der Politischen Gemeinde
Opfikon-Glattbrugg im Erdgeschoss als Kindergarten genutzt wird und im
Obergeschoss drei Sozialwohnungen umfasst.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

11. Die Schätzungskommission hat vorliegend zunächst anhand einer
Ertragswertberechnung und einer Realwertbemessung einen Verkehrswert geschätzt.
Sie hat den Ertragswert dabei auf Fr. 1'160'000.-festgesetzt, für den
Kindergarten aber keinen tatsächlich erzielten, sondern einen ihrer Meinung
nach erzielbaren Mietzins verwendet. Die Realwertberechnung ergab einen Betrag
von Fr. 1'761'439.-, wobei unter anderem auf den Gebäudeversicherungswert
abgestellt und eine mittlere Altersentwertung der Bauten von 41 % sowie ein
Landwert von rund Fr. 320.-/m^2 angenommen wurde. Gestützt auf diese Zahlen
wurde der Verkehrswert schliesslich unter doppelter Gewichtung des Realwertes
auf gerundet Fr. 2'070'000.-festgelegt.
Diese Aufstellung hat die Schätzungskommission anlässlich der Entscheidfindung
nochmals überprüft und erwogen, grundsätzlich sei
BGE 134 II 176 S. 178
eine Korrektur erforderlich, weil fälschlicherweise auch der erst 1966 erbaute
Gebäudeteil einbezogen worden sei. Wie in E. 5.1 (nicht publ.) gesehen,
gelangte die Schätzungskommission in der Folge zum Schluss, es liege kein
fluglärmbedingter Minderwert vor, da die Liegenschaft im Verwaltungsvermögen
auch nach dem Stichtag wie vorgesehen habe genutzt werden können. Sie
verzichtete aufgrund ihrer Beurteilung darum auf eine korrigierte Schätzung,
weil ohnehin kein massgebender Minderwert im Sinne eines schweren Schadens
vorliege.
Die Enteigner stimmen der Argumentation der Schätzungskommission im
Wesentlichen zu. Sie streiten eine bessere Verwendungsmöglichkeit ab und
bezeichnen die von der Beschwerdeführerin angedeuteten Alternativnutzungen als
reine Spekulation. Nachdem die Nutzung des fraglichen Gebäudes seit vielen
Jahren andauere, könne nicht von einer "Zufallsnutzung" gesprochen werden.
Gestützt auf die konkreten Verhältnisse sei ein fluglärmbedingter Minderwert zu
verneinen. Da sich die Liegenschaft im Verwaltungsvermögen befinde und daher
grundsätzlich nicht verkauft werden könne, stelle sich die Frage einer
Veräusserung gar nicht. Die anders lautenden Ausführungen der
Beschwerdeführerin träfen nicht zu. Bei der allfälligen Zusprechung einer
Entschädigung seien die Schallschutzmassnahmen anzurechnen.
Die Beschwerdeführerin macht demgegenüber geltend, es sei unerheblich, ob sich
die Liegenschaft im Verwaltungs- oder Finanzvermögen befinde. Sie habe
grundsätzlich die Möglichkeit, frei darüber zu verfügen. Entscheidend müsse
sein, ob sich die Lärmbelastung im Falle der Veräusserung der Liegenschaft im
freien Handel negativ auf den Verkaufspreis auswirken würde. Gleichzeitig
verlangt sie eine Neuschätzung durch die Eidgenössische
Oberschätzungskommission.

11.1 Nicht stattzugeben ist dem Begehren der Beschwerdeführerin um eine
Neuschätzung durch die Oberschätzungskommission. Letztere ist kein Gremium, das
als solches Schätzungen anstellen würde. Sie besteht vielmehr aus einer Reihe
von Fachleuten aus verschiedenen Berufen, die vom Bundesgericht nach Bedarf zur
fachtechnischen Beratung beigezogen werden können (vgl. Art. 80 und 82 EntG [SR
711]; BGE 128 II 74 E. 3 S. 77). Vor Bundesgericht fällt aber die Wiederholung
von Schätzungsverfahren in einer Vielzahl von Fällen ausser Betracht.

