Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 II 1



Urteilskopf

134 II 1

1. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.X.
gegen Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_536/2007 vom 25. Februar 2008

Regeste

Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG, Art. 16 Abs. 2 und 3 ANAV; Art. 4 und 63 AuG;
Ausweisung eines traditionellen Anschauungen seines heimischen Kulturkreises
und seiner Religion verpflichteten Türken. Voraussetzungen für eine Ausweisung
gestützt auf Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG (E. 2). Tragweite des
Integrationsprinzips. Der Widerruf einer Niederlassungsbewilligung nach neuem
Recht bzw. die Ausweisung nach altem Recht sind nur unter qualifizierten
Voraussetzungen zulässig (E. 4). Unverhältnismässigkeit der Ausweisung eines
der Zwangsverheiratung seiner Tochter verdächtigten Türken, der seit rund 25
Jahren in der Schweiz lebte (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 2

BGE 134 II 1 S. 2
A.X. (geb. 1960) stammt aus der Türkei. Er lebte vom 4. Mai 1980 bis zum 20.
Mai 2006 ununterbrochen in der Schweiz. Am 20. November 1983 zog er seine
Ehefrau (geb. 1965) nach. Das Ehepaar hat drei hier geborene Töchter. Alle
Familienmitglieder verfügen über die Niederlassungsbewilligung. Am 20. Juli
2005 heiratete die Tochter B.X. in der Türkei einen Landsmann, der am 8. April
2006 zu ihr in die Schweiz zog. In der Folge kam es zu einer
Auseinandersetzung, welche die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen am 21.
April 2006 veranlasste, gegen die Eltern X. ein Strafverfahren wegen einer
vermuteten Zwangsverheiratung der Tochter einzuleiten. Die Ermittlungen gingen
davon aus, dass es wegen der Weigerung von B.X., die Ehe zu vollziehen, auch zu
einem Ehrenmord hätte kommen können.
Am 18. Mai 2006 wies das Ausländeramt des Kantons St. Gallen A.X. für die Dauer
von zehn Jahren aus der Schweiz aus, da sein Verhalten zu schweren Klagen
Anlass gegeben habe und er nicht gewillt sei, sich in der Schweiz zu
integrieren. A.X. wurde am 20. Mai 2006 umgehend in die Türkei ausgeschafft.
Seine Rechtsmittel hiergegen blieben ohne Erfolg: Das Gesundheitsdepartement
des Kantons St. Gallen wies seinen Rekurs am 12. Februar 2007 ab; das
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen bestätigte diesen Entscheid auf
Beschwerde hin am 29. August 2007. A.X. habe unabhängig davon, dass sich der
strafrechtliche Vorwurf, seine Tochter zur Ehe gezwungen zu haben, nicht
aufrechterhalten lasse, wiederholt Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die mit
den in der Schweiz geltenden Grundwerten nicht zu vereinbaren und Beweis für
seine fehlende Integration seien.
Das Bundesgericht heisst die hiergegen gerichtete Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut, hebt den angefochtenen Entscheid
auf und stellt fest, dass die Niederlassungsbewilligung von A.X. fortbesteht.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Nach Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG darf ein Ausländer aus der Schweiz
ausgewiesen werden, wenn sein Verhalten im Allgemeinen und seine Handlungen
darauf schliessen lassen, dass er nicht
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gewillt oder nicht fähig ist, sich in die im Gaststaat geltende Ordnung
einzufügen. Dies kann namentlich bei "schweren oder wiederholten Verstössen
gegen gesetzliche Vorschriften oder behördliche Verfügungen", "grober
Verletzung allgemeiner Gebote der Sittlichkeit"; "fortgesetzter böswilliger
oder liederlicher Nichterfüllung der öffentlichrechtlichen oder
privatrechtlichen Verpflichtungen" sowie "sonstiger fortgesetzter
Liederlichkeit oder Arbeitsscheu" der Fall sein (Art. 16 Abs. 2 ANAV [AS 1949 I
228]).

