Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 341



Urteilskopf

134 III 341

58. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Stadt Zürich (Berufung)
5C.42/2007 vom 8. Februar 2008

Regeste

Dienstbarkeit. Eine vor dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
zu Gunsten des Gemeinwesens (Stadt Zürich) begründete, den Betrieb eines
unsittlichen Gewerbes auf dem belasteten Grundstück untersagende
Gemeindeservitut entfaltet ihre Wirkung ungeachtet des Umstandes, dass der
Gegenstand der Dienstbarkeit heute auch im öffentlichen Bau- und Planungsrecht
geregelt ist (E. 2). Letzteres bedeutet namentlich nicht, dass das Gemeinwesen
im Sinne von Art. 736 Abs. 1 ZGB alles Interesse an der Dienstbarkeit verloren
hätte (E. 3). Der Begriff "unsittliches Gewerbe" ist hinreichend bestimmt und
lässt zu, dass ein Erotiksalon darunter subsumiert wird (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 342

BGE 134 III 341 S. 342
A.

A.a X. (vormals Y.) ist seit 1976 Eigentümerin des Grundstücks Kat.-Nr. x,
GBBl. y, mit dem Haus B. in Zürich. Zu Lasten dieser Liegenschaft und zu
Gunsten der Stadt Zürich ist seit dem 24. November 1909 folgende als
"Quartierservitut" bezeichnete Dienstbarkeit im Grundbuch eingetragen:
"Es dürfen keine Fabriken angelegt und keine geräuschvollen, die Luft
verunreinigenden, unsittlichen oder feuersgefährlichen Gewerbe betrieben
werden. Ebenso ist die Anlage von Werkplätzen für Steinhauer, Zimmerleute etc.
und die Ausübung von Droschken- und Fuhrhaltereigeschäften nicht gestattet."

A.b Durch eine Mieterin wird seit dem 8. September 1995 im ersten und seit etwa
Mitte 1999 auch im zweiten Obergeschoss des Hauses B. unter dem Namen "D." ein
Sexsalon betrieben. Das von der Salon-Inhaberin erst nachträglich eingereichte
Gesuch um Erteilung der baurechtlichen Bewilligung der Nutzungsänderung wurde
von der Bausektion der Stadt Zürich am 19. Juli 2000 abgewiesen. Die
anschliessenden verwaltungsrechtlichen Rechtsmittelverfahren führten am 5. Mai
2003 zu einem Urteil der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts
(1P.771/2001 und 1P.773/2001), worin die von Y. (X.) und der Mieterin erhobenen
staatsrechtlichen Beschwerden teilweise gutgeheissen wurden. Mit Entscheid vom
18. Februar 2004 stellte die Bausektion der Stadt Zürich in der Folge fest,
dass das Bordell im ersten Obergeschoss zulässig und nur im zweiten
Obergeschoss aufzuheben sei.

B. Mit Eingabe vom 12. August 2004 reichte die Stadt Zürich beim Bezirksgericht
Zürich gegen X. Klage ein und beantragte, der Beklagten unter Androhung von
Ordnungsbusse oder Bestrafung wegen Ungehorsams gemäss Art. 292 StGB zu
verbieten, in der Liegenschaft B. sexgewerbliche Dienstleistungen anzubieten
oder zu dulden.
Die Beklagte schloss auf Abweisung der Klage und erhob Widerklage mit dem
Rechtsbegehren, es sei festzustellen, dass die zu Gunsten der Klägerin und zu
Lasten ihres Grundstücks im Grundbuch eingetragene Personaldienstbarkeit
"Quartierbestimmungen betr.
BGE 134 III 341 S. 343
Gewerbebeschränkungen z.G. Stadt Zürich" für die Klägerin alles Interesse
verloren habe, und das zuständige Grundbuchamt sei anzuweisen, den
entsprechenden Eintrag zu löschen; allenfalls sei festzustellen, dass das
Verbot, ein unsittliches Gewerbe zu betreiben, ungerechtfertigt sei, und das
Grundbuchamt anzuweisen, die eingetragene Dienstbarkeit entsprechend
abzuändern.
Das Bezirksgericht hiess die Klage am 18. Januar 2006 gut und wies die
Widerklage ab.
In Abweisung einer Berufung der Beklagten bestätigte das Obergericht (II.
Zivilkammer) des Kantons Zürich diesen Entscheid mit Urteil vom 22. Dezember
2006.

C. Mit Eingabe vom 15. Februar 2007 hat die Beklagte eidgenössische Berufung
erhoben und beantragt, die Klage abzuweisen und die Widerklage gutzuheissen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2. Die Beklagte beanstandet sowohl die Gutheissung der Klage als auch die
Abweisung der Widerklage. Aus verschiedenen Gründen zieht sie die
Rechtsbeständigkeit der in Frage stehenden Dienstbarkeit in Zweifel, so dass
die Berufung vorab hinsichtlich der auf deren Löschung bzw. Abänderung
gerichteten Widerklage zu prüfen ist.

