Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 636



Urteilskopf

134 III 636

98. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S.
X.-Versicherung gegen Eidgenössische Invalidenversicherung (Beschwerde in
Zivilsachen)
4A_246/2008 vom 23. September 2008

Regeste

Art. 48^quater Abs. 3 Satz 2 aAHVG; Art. 73 Abs. 3 Satz 2 ATSG; Quotenvorrecht/
Befriedigungsvorrecht. Der Haftpflichtige kann sich gegenüber dem
Sozialversicherungsträger, der seinen Regressanspruch geltend macht, nicht auf
das Befriedigungsvorrecht des Geschädigten berufen, wenn er dessen
Direktanspruch die Verjährungseinrede entgegenhält (E. 1).

Sachverhalt ab Seite 636

BGE 134 III 636 S. 636

A.

A.a Die 1990 in Solothurn geborene A. leidet als Folge von Komplikationen bei
ihrer Geburt an schweren zerebralen Schädigungen sowie an einer schweren
tetraspastischen Bewegungsstörung.

A.b Am 16. Oktober 1998 erhoben die Eltern von A. beim Amtsgericht von
Solothurn-Lebern eine Teilklage auf Leistung einer
BGE 134 III 636 S. 637
Genugtuung gegen Dr. med. W., der Mutter und Kind während der Geburt betreut
hatte.
Das Obergericht des Kantons Solothurn bejahte eine für den Gesundheitsschaden
von A. rechtserhebliche Sorgfaltspflichtverletzung des Arztes und sprach der
Mutter mit Urteil vom 12. Dezember 2006 eine Genugtuung von Fr. 50'000.- nebst
Zins zu 5 % seit dem 29. Januar 1990 zu; die Klage des Vaters wies es infolge
eingetretener Verjährung ab. Das Bundesgericht wies eine gegen dieses Urteil
erhobene Berufung am 19. Mai 2003 ab.

B.

B.a Die Eidgenössische Invalidenversicherung (Beschwerdegegnerin), die bereits
seit 1990 Leistungen für A. erbracht hatte, reichte in der Folge beim
Richteramt Solothurn-Lebern Klage gegen Dr. W. ein. Die Beschwerdegegnerin
beantragte, Dr. W. sei zu verpflichten, ihr unter Vorbehalt einer Mehrforderung
Fr. 2'520'852.- zuzüglich Zins zu 5 %, ausmachend Fr. 392'902.- für die Zeit
vom 29. Januar 1990 bis zum 31. Juli 2005 und auf Fr. 2'520'852.- ab dem 1.
August 2005 zu bezahlen.
Dr. W. liess seiner Berufshaftpflichtversicherung, der X.-Versicherung
(Beschwerdeführerin), den Streit verkünden. Die Beschwerdeführerin leistete der
Streitverkündigung Folge.
Am 27. April 2006 schlossen die Beschwerdegegnerin, Dr. W. und die
Beschwerdeführerin eine Prozessvereinbarung ab. Danach sollte die
Beschwerdeführerin anstelle von Dr. W. in den Prozess eintreten und sie
anerkannte im Rahmen der Versicherungssumme von Fr. 3 Mio. sämtliche
Anspruchsvoraussetzungen für die geltend gemachte Regressforderung.
Schliesslich sollte das Prozessthema auf die Frage des Befriedigungsvorrechts
der geschädigten Person beschränkt werden, das die Beschwerdeführerin der
Forderung der Beschwerdegegnerin nach wie vor entgegenhielt.
Mit Verfügung vom 8. Mai 2006 stellte der Amtsgerichtspräsident fest, dass die
Beschwerdeführerin anstelle von Dr. W. als Beklagte in den Prozess eintritt,
und beschränkte das Prozessthema auf die Frage des Deckungs- bzw.
Befriedigungsvorrechts.
Mit Urteil vom 7. Dezember 2006 hiess das Amtsgericht von Solothurn-Lebern die
Klage der Beschwerdegegnerin gut und verpflichtete die Beschwerdeführerin zur
Zahlung von Fr. 2'520'852.- nebst Zins zu 5 % seit dem 1. August 2005 und Fr.
392'902.- Verzugszins für die Zeit vom 29. Januar 1990 bis 31. Juli 2005.
BGE 134 III 636 S. 638

B.b Auf Berufung der Beschwerdeführerin hin verpflichtete das Obergericht des
Kantons Solothurn die Beschwerdeführerin mit Urteil vom 21. April 2008, der
Beschwerdegegnerin den Betrag von Fr. 2'520'852.- nebst Schadenszins von Fr.
43'959.60 zu bezahlen.

C. Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 21. Mai 2008 beantragt die
Beschwerdeführerin dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Solothurn vom 21. April 2008 sei aufzuheben und die Klage sei unter Kosten- und
Entschädigungsfolge in sämtlichen Instanzen zu Lasten der Beschwerdegegnerin
abzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

1. Die Beschwerdeführerin hat in der Vereinbarung vom 27. April 2006 sämtliche
Anspruchsvoraussetzungen für die von der Beschwerdegegnerin geltend gemachte
Regressforderung unwiderruflich anerkannt. Sie hält der Forderung der
Beschwerdegegnerin lediglich das Befriedigungsvorrecht gemäss Art. 48^quater
Abs. 3 Satz 2 AHVG in der am 29. Januar 1990 geltenden Fassung (aAHVG; AS 1978
S. 401) entgegen (siehe nunmehr Art. 73 Abs. 3 Satz 2 ATSG [SR 830.1]) und
wirft der Vorinstanz diesbezüglich eine unzutreffende Rechtsanwendung vor.

1.1 Die Vorinstanz hielt zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin anerkenne,
dass der haftpflichtige Arzt grundsätzlich unbeschränkt hafte, weshalb das
Verteilungsvorrecht (Art. 48^quater Abs. 1 aAHVG) im zu beurteilenden Fall
keine Rolle spiele. Ausgehend von der Feststellung, dass der
haftpflichtrechtlich ausgewiesene Schaden die von der Beschwerdegegnerin
erbrachten Leistungen zwar bei weitem übersteige, jedoch die
Direktschadenersatzforderung der Geschädigten gegenüber dem haftpflichtigen
Arzt verjährt sei und dieser bzw. die Beschwerdeführerin als
Haftpflichtversicherer nichts bezahlt hätten, beurteilte die Vorinstanz die
Frage, ob sich die Beschwerdeführerin in dieser Situation auf das
Befriedigungsvorrecht (Art. 48^quater Abs. 3 aAHVG) der geschädigten Person
berufen könne.
Die Vorinstanz hielt unter anderem dafür, dass das Befriedigungsvorrecht eine
Benachteiligung des Geschädigten verhindern solle und auf dem Gedanken beruhe,
dass der Versicherer seinen Versicherten unter anderem Schutz gegen
Zahlungsunfähigkeit des Haftpflichtigen
BGE 134 III 636 S. 639
zu bieten habe. Dieser Normzweck stehe nicht in Frage, wenn dem Geschädigten
lediglich eine nicht gegen den Willen des Schuldners durchsetzbare, verjährte
Forderung zustehe und der Haftpflichtige die Einrede der Verjährung tatsächlich
erhebe. Die Vorinstanz erwog weiter, dass es beim Befriedigungsvorrecht des
Geschädigten um die Reihenfolge unter mehreren Gläubigern gehe, die
durchsetzbare Ansprüche auf dasselbe Haftungssubstrat erheben können. Die Frage
der Rangfolge stelle sich jedoch gar nicht, wenn der Geschädigte keine
erzwingbare Forderung mehr erheben könne. Insoweit verhalte es sich gleich wie
bei privilegierten Forderungen im Konkursverfahren, die nicht angemeldet oder
abgewiesen werden, womit die darauf entfallende Konkursdividende den
nachfolgenden Gläubigern und nicht dem Schuldner zugute käme. Im Übrigen würde
es zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Privilegierung des insolventen
und ungenügend versicherten Haftpflichtigen führen, wenn sich der
Haftpflichtige und sein Versicherer in der vorliegenden Situation auf das
Befriedigungsvorrecht berufen könnten, da sie diesfalls weder die verjährte
Schadenersatzforderung des Geschädigten noch die Regressforderung der
Sozialversicherung erfüllen müssten, wogegen ein solventer und ausreichend
versicherter Haftpflichtiger die Regressforderung allemal zu begleichen hätte.
Der Zweck des Befriedigungsvorrechts sei darin zu sehen, eine Benachteiligung
des Geschädigten zu verhindern. Da die Geschädigte keinerlei Nachteil erleide,
wenn die Beschwerdegegnerin ihre Regressforderung durchsetze, könne sich die
Beschwerdeführerin nicht auf das Befriedigungsvorrecht berufen.