2.2 Jede Ausweisung setzt eine Interessenabwägung voraus; sie muss nach den
gesamten Umständen angemessen, d.h. verhältnismässig sein (Art. 11 Abs. 3 ANAG;
BGE 120 Ib 6 E. 4a S. 12; BGE 114 Ib 1 E. 1b S. 2). Dabei sind namentlich die
Schwere des Verschuldens des Betroffenen, die Dauer seiner Anwesenheit in der
Schweiz sowie die ihm und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen
(Art. 16 Abs. 3 ANAV). Wird durch die Ausweisung - wie hier - die weitere
Pflege familiärer Beziehungen im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK beeinträchtigt,
ist im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK der Art und Dauer
dieser Beziehungen sowie den Nachteilen Rechnung zu tragen, welche dem
Ehepartner bzw. weiteren Angehörigen erwachsen würden, müssten sie dem
Betroffenen ins Ausland folgen (Urteil des EGMR i.S. Boultif gegen Schweiz vom
2. August 2001, Recueil CourEDH 2001-IX S. 137, Ziff. 48).

3.

3.1 Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen ging davon aus, dass der
Beschwerdeführer nicht gewillt oder fähig sei, sich in die hier "geltende
Ordnung" einzufügen. Die Konzeption der Integration bilde - wie sich aus der
neueren Gesetzgebung ergebe - einen grundlegenden Aspekt des Ausländerrechts;
Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG finde deshalb auch auf Fälle Anwendung, in denen es
dem Betroffenen an der Integrationswilligkeit oder -fähigkeit fehle. Die
Toleranz gegenüber anderen kulturellen Praktiken finde ihre Grenze im
familiären Umfeld dort, wo im Innenverhältnis Zwang ausgeübt werde und für die
betroffene Person keine Möglichkeit bestehe, "ihre Gruppe ohne Nachteile" zu
verlassen. In der pluralistischen Gesellschaft müssten als gemeinsame Basis
gewisse Grundwerte - namentlich das staatliche Gewaltmonopol, die
Gleichberechtigung von Mann und Frau, die demokratische Ordnung, die
Unantastbarkeit des Lebens, die Religions- und Meinungsfreiheit sowie die
Selbstbestimmung des Individuums - respektiert werden. Personen, die nicht
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fähig oder willens seien, das eigene Verhaltensmuster und ihre Sitten und
Gebräuche an diese Grundwerte anzupassen, könnten nicht als integriert gelten
und fügten sich nicht in die in der Schweiz geltende Ordnung im Sinne von Art.
10 Abs. 1 lit. b ANAG ein.

3.2 Die Familie X. habe unter der Führung des Beschwerdeführers 1995
angefangen, nach "muslimischen Regeln" zu leben; der Grundsatz, dass der
Ehemann das Haupt der Familie darstelle, gelte für sie ungebrochen. Der
Beschwerdeführer habe sich aus religiösen Gründen der Teilnahme seiner Töchter
an obligatorischen Schullagern widersetzt, wofür er zwei Mal gebüsst worden
sei. Aus verschiedenen Aussagen und Aktenstücken ergebe sich, dass er seit
seinem Entschluss, streng nach den islamischen Glaubensregeln zu leben,
unabhängig von der Zwangsverheiratung erheblichen Druck auf B.X., seine beiden
anderen Töchter sowie seine Ehefrau ausgeübt habe; seine strikte Haltung und
seine Verschlossenheit gegenüber der andersartigen Lebensweise in einem
westeuropäischen Land hätten zu schwerwiegenden Konflikten und zu
familieninternen Freiheitsbeschränkungen geführt, die in einer freiheitlichen
Rechtsordnung nicht hingenommen werden könnten. Auch wenn traditionellen
Vorstellungen der Familie nicht generell die Berücksichtigung versagt werden
dürfe, lägen die Grenzen jedenfalls dort, wo Familienmitglieder einem
Spannungsverhältnis ausgesetzt würden, "dem sie nicht gewachsen" seien; die
elterlichen Erwartungen, Rechts- und Moralvorstellungen einerseits und die
eigenen Wünsche und Bedürfnisse andererseits hätten bei B.X. in diesem Sinne zu
einer inneren Zerrissenheit geführt, welche geeignet gewesen sei, ihr
körperliches und seelisches Wohl ernsthaft zu gefährden. Dem Beschwerdeführer
sei es mit Blick auf die Verbundenheit zu seiner heimischen Kultur zumutbar, in
die Türkei zurückzukehren, wo er noch über eine Wohnung verfüge. Seine Ehefrau
habe gestützt auf ihre IV-Rente hier ein wirtschaftliches Auskommen; die
Töchter seien ihrerseits hier geboren und volljährig bzw. bald volljährig,
womit die familiären Kontakte über Telefonate oder Ferienbesuche gepflegt
werden könnten.

