Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 97



Urteilskopf

134 III 97

17. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen X.
Versicherungen (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_373/2007 vom 8. Januar 2008

Regeste

Genugtuung in Form einer Rente (Art. 47 OR). Die Genugtuung kann in Form einer
Rente ausgerichtet werden. Eine Genugtuungsrente muss jedoch in einem
ausgewogenen Verhältnis zu einer Genugtuung stehen, die als Kapital bezahlt
wird (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 97

A. Die damals 19-jährige A. (Beschwerdeführerin) erlitt als Motorradfahrerin am
3. Juni 1990 einen schweren Verkehrsunfall. Der vortrittsbelastete B.
missachtete ihr Vortrittsrecht, worauf es zu einem heftigen Zusammenstoss kam.
Dieser Unfall verursachte bei der Beschwerdeführerin schwere Kopf- und
Hirnverletzungen, die bleibende Schäden hinterliessen.
In der Folge verlangte die Beschwerdeführerin von der X. Versicherung
(Beschwerdegegnerin) - der Haftpflichtversicherung des fehlbaren Automobilisten
- den Ersatz des unfallbedingten Schadens, der ihr nach Durchführung
verschiedener Prozessverfahren von der Beschwerdegegnerin vergütet wurde (vgl.
Urteil 4C.276/2001 vom 26. März 2002, publ. in: Pra 91/2002 Nr. 212 S. 1127).

B.
BGE 134 III 97 S. 98
Umstritten blieben nur noch die Genugtuungsansprüche. Bereits am 26. September
2001 liess die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin eine
Integritätsentschädigung von Fr. 81'600.- zukommen. Zusätzlich zu diesem Betrag
überwies sie der Beschwerdeführerin am 9. Dezember 2003 unter Einbezug des
Zinsenlaufes seit dem Unfallereignis am 3. Juni 1990 eine Genugtuung von Fr.
150'000.-. Nach den Feststellungen des Obergerichts des Kantons Zug setzt sich
die effektiv ausbezahlte Summe von Fr. 231'600.- zusammen aus einer
Genugtuungssumme von Fr. 140'000.- (dieser Betrag umfasst auch die vorab
bezahlte Integritätsentschädigung) und einer Verzinsung von 5 % für 13 Jahre
seit dem Unfallereignis.

C. In der Folge beantragte die Beschwerdeführerin dem Kantonsgericht Zug, die
Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, eine Genugtuung von Fr. 100.- pro Tag
ab dem 3. Juni 1990 zu bezahlen, zahlbar in einer Kapitalsumme für die
Genugtuung vom 3. Juni 1990 bis zum Urteilsdatum zuzüglich 5 % Zins seit
mittlerem Verfall und in einer lebenslänglichen Rente von Fr. 3'000.- pro
Monat, zahlbar je auf den 1. eines Monats, erstmals auf den dem Datum des
Urteils folgenden Monat. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Abweisung der
Klage. Mit Urteil vom 24. Juli 2006 wies das Kantonsgericht Zug die Klage ab.
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin beim Obergericht des Kantons Zug Berufung
mit dem gleichen Rechtsbegehren wie im erstinstanzlichen Verfahren. Mit Urteil
vom 3. Juli 2007 wies das Kantonsgericht Zug die Berufung ab und bestätigte das
Urteil des Kantonsgerichts vom 24. Juli 2006.

D. Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Beschwerdeführerin dem
Bundesgericht im Wesentlichen, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die
Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, eine Genugtuung in gerichtlich zu
bestimmender Höhe von mindestens Fr. 50.- bis maximal Fr. 100.- pro Tag ab dem
3. Juni 1990 zu bezahlen, zahlbar in einer Kapitalsumme für die Genugtuung vom
3. Juni 1990 bis zum Urteilsdatum zuzüglich 5 % Zins seit mittlerem Verfall und
in einer lebenslänglichen Genugtuungsrente in gerichtlich zu bestimmenden
Monatsraten, zahlbar je auf den 1. eines Monats, erstmals auf den dem Datum des
Urteils folgenden Monat; eventualiter sei der Beschwerdeführerin eine
Genugtuung in gerichtlich zu bestimmender Höhe, mindestens aber in der Höhe von
Fr. 310'000.- zuzüglich Zins von 5 % seit dem Unfalltag, abzüglich der bereits
geleisteten Kapitalsumme von Fr. 140'000.- und der bereits geleisteten
Zinszahlung von Fr. 91'000.- zu bezahlen.
BGE 134 III 97 S. 99
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Kantonsgericht hat unter Hinweis auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil
auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

