Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 581



Urteilskopf

134 III 581

91. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. K. gegen B.
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_449/2008 vom 15. September 2008

Regeste

Art. 137 ZGB; Unterhaltsbeiträge; massgebendes Einkommen. Umstände, die es als
nicht willkürlich erscheinen lassen, für den Unterhalt während der kurzen Dauer
des Scheidungsverfahrens eine Integritätsschadenrente teilweise als Einkommen
anzurechnen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 581

BGE 134 III 581 S. 581
K. (Ehemann und Beschwerdeführer) und B. (Ehefrau und Beschwerdegegnerin)
heirateten 2006 und wurden Eltern einer Tochter. Die Ehefrau ist teilzeitlich
(30 %) berufstätig. Der Ehemann erhält eine Invalidenrente sowie eine
Integritätsschadenrente von der Militärversicherung und arbeitet teilzeitlich
(50 %). An der Eheschutzverhandlung vom 18. Januar 2008 einigten sich die
Ehegatten darauf, ihre Ehe scheiden zu lassen. Im Rahmen vorsorglicher
Massnahmen während des Scheidungsverfahrens stellte das Amtsgericht die Tochter
unter die elterliche Obhut der Mutter und regelte das Besuchsrecht des Vaters.
Es verpflichtete den Ehemann, monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 2'000.- für
die Ehefrau und von Fr. 1'050.- (zuzüglich Fr. 200.- als Zulage) für das Kind
zu bezahlen. Der Ehemann legte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ein. Strittig
war unter anderem, ob die Integritätsschadenrente der Militärversicherung zum
Einkommen
BGE 134 III 581 S. 582
des Ehemannes zählt. Das Obergericht des Kantons Solothurn bejahte die
Streitfrage und wies die Nichtigkeitsbeschwerde auch in allen anderen Punkten
ab. Das Bundesgericht weist die Beschwerde des Ehemannes ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3. Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, es habe den
Einkommensbegriff, der Art. 163 ZGB zugrunde liege, willkürlich ausgelegt. Der
Einbezug der Integritätsentschädigung in die Berechnung seines Einkommens sei
willkürlich erfolgt.

3.1 Die Integritätsentschädigung - gleich wie die Genugtuungsleistung -
bezweckt den Ausgleich immaterieller Unbill (vgl. BGE 133 V 224 E. 5.1 S. 230,
für die Unfallversicherung). Nach dem Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über die
Militärversicherung (MVG; SR 833.1) wird gegebenenfalls zusätzlich zur
Invalidenrente (Art. 40 ff.) eine Integritätsschadenrente (Art. 48 ff.)
ausgerichtet (vgl. BGE 121 V 157 E. 3b/cc S. 161). Ein Integritätsschaden gibt
grundsätzlich dann Anspruch auf eine Rente der Militärversicherung, wenn der
Versicherte objektiverweise im Lebensgenuss erheblich eingeschränkt ist. Die
Schwere wird in Würdigung aller Umstände nach billigem Ermessen ermittelt (Art.
49 Abs. 1 MVG). Auf Grund ihres engen Sachzusammenhangs schliesst die
Integritätsschadenrente Genugtuungsleistungen in Geld aus (Art. 59 Abs. 2 MVG;
vgl. BGE 122 V 242 E. 2 und 4a S. 244 f.). Der Unterschied zwischen Genugtuung
und Integritätsentschädigung liegt nicht im Zweckgedanken, sondern in der Art
ihrer Bemessung (vgl. MAESCHI/SCHMIDHAUSER, Die Abgeltung von
Integritätsschäden in der Militärversicherung, SZS 1997 S. 177 ff., 179 f.).
Allerdings ist der Zweck der Integritätsschadenrente im
Sozialversicherungsrecht nicht absolut geschützt. Leistungen mit
Genugtuungscharakter werden im Bereich des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006
über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenversicherung (ELG; SR 831.30) als Einnahmen angerechnet (vgl. Urteil P
41/04 vom 3. Dezember 2004, E. 3, zusammengefasst in: ZVW 2005 S. 126 und 145).
Dasselbe gilt im Bereich des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe
an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5; vgl. BGE 129 II 145
E. 3.5 S. 156 ff.).