4.

4.1 Ziel der Integration ist das Zusammenleben der einheimischen und
ausländischen Wohnbevölkerung auf der Grundlage der Werte der Bundesverfassung
und gegenseitiger Achtung und Toleranz (Art. 4 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer [Ausländergesetz, AuG;
SR 142.20]). Sie soll längerfristig und rechtmässig anwesenden Ausländerinnen
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und Ausländern ermöglichen, am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben
teilzuhaben (Art. 4 Abs. 2 AuG). Der Integrationsprozess setzt sowohl den
entsprechenden Willen der Ausländerinnen und Ausländer als auch die hierfür
erforderliche Offenheit der schweizerischen Bevölkerung voraus (Art. 4 Abs. 3
AuG). Ausländische Personen sollen sich mit den gesellschaftlichen
Verhältnissen und Lebensbedingungen in der Schweiz auseinandersetzen und eine
Landessprache erlernen (Art. 4 Abs. 4 AuG).

4.2 In Art. 10 Abs. 1 lit. b ANAG ist mit der im Gastland geltenden "Ordnung"
in erster Linie die Rechtsordnung gemeint. Ein Ausländer verstösst nicht
bereits gegen diese, wenn er gesellschaftlich nicht integriert erscheint - etwa
vor allem mit Landsleuten verkehrt oder sich in heimischen Kulturkreisen
engagiert. Aus dem Integrationsprinzip lässt sich grundsätzlich keine über die
gesetzlichen Gebote hinausgehende Assimilationspflicht ableiten, die von hier
lebenden Ausländern eine umfassende Anpassung an hiesige Gebräuche und
Lebensweisen verlangen würde (MARTIN PHILIPP Wyss, Ausländische
Staatsangehörige und Integration, in: Uebersax/Münch/Geiser/Arnold,
Ausländerrecht, Basel/Genf/München 2002, N. 23.7; BGE 119 Ia 178 E. 8d S. 196).
Zwar kann der Grad der gesellschaftlichen Integration bei der (fakultativen)
Erteilung einer Niederlassungsbewilligung eine Rolle spielen (vgl. Art. 54
AuG); in gewissen Fällen setzt der Anspruch auf eine Anwesenheitsbewilligung
eine "erfolgreiche" Integration voraus (Art. 50 AuG; Anwesenheitsrecht gestützt
auf die Garantie der Achtung des Privatlebens: BGE 130 II 281 E. 3.2.1).
Hingegen kann der Weiterbestand einer einmal erteilten
Niederlassungsbewilligung nicht allein vom Kriterium der Integration im Sinne
einer Assimilation abhängen. Widerruf (Art. 63 AuG) und Ausweisung (Art. 10
ANAG) sind nur unter den gesetzlich vorgesehenen qualifizierten Voraussetzungen
zulässig. Mangelnde Sprachkenntnisse oder abweichende Wertvorstellungen stellen
die Gültigkeit einer Niederlassungsbewilligung noch nicht in Frage. Eine
"integrationsunwillige" Gesinnung allein ist kein ausreichender
Ausweisungsgrund nach Art. 10 ANAG; der verpönte "Unwille" muss in der Regel in
einem gesetzwidrigen Verhalten zum Ausdruck gekommen sein (vgl. BGE 96 I 266 E.
4 und 5; WYSS, a.a.O., N. 23.5).