11.2 Ob die Liegenschaft zum Verwaltungs- oder Finanzvermögen gehört, ist nicht
ausschlaggebend bei der grundsätzlichen
BGE 134 II 176 S. 179
Beurtei lung, ob überhaupt ein Schaden vorliegen kann. Dieser Umstand sagt
nichts über eine allfällige wertmässige Einbusse der Liegenschaft aufgrund des
Fluglärms aus. Soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, unterliegen
auch Rechte an Grundstücken, die einem öffentlichen Zwecke dienen, der
Enteignung (Art. 7 Abs. 1 EntG). Für solche Grundstücke gelten die allgemeinen
Entschädigungsgrundsätze des Enteignungsgesetzes. Daraus, dass ein Gemeinwesen
etwa eine öffentliche Anlage als solche beibehalten und auf eine einträglichere
Verwendung verzichtet hat, kann der Enteigner nichts zu seinen Gunsten ableiten
(HEINZ HESS/HEINRICH WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, Bd. I, N. 125 zu
Art. 19 EntG; BGE 104 Ib 348 E. 2a und b S. 352 f.; 116 Ib 241 E. 3a S. 245).

11.3 Entspricht der lärmbedingte Schaden wie dargelegt der Differenz, die sich
bei Gegenüberstellung des Verkehrswertes einer Liegenschaft vor und nach der
Immissionsbelastung ergibt, so kann auch in Fällen wie dem vorliegenden
grundsätzlich nicht von Verkehrswertermittlungen abgesehen werden. Diese
richtet sich für vermietete Mehrfamilienhäuser in der Regel nach den für die
Bewertung von Ertragsliegenschaften geltenden Grundsätzen.
Im vorliegenden Fall gilt es jedoch, einer weiteren Besonderheit Rechnung zu
tragen: Die Wohnräume im Obergeschoss der beiden Gebäudeteile dienen der
Beschwerdeführerin seit Jahren als Sozialwohnungen und werden deshalb zu einem
tiefen Zins vermietet. Dass die Kindergartennutzung nicht auf Gewinn
ausgerichtet ist, versteht sich. Auf diese Nutzung hat der Fluglärm keine
direkten Auswirkungen. Die Beschwerdeführerin macht denn auch keinen konkreten
Schaden aufgrund reduzierter Mietzinsen geltend. Sie vertritt aber die
Auffassung, sie könne die Liegenschaft jederzeit ins Finanzvermögen überführen
und besser verwenden. Aus ihrer Sicht hätte der Fluglärm in diesem Fall
wertmindernden Einfluss auf das Grundstück.