3.2 Betreibungsrechtlich sind unter anderem Genugtuungsleistungen für
Körperverletzung wie auch Integritätsentschädigungen nach MVG
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gemäss Art. 92 Abs. 1 Ziff. 9 SchKG unpfändbar (vgl. VONDER MÜHLL, Basler
Kommentar, 1998, N. 34 zu Art. 92 SchKG). Der Schutz wirkt nicht absolut. Denn
zu beachten ist, dass sich der Schuldner einen Eingriff in sein Existenzminimum
gefallen lassen muss, wenn er von Familienmitgliedern für Unterhaltsforderungen
aus dem letzten Jahr vor der Zustellung des Zahlungsbefehls betrieben wird
(vgl. VONDER MÜHLL, a.a.O., N. 38 ff. zu Art. 93 SchKG; zuletzt: BGE 123 III
332; Urteil 5C.77/2001 vom 6. September 2001, E. 2d/cc-dd, publ. in: FamPra.ch
2002 S. 423 f.).

3.3 Güterrechtlich werden Integritätsentschädigungen gleich den
Genugtuungsansprüchen (Art. 198 Ziff. 3 ZGB) zum Eigengut und damit zu
derjenigen Vermögensmasse eines Ehegatten gezählt, die grundsätzlich ausserhalb
der ehelichen Interessengemeinschaft steht und hinsichtlich ihrer Substanz bei
der Auflösung des Güterstandes keinerlei Ansprüchen des anderen Ehegatten
ausgesetzt ist (vgl. HINDERLING/STECK, Das schweizerische Ehescheidungsrecht,
4. Aufl., Zürich 1995, S. 221 in Anm. 25; DESCHENAUX/STEINAUER/BADDELEY, Les
effets du mariage, Bern 2000, S. 454 Anm. 64). Erträge des Eigenguts (Art. 197
Abs. 2 Ziff. 4 ZGB) und damit auch der Genugtuung fallen dann allerdings in die
Errungenschaft, an der beide Ehegatten grundsätzlich gleichermassen beteiligt
sind (Art. 210/215 ZGB; vgl. DESCHENAUX/STEINAUER/BADDELEY, a.a.O., N. 1004 S.
404). Ertrag aus Vermögen und, wo die anderen Mittel fehlen, das Vermögen
selbst ist zur Bestreitung des laufenden Unterhalts einzusetzen. Das Einkommen
ist nur die primäre Bemessungsgrundlage. Wo es nicht ausreicht, muss zur
Bestreitung des Unterhalts auf das Vermögen zurückgegriffen werden (BRÄM,
Zürcher Kommentar, 1998, N. 67 und 104 zu Art. 163 ZGB). Unterhalt belastet
damit zuerst die Errungenschaft, kann aber auch aus Eigengut bezahlt werden
müssen (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, 1999, N. 60 zu Art. 163
ZGB). Das Bundesgericht hat anerkannt, dass nachehelicher Unterhalt bei
fehlendem Einkommen aus dem Vermögen zu bezahlen ist (BGE 129 III 7 E. 3.1.2 S.
9; Urteil 5A_14/2008 vom 28. Mai 2008, E. 5), gegebenenfalls aus dem Eigengut
(vgl. Urteil 5C.171/2003 vom 11. November 2003, E. 1, publ. in: FamPra.ch 2004
S. 378). Dasselbe gilt für die Festsetzung des ehelichen Unterhalts. Zu dessen
Deckung darf das Vermögen subsidiär beigezogen werden (Urteile 5P.173/2002 vom
29. Mai 2002, E. 5a, zusammengefasst in: FamPra.ch 2002 S. 806, und 5P.10/2002
vom 16. Juli 2002, E. 3c, publ. in: FamPra.ch 2002 S. 835), gegebenenfalls auch
das
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Eigengut eines Ehegatten (Urteil 5P.472/2006 vom 15. Januar 2007, E. 3.2 und
3.3, zusammengefasst in: FamPra.ch 2007 S. 396).