1.2 Die Beschwerdeführerin bringt hiergegen vor, es sei von einem
Befriedigungsvorrecht (Art. 48^quater Abs. 3 aAHVG) ihrerseits auszugehen, da
die bei ihr abgeschlossene Berufshaftpflichtversicherung lediglich eine
Deckungssumme von Fr. 3 Mio. aufweise, während der Gesamtschaden der
Geschädigten weit darüber liege. Soweit ein Geschädigter seinen Direktanspruch
gegen den Haftpflichtigen nicht geltend mache bzw. aufgrund der erhobenen
Verjährungseinrede nicht mehr geltend machen könne, werde die haftpflichtige
Person begünstigt, da die mit einem Geschädigten konkurrierende
Sozialversicherung von Anfang an nur in die ihr selbst zustehende Quote
subrogieren könne. Aufgrund des klaren Gesetzeswortlauts, so die
Beschwerdeführerin weiter, müsse sich die Sozialversicherung die
Direktansprüche selbst dann abziehen lassen, wenn gar keine solchen gestellt
worden seien.
BGE 134 III 636 S. 640

1.3

1.3.1 Das Quotenvorrecht bedeutet, dass die Versicherung nicht zum Nachteil des
Geschädigten Regress nehmen darf. Ersetzt sie nur einen Teil des Schadens, so
kann der Geschädigte den nicht gedeckten Teil vom Haftpflichtigen einfordern,
und der Versicherung steht ein Regressanspruch nur im Rahmen des danach noch
verbleibenden Haftungsanspruchs zu (BGE 120 II 58 E. 3c S. 62; BGE 117 II 609
E. 11c S. 627, je mit Hinweisen). Das Privileg des Quotenvorrechts soll die
geschädigte Person vor ungedecktem Schaden bewahren, jedoch nicht zu ihrer
Bereicherung führen (BGE 131 III 12 E. 7.1 S. 16).
Das in Art. 48^quater aAHVG vorgesehene Quotenvorrecht des Geschädigten (siehe
nunmehr Art. 73 ATSG) kann als Verteilungsvorrecht (Abs. 1) oder als
Befriedigungs- bzw. Deckungsvorrecht (Abs. 3 Satz 2) zum Tragen kommen (zur
Unterscheidung ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von
Schadenausgleichsystemen, Basel/Frankfurt a.M. 1984, Rz. 942). Während das
Verteilungsvorrecht dann zum Zug kommt, wenn dem Geschädigten aus rechtlichen
Gründen (insbesondere bei blosser Teilhaftung des Haftpflichtigen wegen
Selbstverschuldens) nicht die volle Befriedigung zukommt, findet das
Befriedigungsvorrecht Anwendung, wenn der Haftpflichtige aus tatsächlichen
Gründen (Insolvenz bzw. mangelnde Versicherungsdeckung) nicht in der Lage ist,
beide gegen ihn gerichteten Forderungen zu befriedigen (dazu PETER BECK,
Zusammenwirken von Schadenausgleichsystemen, in: Münch/Geiser [Hrsg.], Schaden
- Haftung - Versicherung, Basel 1999, Rz. 6.138 ff.).
Bereits der Umstand, dass dem Quotenvorrecht nur im Rahmen der
Leistungskoordination Bedeutung zukommt, lässt es als fragwürdig erscheinen,
ein "fiktives Quotenvorrecht" auch für den Fall anzuerkennen, dass der
Geschädigte seinen Schadenersatzanspruch infolge Verjährung gar nicht mehr
durchsetzen kann. Es ist fraglich, ob in einer solchen Konstellation von einer
Konkurrenz des Direktanspruchs des Geschädigten mit dem Subrogationsanspruch
des Versicherers gesprochen werden kann, weshalb sich womöglich auch die Frage
nach der Rangfolge dieser Ansprüche erübrigt. Wie es sich damit in Bezug auf
das Verteilungsvorrecht nach Art. 48^quater Abs. 1 aAHVG (bzw. nunmehr Art. 73
Abs. 1 ATSG) verhält, kann vorliegend offen bleiben, da der haftpflichtige Arzt
unbestritten für den gesamten Schaden aufzukommen hat und ein Quotenvorrecht im
Sinne des Verteilungsvorrechts ausser Betracht steht.
BGE 134 III 636 S. 641