4.3 Eine Verletzung der im Gastland geltenden Ordnung kann auch in einer groben
Missachtung von Regeln der Sittlichkeit oder zentraler gesellschaftlicher Werte
liegen (Art. 16 Abs. 2 ANAV; ANDREAS ZÜND, Beendigung der Anwesenheit,
Entfernung und Fernhaltung,
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in: Uebersax/Münch/Geiser/Arnold, a.a.O., N. 6.29), wobei Zwangsheiraten
hierunter fallen können: Eine solche liegt vor, wenn die Ehe ohne den freien
Willen eines oder beider Ehegatten geschlossen wird. Der auf die zwangsweise
verheiratete Person ausgeübte Druck kann sich dabei auf vielfältige Weise
äussern - etwa in Form von Drohungen, emotionaler Erpressung und anderen
erniedrigenden oder kontrollierenden Handlungen. In Extremfällen werden
Zwangsheiraten auch von köperlicher, sexueller und psychischer Gewalt,
Entführung, Freiheitsberaubung und Todesdrohungen begleitet; eine bloss
arrangierte Ehe liegt vor, wenn die Ehe zwar von Dritten initiiert, aber mit
dem freien Willen beider Ehegatten geschlossen wird. Die Grenzen sind im
Einzelfall teilweise fliessend. Im Unterschied zu den arrangierten Ehen
verletzt die Zwangsheirat das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Personen
massiv und in schwerwiegender Weise (vgl. den Bericht des Bundesrats vom 14.
November 2007 in Erfüllung des Postulats 05.3477 der Staatspolitischen
Kommission des Nationalrats vom 9. September 2005, S. 9; Eidgenössische
Ausländerkommission, Zwangsverheiratung und arrangierte Ehen, Eine
Positionierung der EKA; ANGELA BRYNER, Die Frau im Asyl- und Ausländerrecht,
in: Uebersax/Münch/Geiser/Arnold, a.a.O., N. 24.3). Wurde der betroffene
Ausländer deswegen strafrechtlich verurteilt (Nötigung, Drohung,
Freiheitsberaubung usw.), ist der Tatbestand von Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG
erfüllt; erreicht die Druckausübung diese Grenze (noch) nicht, kann eine
Verletzung der im Gaststaat geltenden "Ordnung" im Sinne von Art. 10 Abs. 1
lit. b ANAG dann vorliegen, wenn das Verhalten mit den hiesigen
gesellschaftlichen Werten und Geboten in einem klaren Widerspruch steht; doch
muss die Ausweisung mit Blick auf das künftige Verhalten des Betroffenen und
auf die gesamten Umstände auf jeden Fall im überwiegenden öffentlichen
Interesse erforderlich und verhältnismässig sein.

5.

5.1 Dies war hier nicht der Fall: Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen
hatte am 19. Juni 2007 einen Zwischenbericht über ihre Abklärungen erstellt,
welcher dem Verwaltungsgericht vorlag; darin hielt sie unter anderem fest: "Der
Vorwurf, dass die Eltern von B.X. diese zur Verlobung und zur Ehe mit Z.
gezwungen hätten, lässt sich nicht aufrechterhalten". Zwar dürfte - so die
Staatsanwaltschaft weiter - ein gewisser gesellschaftlicher Druck bezüglich der
Heirat bestanden und eine Rolle gespielt haben; es frage sich aber, ob objektiv
tatsächlich von einer strafrechtlich relevanten Intensität
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ausgegangen werden könne. Das Strafverfahren wurde diesbezüglich am 26.
September 2007 eingestellt und die Kosten auf die Staatskasse genommen; es
stehe zwar fest, "dass A.X. seine Tochter sehr streng erzog und sie sich seinem
Willen in der Jugend oft unterordnen musste"; in Bezug auf die Verlobung und
die Eheschliessung könne allerdings eine strafrechtliche Nötigung nicht
nachgewiesen werden; insbesondere habe B.X. ihre ursprüngliche Behauptung, sie
habe weder von der bevorstehenden Verlobung noch von der Hochzeit gewusst,
nicht aufrechterhalten und sogar eingeräumt, sie habe sich dagegen "äusserlich
nicht gewehrt"; hinsichtlich des Einbruchsversuchs in ein Nachbarhaus am Ort,
an dem sich B.X. bei ihrer Freundin aufgehalten hatte, müsse trotz "sehr
aufwändiger Abklärungen" davon ausgegangen werden, "dass es sich um einen
zufälligen Vorfall" gehandelt habe, "der einer unbekannten Täterschaft
ausserhalb des Bekanntenkreises der Angeschuldigten zuzuordnen" sei.