11.4 Wird die Möglichkeit besserer Nutzung des Grundstücks geltend gemacht, so
muss auch diese in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht am Stichtag bereits
bestanden haben oder hätte, ohne die Enteignung, in nächster Zukunft eintreten
müssen; bloss theoretische Möglichkeiten oder vage Aussichten auf eine künftige
günstigere Verwendung genügen nicht (vgl. BGE 112 Ib 531 E. 3 S. 533, E. 4 S.
536; BGE 113 Ib 39 E. 3 S. 43; BGE 129 II 470 E. 5 S. 474, E. 6.1 S. 477 f.,
mit Hinweisen)
BGE 134 II 176 S. 180
.
Am 1. Januar 1997 befand sich das fragliche Grundstück gemäss dem Zonenplan der
Stadt Opfikon vom 24. September 1995/24. April 1996 und der Bau- und
Zonenordnung (BZO) vom 24. September 1995 in der dreigeschossigen Wohnzone W3
mit einer Ausnützungsziffer von 65 %. Möglich sind in dieser Zone 3
Vollgeschosse. In allen Wohnzonen ist nicht störendes Gewerbe zulässig, wobei
der gewerblich genutzte Anteil höchstens 20 % der Gesamtnutzfläche betragen
darf (Art. 14 lit. a der damaligen BZO). Die Beschwerdeführerin nutzt die
Liegenschaft seit deren Erbauung im Erdgeschoss als Kindergarten (zwei
Klassenzimmer, ein Materialraum, eine Garderobe und die Toiletten für Knaben,
Mädchen und Lehrpersonen). Im Obergeschoss befinden sich eine 2-Zimmer-Wohnung,
die am Stichtag für monatlich Fr. 545.- vermietet war, eine 4 1/
2-Zimmer-Wohnung zu Fr. 1'022.-/Monat und eine 5 1/2-Zimmer-Wohnung mit einem
monatlichen Mietzins von Fr. 1'422.-(die Mietzinse verstehen sich jeweils ohne
Nebenkosten). Bei einer Grundstücksfläche von 2'137 m^2 und einer
Ausnützungsziffer von 65 % ist die Liegenschaft stark unternutzt im Vergleich
zu den Möglichkeiten, welche sich aufgrund der Zonenordnung böten.
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass das Grundstück im
Schätzungszeitpunkt nicht optimal genutzt wurde. Wenn sie nun geltend macht,
sie könne die Liegenschaft ohne weiteres ins Finanzvermögen überführen und
gewinnbringender bewirtschaften, so ist ihr zwar darin zuzustimmen, dass einer
Umwidmung vom Verwaltungs- ins Finanzvermögen keine grundsätzlichen rechtlichen
Hindernisse entgegenstünden. Indes geben die Enteigner zu Recht zu bedenken,
dass am Stichtag keineswegs von einer Zufallsnutzung die Rede sein konnte,
sondern dass es sich um eine langjährige entsprechende Bewirtschaftung
handelte. Es hätten sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht
mehrere Schritte unternommen und zahlreiche Aufwendungen getätigt werden
müssen, um das Grundstück besser zu nutzen. Diese Vorkehren hätten, auch ohne
die Teilenteignung, offensichtlich nicht in nächster Zukunft abgeschlossen
werden können: Einerseits würde eine wirtschaftlichere Nutzung der
Kindergartenräume zumindest einen Umbau bedingen, da eine alternative,
gewinnbringendere Nutzung der Klassenzimmer im jetzigen Zustand kaum denkbar
ist und von der Beschwerdeführerin auch nicht dargelegt wird. Daran ändert
nichts, dass die Beschränkung des Gewerbeanteils inzwischen aufgehoben wurde
(vgl. Art. 16 lit. b der BZO vom 7. Juli 2003, resp. 5. Dezember 2005 und 6.
März 2006). Auch
BGE 134 II 176 S. 181
wenn das Gebäude zu reinen Gewerbezwecken genutzt würde, wären erhebliche
bauliche Massnahmen von Nöten. Eine gewinnbringendere Vermietung des
Obergeschosses bedürfte aufgrund der bisherigen Nutzung als Sozialwohnraum und
des doch schon fortgeschrittenen Alters der Gebäude sicherlich zusätzlicher
Investitionen. Am ehesten dürfte sich ein Abbruch anbieten. Darauf deutet der
Umstand hin, dass die Schallschutzmassnahmen im Obergeschoss wegen eines
möglichen baldigen Abbruches zurückgestellt wurden. Diese Kosten sind jedoch
ebenfalls zu berücksichtigen. Sodann müsste die Beschwerdeführerin entweder
selber als Bauherrin tätig werden oder das Bauland veräussern. Schliesslich
wäre allfälligen Realisationsfristen in Form einer Abzinsung Rechnung zu
tragen.
Setzt eine bessere Nutzung eines Grundstücks Aufwendungen und Investitionen
voraus, können diese bei der Wertbestimmung nicht einfach übergangen werden
(vgl. BGE 128 II 74 E. 5c/bb S. 82, E. 6c S. 85). Wie hoch die nötigen
Investitionen im vorliegenden Fall gewesen wären, kann offenbleiben, da sich
die Möglichkeit einer besseren Verwendung des enteigneten Grundstücks als zu
vage erweist und mit einer solchen am Stichtag nicht gerechnet werden konnte.

11.5 Aufgrund der im vorliegenden Fall nutzungsbedingt besonderen Ausgangslage
kann deshalb von einer exakten Differenzberechnung abgesehen werden. In
tatsächlicher Hinsicht wurde die Nutzung der Liegenschaft als Kindergarten und
Sozialwohnraum am Schätzungstag durch den Fluglärm nicht beeinträchtigt,
weshalb kein schwerer Schaden im Sinne der Rechtsprechung vorliegt.