1.3.2 Die Beschwerdeführerin hält dem Regressanspruch der Beschwerdegegnerin
einzig das Befriedigungsvorrecht der Geschädigten (Art. 48^quater Abs. 3 Satz 2
aAHVG) entgegen. Danach sind, falls nur ein Teil des vom Haftpflichtigen
geschuldeten Ersatzes eingebracht werden kann, daraus zuerst die Ansprüche des
Versicherten und seiner Hinterlassenen zu befriedigen.
Die Beschwerdeführerin beruft sich vergeblich auf das Befriedigungsvorrecht.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin wird die Subrogation bei
ungenügendem Haftungssubstrat nicht etwa beschränkt; vielmehr tritt der
Sozialversicherer im Umfang der von ihm erbrachten Leistungen vollständig in
die Schadenersatzforderung der geschädigten Person ein. Macht der Geschädigte
bei ungenügendem Vermögen des Haftpflichtigen seine Ersatzansprüche nicht
geltend oder lässt er sie verjähren, so stellt sich die Frage einer Rangordnung
zwischen Sozialversicherer und Geschädigtem hinsichtlich der Vermögenswerte des
Haftpflichtigen gar nicht. Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend vorbringt, ist
eine Rangordnung nur dann nötig, wenn mehrere Gläubiger auf ungenügendes
Haftungssubstrat greifen können. Kann der Geschädigte seinen Anspruch aufgrund
des Eintritts der Verjährung nicht mehr durchsetzen oder macht er seinen
Anspruch aus anderen Gründen nicht geltend, so bleibt für eine Rangordnung für
den Zugriff auf das Haftungssubstrat kein Raum (im Ergebnis ebenso GHISLAINE
FRÉSARD-FELLAY, Le recours subrogatoire de l'assurance-accidents sociale contre
le tiers responsable ou son assureur, Diss. Freiburg 2007, Rz. 1121 ff.;
FRANÇOIS KOLLY, Le droit préférentiel du lésé, en l'absence de prétention
directe de celui-ci - application du droit préférentiel abstrait ou concret?,
in: HAVE 2004 S. 305, die allerdings beide zu diesem Schluss kommen, ohne
zwischen dem Befriedigungsvorrecht und dem - im vorliegenden Verfahren nicht in
Frage stehenden - Quotenvorrecht im Sinne des Verteilungsvorrechts nach Art. 48
^quater Abs. 1 aAHVG bzw. Art. 73 Abs. 1 ATSG zu differenzieren).
Wie die Vorinstanz zutreffend erwog, spricht der Wortlaut von Art. 48^quater
Abs. 3 Satz 2 aAHVG dagegen, dass zum geschuldeten Ersatz, der nur teilweise
"eingebracht" werden kann, auch Ersatzansprüche des Versicherten bzw. seiner
Hinterlassenen gezählt werden, die verjährt sind, zumal der letzte Satzteil der
Bestimmung voraussetzt, dass das verfügbare Haftungssubstrat zur Auszahlung
gelangt und die Ansprüche tatsächlich erfüllt werden. Muss der
BGE 134 III 636 S. 642
Ersatzpflichtige demgegenüber nicht mehr leisten, weil er dem Geschädigten die
Verjährungseinrede entgegenhält, so kann von einem nur teilweise
"eingebrachten" Ersatz nicht die Rede sein und dem Haftpflichtigen ist es
verwehrt, sich auf eine (fiktive) vorgängige Befriedigung des Versicherten zu
berufen. Dass einem Schädiger gegenüber dem Geschädigten Ansprüche in auch nur
annähernd gleicher Höhe zustehen und der Geschädigte daher die verjährten
Schadenersatzansprüche zur Verrechnung bringen kann (Art. 120 Abs. 3 OR), ist
zwar ein denkbarer, aber kein Ausnahmefall, mit dem ernsthaft zu rechnen ist.
Der betreffende Einwand der Beschwerdeführerin verfängt daher nicht.
Das Befriedigungsvorrecht des Geschädigten beruht auf dem Gedanken, dass der
Versicherer seinen Versicherten unter anderem Schutz gegen Zahlungsunfähigkeit
des Haftpflichtigen zu bieten hat (OFTINGER/STARK, Schweizerisches
Haftpflichtrecht, Bd. I: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 1995, § 11 Rz. 201;
FRÉSARD-FELLAY, a.a.O., Rz. 1076; SCHAER, a.a.O., Rz. 794). Kann die
Direktforderung gegenüber dem Haftpflichtigen nicht mehr durchgesetzt werden,
da dieser ihr die Verjährungseinrede entgegenhält, so erübrigt sich ein Schutz
des Geschädigten gegen Insolvenz und es steht der Durchsetzung des
Regressanspruchs des Sozialversicherers nichts entgegen. Die Vorinstanz hat
demnach kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die Klage der Beschwerdegegnerin
gutgeheissen hat.