5.2 Diese Feststellungen werden durch die vorliegenden Akten erhärtet, ohne
dass Anhaltspunkte dafür bestünden, dass auf B.X. nach der Anhaltung ihres
Vaters bzw. ihres Gatten und deren Ausschaffung in irgendeiner Weise Druck
ausgeübt worden wäre: B.X. hat zugestanden, dass sie zur Hochzeit nicht - wie
anfangs ausgesagt - unter einem Vorwand in ihre Heimat gelockt worden sei; auch
habe sie von der Verlobung gewusst. Sie habe ihren Eltern nie direkt gesagt,
dass sie nicht heiraten wolle; als sie ihrer Mutter mitgeteilt habe, sie wolle
vorerst nur verlobt sein, habe sich ihr Vater das erste Mal auf ihre Seite
gestellt und der Mutter gesagt, "wenn ich noch nicht standesamtlich heiraten
wolle, dann müsse ich das nicht tun". Soweit sie geltend gemacht hatte,
ihrerseits keinen Kontakt mit ihrem Verlobten gesucht und ihn nie geliebt zu
haben, bestehen E-Mails, die zumindest für die Zeit zwischen Ende März und Ende
Mai 2005 dem widersprechen ("Dankeschön mein Einziger. Ich vermisse Dich sehr.
Ich liebe Dich. Wie geht es bei der Arbeit- Mein Dickerchen, hast Du den Ring
abgezogen- Zieh ihn nicht ab" usw.); unbestrittenermassen verbrachte sie zudem
im März 2004 einige Tage mit Z. in Istanbul, wobei sie gemeinsam in einem
Hotelzimmer übernachteten, ohne dass seine oder ihre Eltern hiervon etwas
gewusst hätten. Zwar reiste sie im Sommer 2004 nicht wie sonst üblich mit den
Eltern wieder in die Türkei, sondern mit ihrer griechischen Freundin - mit der
sie vom 1. Oktober 2003 bis 30. April 2005 eine Wohnung teilte und mit der sie
heute offenbar wieder zusammenlebt - nach Griechenland, doch besteht vom 6.
April 2006, d.h. kurz vor der Einreise ihres Gatten, ein SMS, worin sie bei ihm
bestimmte Luxusartikel und Rauchwaren bestellt hatte, die er in die Schweiz
mitbringen sollte ("Parfum:hugo boss woman, lacoste. Tshirt: m blaue farbe, xs
soll rosa sein. bring doch auch bitte marlborogh light mit. Küsschen"), was
gegen eine Zwangsheirat spricht und allenfalls eher auf ein gewisses
Arrangement der Ehe hindeutet, dem B.X. zwar zwiespältig gegenüberstand, sich
aber nicht klar widersetzte.
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5.3 Was die Vorinstanz zur Begründung ihres Entscheids weiter anführt, vermag
unter diesen Umständen an der Unverhältnismässigkeit der von ihr geschützten
Ausweisung nichts zu ändern:

5.3.1 Richtig ist, dass der Beschwerdeführer in hohem Masse den traditionellen
Anschauungen seines Kulturkreises sowie seiner Religion verhaftet geblieben ist
und er seine Kinder dementsprechend aufgezogen hat, sie etwa regelmässig die
Koranschule besuchen mussten, und es zwischen ihm und seiner Tochter deswegen
zu erheblichen Spannungen gekommen ist, doch kann nicht gesagt werden, dass er
dabei die physische und psychische Gesundheit seiner Tochter bewusst und über
Dauer in Missachtung hiesiger Werte beeinträchtigt hätte: B.X. konnte sich vom
Elternhaus insofern lösen, als sie während ihrer Ausbildung getrennt von der
Familie mit einer Freundin zusammenlebte; sie kehrte hernach freiwillig zu
ihren Eltern zurück, bevor sie wieder zu ihrer Freundin zog. Soweit sie
aussagte, ihre Eltern hätten während dieser Zeit "Telefonterror" betrieben,
ergibt sich aus den Akten nicht, was damit genau gemeint war; hinsichtlich der
Auslegung dieses Begriffs kann es zwischen einer Jugendlichen und ihren Eltern
durchaus abweichende Auffassungen geben, zumal in einer Situation, in der (auch
generationenbedingt) traditionelle heimatliche Vorstellungen mit gewissen
hiesigen Anschauungen in Konflikt geraten und zu einem Ausgleich gebracht
werden müssen. Zu Unrecht wirft das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer
vor, dass er für das Strafverfahren auf die Hilfe eines Dolmetschers angewiesen
gewesen sei, was seine fehlende Integration belege: Im Hinblick auf die Schwere
der gegen ihn ursprünglich erhobenen Vorwürfe (Freiheitsberaubung usw.) war es
sein gutes Recht, einen Dolmetscher beiziehen zu lassen; der Beschwerdeführer
verfügt zumindest über rudimentäre Deutschkenntnisse, soll er sich doch nach
der Aussage seiner Tochter vom 30. November 2006 bei der Wohnungssuche für sie
und ihren Gatten mit dem Hauswart auf Deutsch unterhalten haben. Es darf damit
davon ausgegangen werden, dass er diese Sprache zumindest minimal beherrscht,
zumal er auch längere Zeit Vizepräsident einer hiesigen Stiftung war.