4. Im Hauptantrag verlangt die Beschwerdeführerin, es sei ihr eine
Genugtuungsrente in der Höhe von mindestens Fr. 50.- und maximal Fr. 100.- pro
Tag zuzusprechen. Bereits im kantonalen Verfahren verlangte die
Beschwerdeführerin eine Genugtuungsrente von Fr. 100.- pro Tag, und zwar
zahlbar ab Unfallereignis vom 3. Juni 1990 bis zum Urteilsdatum in Form einer
Kapitalsumme zuzüglich Zins und ab dem Urteilsdatum als Rente von Fr. 3'000.-
pro Monat.

4.1 Das Obergericht führte dazu aus, dass eine Genugtuung nicht nur als
Kapital, sondern auch als Rente ausgerichtet werden könne. Allerdings sei in
der Schweiz die Genugtuungsrente praktisch unbekannt. Zudem müsste die
kapitalisierte Genugtuungsrente ungefähr der in vergleichbaren Fällen
ausgesprochenen Genugtuungssumme entsprechen. Die von der Beschwerdeführerin
geforderte Rente von Fr. 100.- pro Tag ergebe nach der Darstellung der
Beschwerdegegnerin einen kapitalisierten Betrag von ca. Fr. 1,4 Mio. (vom
Unfalltag am 3. Juni 1990 bis zum Datum des Rechtsbegehrens am 2. Juni 2005
eine kapitalisierte Summe von Fr. 547'500.- und von da an - massgebliches Alter
der Beschwerdeführerin in diesem Zeitpunkt 34 Jahre - lebenslänglich monatlich
Fr. 3'000.-, was kapitalisiert Fr. 868'680.-, insgesamt also Fr. 1'416'180.-
ergebe). Da im vorliegenden Fall eine Genugtuungssumme von Fr. 140'000.-
angemessen sei und eine Genugtuung in Rentenform wertmässig ungefähr der
Genugtuung in Kapitalform entsprechen müsse, könne dahingestellt bleiben, ob
die Voraussetzungen für eine Genugtuungsleistung in Rentenform erfüllt wären,
weil die Beschwerdegegnerin die angemessene Genugtuungssumme bereits bezahlt
habe. Dagegen wendet die Beschwerdeführerin im Wesentlichen ein, dass nur eine
lebenslange Genugtuungsrente der lebenslänglichen Leidensdauer der
Beschwerdeführerin gerecht werde.