3.4 Für die Einkommensbemessung im Unterhaltsrecht sollen Genugtuungsleistungen
ausser Betracht fallen, da sie die Abgeltung seelischen Schmerzes und nicht
materieller Einbusse bezwecken (vgl. HAUSHEER/SPYCHER, Handbuch des
Unterhaltsrechts, Bern 1997, N. 01.48 S. 47). Gleiches wird für
sozialversicherungsrechtliche Integritätsentschädigungen angenommen (vgl.
BASTONS BULLETTI, L'entretien après divorce: méthodes de calcul, montant, durée
et limites, SJ 2007 II S. 77 ff., 82, mit Hinweis auf ein kantonales Urteil).
Gegenteiliges kann das Obergericht aus dem Zürcher Kommentar nicht ableiten.
Eine Integritätsschadenrente ist begrifflich (E. 3.1 soeben) kein Einkommen
"aus irgend einer Art von Tätigkeit" (BRÄM, a.a.O., N. 69 zu Art. 163 ZGB) und
auch kein "Ersatzeinkommen, das anstelle von Arbeitseinkommen ganz,
vorübergehend oder als Ergänzung dazu ausgerichtet wird" (BRÄM, a.a.O., N. 89
zu Art. 163 ZGB). Wenn es schliesslich heisst, "dass im Unterschied zum
früheren Recht die Einkünfte von Ehefrau und Ehemann vollumfänglich zu
berücksichtigen sind" (BRÄM, a.a.O., N. 110 zu Art. 163 ZGB), ist damit
lediglich gemeint, dass anders als im früheren Recht, wo der Ehemann für den
Unterhalt zu sorgen hatte (aArt. 160 Abs. 2 ZGB) und die Ehefrau nur soweit
erforderlich beitragspflichtig war (aArt. 192 und 246 ZGB), nach geltendem
Recht die Einkünfte beider Ehegatten zur Bestimmung des gebührenden Unterhalts
der Familie massgebend sind (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 22 zu Art. 163
ZGB). Damit übereinstimmend hat das Bundesgericht in Anwendung von Art. 125
Abs. 2 Ziff. 5 ZGB ("Einkommen und Vermögen der Ehegatten") festgehalten, es
sei in erster Linie das effektive Einkommen zu berücksichtigen, aber auch das
Erwerbsersatzeinkommen mit einzubeziehen, worunter Leistungen von Sozial- und
Privatversicherungen fallen, welche bei Verwirklichung bestimmter Risiken
(Arbeitslosigkeit, Unfall, Krankheit oder Invalidität) den damit verbundenen
Lohnausfall vorübergehend oder dauernd abdecken sollen. Zu einer ebenfalls
ausgerichteten Invaliditäts-/Integritätsentschädigung musste sich das
Bundesgericht dabei nicht äussern, zumal deren Anrechnung nicht verlangt wurde
(Urteil 5C.278/2002 vom 28. Januar 2003, E. 3.1, zusammengefasst in: FamPra.ch
2003 S. 433).

3.5 Genugtuungsleistungen und Integritätsentschädigungen an einen Ehegatten
betreffen keine höchstpersönlichen Ansprüche. Ihre
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Zweckgebundenheit ist weder im öffentlichen Recht noch güterrechtlich absolut
gewährleistet. Sie beeinflussen die Leistungsfähigkeit und werden in
angespannten wirtschaftlichen Verhältnissen teils direkt - im öffentlichen
Recht - als Einnahmen und teils mittelbar - im Privatrecht - als Vermögen oder
Vermögensertrag angerechnet (E. 3.1- 3.3 soeben). Ob sie zumindest teilweise
auch bei der Festsetzung des ehelichen Unterhalts als Einkommen anzurechnen
sind, muss auf Grund der Umstände des konkreten Einzelfalles beurteilt werden.
Die Entschädigung wird vorliegend in Form einer monatlichen Rente ausbezahlt,
was sie in die Nähe von wiederkehrendem Einkommen rückt. Die
Integritätsschadenrente des Beschwerdeführers beträgt monatlich Fr. 1'006.- und
macht damit 15,4 % seiner gesamten Einkünfte aus. Wird sie nicht zum Einkommen
gezählt, entsteht ein Fehlbetrag, den der Beschwerdeführer die
Beschwerdegegnerin vollumfänglich tragen lässt und der sich auf über Fr.
2'000.- monatlich erhöhte, wenn die Beschwerdegegnerin nicht zusätzlich ein
Erwerbseinkommen erzielte. Wird bei dieser Sachlage berücksichtigt, dass sich
die Beschwerdegegnerin als obhutsberechtigte Mutter eines knapp 2 ½-jährigen
Kindes eine ausserhäusliche Erwerbstätigkeit im Umfang von 30 % zumuten und das
daraus erzielte Einkommen voll anrechnen lassen muss, kann unter
Willkürgesichtspunkten nicht beanstandet werden, dass das Obergericht dem
Beschwerdeführer die ihm zustehende Integritätsschadenrente teilweise als
Einkommen angerechnet hat. Insgesamt erscheint es unter den gegebenen Umständen
nicht als willkürlich, für den Unterhalt während der kurzen Dauer des
Scheidungsverfahrens eine Integritätsschadenrente teilweise als Einkommen
anzurechnen, damit ein Fehlbetrag im Familienunterhalt vorübergehend gedeckt
werden kann (Art. 9 BV; vgl. zum Begriff: BGE 134 I 140 E. 5.4 S. 148). Wie die
Rechtsfrage im Rahmen des nachehelichen Unterhalts (Art. 125 ZGB) und mit
freier Prüfungsbefugnis zu beantworten wäre, ist heute nicht zu entscheiden
(vgl. E. 3.4 soeben).