5.3.2
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Zwar mussten die Gatten X. zweimal gebüsst werden, weil sie ihre Töchter nicht
in das obligatorische Schullager schicken wollten; dies reicht als
Ausweisungsgrund indessen nicht aus: Unbestrittenermassen konnte das Problem
für die jüngste Tochter in der Folge gelöst werden; sie besucht seither
sämtliche Schullager. Ob der Beschwerdeführer dem aus Einsicht und Anerkennung
hiesiger Werte oder aus Angst vor einer weiteren Sanktion zugestimmt hat,
spielt - entgegen den Überlegungen des Verwaltungsgerichts - keine bedeutende
Rolle. Entscheidend ist letztlich, dass er sein Verhalten geändert und es der
hiesigen (Rechts-)Ordnung angepasst hat. Soweit noch eine Strafe im Hinblick
auf den 21. April 2005 zur Diskussion steht, an dem er seine Tochter verfolgt
haben soll, um diese gegen ihren Willen zur Rede zu stellen, ist das
entsprechende Verfahren offenbar noch nicht rechtskräftig abgeschlossen; es
geht dabei aber - auch nach Ansicht der Staatsanwaltschaft des Kantons St.
Gallen - allenfalls um eine untergeordnete Strafe. Der Beschwerdeführer ist
zwar arbeitslos und ausgesteuert; weder seine Familie noch er sind indessen
bisher fürsorgeabhängig geworden. Sie leben von der IV-Rente der Gattin; die
Niederlassungsbewilligung eines Ausländers könnte nach dem Ausländergesetz nach
fünfzehn Jahren ununterbrochenem und ordnungsgemässem Aufenthalt auch nicht
mehr wegen einer erheblichen Fürsorgeabhängigkeit widerrufen werden (vgl. Art.
63 Abs. 2 AuG).

5.3.3 Die Ausweisung auf zehn Jahre ist schliesslich mit Blick auf die
familiäre Situation unangemessen: Der Beschwerdeführer lebte bei seiner
Ausschaffung seit über 25 Jahren in der Schweiz; seine drei Kinder sind hier
zur Welt gekommen. Seine Gattin leidet seit 1997 unter einer zur Invalidität
führenden Erkrankung; sie kann das Haus nur beschränkt ohne Begleitung
verlassen und ist für die Hausarbeiten auf Hilfe angewiesen, die der
Beschwerdeführer ihr bis zu seiner Ausweisung gewährt hat. Bis 1997 hatte die
Gattin in Wechselschicht mit ihrem Mann gearbeitet und die drei Töchter
grossgezogen. Die jüngste geht hier zur Schule bzw. inzwischen ihrer weiteren
Ausbildung nach; die zweite Tochter ist offenbar in Deutschland verheiratet.
B.X. wünscht zwar keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater, widersetzt sich indessen
seiner Wiedereinreise nicht. Zu ihren Falschaussagen befragt, erklärte sie der
Staatsanwaltschaft: "Das kam für mich sehr plötzlich, weil ich mich darauf
nicht eingestellt hatte. Ich war von dieser Situation völlig überfordert und
konnte meine ersten Aussagen nicht mehr zurücknehmen. Als dann die Presse ins
Spiel kam,
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konnte ich erst recht nicht mehr zurück. Jetzt bin ich froh, dass ich endlich
sagen konnte, wie es wirklich war. Ich wollte eigentlich mit meiner ersten
Anzeige nur bewirken, dass meine Eltern merken, dass sie nicht alles mit mir
machen können, und dass sie mich in Ruhe lassen sollen. Mehr wollte ich gar
nicht".