4.2 Nach dem Wortlaut von Art. 47 OR kann der Richter dem Geschädigten eine
angemessene "Geldsumme" als Genugtuung zusprechen. Während der deutsche
Gesetzeswortlaut darauf schliessen lassen könnte, dass eine Genugtuung zwingend
als Kapital abgegoltenwird, verwenden der französische und italienische
Gesetzestext denBegriff "Entschädigung" ("indemnité", "indennità"), die gemäss
Art. 43OR nicht nur als Kapital, sondern auch als Rente ausgerichtet werden
kann. Die Lehre geht denn auch überwiegend davon aus, dass nicht nur beim
materiellen Schaden (Schadenersatz), sondern auch beim immateriellen Schaden
(Genugtuung) die Rente eine zulässige Abgeltungsform ist (HARDY LANDOLT,
Zürcher Kommentar, Zürich 2007, N. 283 Vorbemerkung zu Art. 47/49 OR; HEINZ
REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003, S. 116, Rz.
507;PIERRE TERCIER, Contribution à l'étude du tort moral et de sa réparation en
droit civil suisse, Freiburg 1971, S. 222; MATTHIAS LEEMANN,Die Rente als Art
des Schadenersatzes im Haftpflichtrecht, Diss. Zürich 2002, S. 62 ff.; VOLKER
PRIBNOW, Einzelfragen zur Anwendung der Barwerttafeln von Stauffer/Schätzle,
Collezione Assista, Genf 1998, S. 511; aus praktischer Sicht kritisch FRANZ
WERRO, Commentaire romand, Code des obligations I, Genf 2003, N. 19 zu Art. 47
OR;ROLAND BREHM, Berner Kommentar, 3. Aufl., Bern 2006, N. 8 und 8a zu Art. 47
OR; ablehnend Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner
Teil, Bd. I, Zürich 1995, S. 463, Rz. 103). Auf jeden Fall muss eine
Genugtuungsrente jedoch in einem ausgewogenen Verhältnis zu den
Genugtuungsbeträgen in Kapitalform stehen, die in vergleichbaren Fällen
zugesprochen werden. Ob die Genugtuung in Form eines Kapitals oder einer Rente
ausgerichtet wird, ist nur eine Frage der Abgeltungsform, hat aber keinen
Einfluss auf die Genugtuungsbemessung(LEEMANN, a.a.O., S. 65; sinngemäss auch
BREHM, a.a.O., N. 8a zu Art. 47 OR).
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4.3 Im vorliegenden Fall erweist sich eine Genugtuungssumme von Fr. 140'000.-
wie ausführlich erläutert als angemessen. Die von der Beschwerdeführerin im
kantonalen Verfahren geforderte Genugtuungsrente von 100.- pro Tag ergäbe nach
der Darstellung im angefochtenen Urteil einen kapitalisierten Betrag von ca.
Fr. 1,4 Mio. (vgl. E. 4.1). Wenn im vorliegenden Fall eine Genugtuungsrente
überhaupt in Frage käme, wäre sie auf jeden Fall auf der Basis eines
Genugtuungskapitals von Fr. 140'000.- zu berechnen. Die Beschwerdeführerin
macht jedoch auch im Verfahren vor Bundesgericht eine Genugtuungsrente von
mindestens Fr. 50.- und maximal Fr. 100.- pro Tag geltend, die kapitalisiert
den Betrag von Fr. 140'000.- bei weitem übersteigt. Daraus erhellt, dass es der
Beschwerdeführerin mit ihrem
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Antrag auf Zusprechung einer Genugtuungsrente in erster Linie darum geht,
insgesamt eine höhere als die angemessene Genugtuungssumme von Fr. 140'000.- zu
erwirken. Damit scheint die Beschwerdeführerin aber zu übersehen, dass die
Frage, ob die Genugtuung in Form eines Kapitals oder einer Rente ausgerichtet
wird, keinen Einfluss auf die Genugtuungsbemessung haben darf, sondern nur die
Abgeltungsform betrifft. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist das
jugendliche Alter der Geschädigten im Unfallzeitpunkt - und damit die längere
Leidensdauer - nicht ausschlaggebend für die Frage, ob ein Genugtuungskapital
oder eine Genugtuungsrente zugesprochen wird. Vielmehr ist das Alter des
Verletzten bzw. die Leidensdauer eines von mehreren Kriterien (Dauer der
Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen), das bei der
Genugtuungsbemessung in Betracht fällt und von der Vorinstanz auch
berücksichtigt worden ist. Demgegenüber hat das Alter des Geschädigten auf die
Abgeltungsform (Kapital oder Rente) keinen Einfluss.

4.4 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist auch der Umstand, dass
das Militärversicherungsgesetz eine Integritätsschadenrente vorsieht (Art. 48
ff. MVG [SR 833.1]), für den hier zu beurteilenden Fall nicht ausschlaggebend.
Eine im Sozialversicherungsrecht vorgesehene Spezialregelung für den Bereich
der Militärversicherung ist nicht entscheidend für die Frage, wie eine dem
Privatrecht unterstehende Genugtuung zu bemessen und abzugelten ist, zumal
nicht einmal in allen Sozialversicherungsbereichen gleiche
Berechnungsgrundlagen und Leistungsansätze gelten. Die kapitalisierten
Leistungen in der Militärversicherung liegen in der Regel deutlich über dem,
was der Versicherte bei gleichartiger Schädigung seitens der Unfallversicherer
erhält. Dies wird allgemein damit begründet, dass der Versicherte im Rahmen der
Wehrpflicht besonderen Risiken ausgesetzt ist, die im Versicherungsfall eine
grosszügige Entschädigung rechtfertigen (Jürg Maeschi, Kommentar zum
Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000,
N. 8 Vorbemerkungen zu Art. 48-50 MVG, mit Hinweisen). Eine generelle Anwendung
dieser Sonderregeln ist nicht angebracht.

4.5 Aus diesen Gründen erweist sich der Antrag der Beschwerdeführerin, es sei
ihr eine Genugtuungsrente von mindestens Fr. 50.- bzw. maximal Fr. 100.- pro
Tag zuzusprechen, als unbegründet. Eine Rente berechnet auf einem
Genugtuungskapital von Fr. 140'000.- verlangt die Beschwerdeführerin nicht.