2.1 Mit dem Hinweis, Gemeindeservituten seien heute widerrechtlich im Sinne von
Art. 20 OR, hält die Beklagte die strittige Dienstbarkeit für nichtig. Ihre
Auffassung begründet sie im Wesentlichen damit, die Quartierservitut habe dazu
gedient, Anlagen und Gewerbe, von denen übermässige Einwirkungen ausgingen, zu
untersagen. Es sei der Klägerin bei deren Errichtung mithin einerseits um
Immissionsschutz gegangen, doch habe sie andererseits auch nutzungsplanerische
Interessen verfolgt. Vor dem Erlass des kantonalen Gesetzes über die
Raumplanung und das öffentliche Baurecht (Planungs- und Baugesetz vom 7.
September 1975 [PBG/ZH; LS 700.1]) und der entsprechenden kommunalen
Ausführungsgesetzgebung seien auf diese Weise eine Vielfalt von
Gemeindeservituten errichtet worden. Heute fänden sich öffentlichrechtliche
Vorschriften, die wie die strittige Quartierservitut positiv auf eine geordnete
Bodennutzung hinlenken wollten, in diesen Erlassen. So halte Art. 24c Abs. 3
der Bauordnung der Stadt Zürich (BZO) beispielsweise fest, dass in
BGE 134 III 341 S. 344
Quartiererhaltungszonen mit einem Wohnanteil von mindestens 50 % sexgewerbliche
Salons oder vergleichbare Einrichtungen nicht mehr zulässig seien. Derartige
Bestimmungen gehörten zu den Vorschriften über die Grundstücknutzungen und
seien mitsamt den kommunalen Ausführungsbestimmungen zwingendes, nicht
abänderbares Recht. Spätestens seit den 1960er-Jahren seien Fragen der
strittigen Art abschliessend im öffentlichen Recht geregelt und einer
privatrechtlichen Regelung nicht mehr zugänglich. Klar verankert sei dieser
Grundsatz in § 218 Abs. 2 PBG/ZH, wonach Bauvorschriften im Sinne dieses
Gesetzes einer für die Baubehörden verbindlichen privatrechtlichen Regelung nur
zugänglich seien, wo es ausdrücklich vorgesehen sei.

2.2 Im Gegensatz zu anderen Fällen mit ähnlichen Nutzungsfragen (vgl. etwa
5C.81/1999 vom 1. Juli 1999, publ. in: Pra 88/1999 Nr. 189 und ZBGR 82/2001 S.
56 ff.) geht es hier nicht um einen Rechtsstreit unter Privaten. Als
Gemeinwesen verfolgt die Klägerin mit der auf der privatrechtlichen
Dienstbarkeit beruhenden Klage auch nicht private Zwecke. Sie tritt nicht
privatrechtlich, als Eigentümerin eines Nachbargrundstücks auf. Vielmehr geht
es ihr um öffentliche Interessen.
Servituten, die im Dienste des öffentlichen Bau- und Planungsrechts stehen,
sind seit jeher als zulässig betrachtet worden (vgl. BGE 78 II 21 E. 4 S. 26 f.
bezüglich einer zu Gunsten des Kantons Zürich errichteten Dienstbarkeit auf
Unterlassung des Betreibens einer Gastwirtschaft; PETER LIVER, Zürcher
Kommentar, Die Grunddienstbarkeiten, Einleitung N. 100 ff. und N. 114 zu Art.
730 ZGB). Von Bedeutung waren solche Dienstbarkeiten beispielsweise auch immer
wieder im Rahmen von Enteignungen (vgl. Art. 5 und 91 Abs. 1 des Bundesgesetzes
über die Enteignung [EntG; SR 711]; BGE 116 Ib 241 E. 3a S. 245; BGE 99 Ia 364
E. 4b S. 368 f.; LIVER, a.a.O., N. 102 a.E. zu Art. 730 ZGB; HANS MICHAEL
RIEMER, Die beschränkten dinglichen Rechte, 2. Aufl., Bern 2000, § 11 N. 10).
Aufgrund der Entwicklung des öffentlichen Bau- und Planungsrechts in neuerer
Zeit mögen privatrechtliche Dienstbarkeiten als Instrumente auf diesem Gebiet
an Bedeutung verloren haben. Für den vorliegenden Fall ist jedoch immerhin auf
den in § 218 Abs. 2 PBG/ZH nach wie vor ausdrücklich festgehaltenen Vorbehalt
zu Gunsten privatrechtlicher Regelungen wie auch auf die Anwendungsfälle etwa
bei Quartierplänen (§§ 139 und 140 PBG/ZH) sowie bei Grenzbereinigungen (§ 180
PBG/ZH) hinzuweisen. Es kann unter diesen
BGE 134 III 341 S. 345
Umständen nicht gesagt werden, ältere Dienstbarkeiten der in Frage stehenden
Art seien widerrechtlich bzw. seien ohne weiteres unzulässig geworden. Die
Einführungs- und Schlussbestimmungen des kantonalen Planungs- und Baugesetzes
sehen namentlich nicht etwa eine Pflicht des berechtigten Gemeinwesens zur
Ablösung solcher Dienstbarkeiten vor (vgl. die §§ 342 ff. PBG/ZH). Das
Bundesgericht hat zudem schon wiederholt geäussert, dass beispielsweise ein
Gestaltungsplan oder öffentlichrechtliche Bauvorschriften nicht von sich aus
bestehende Dienstbarkeiten ausser Kraft zu setzen vermöchten (vgl. BGE 91 II
339 E. 4a S. 342; 107 II 331 E. 5a S. 341; Urteil 5C.213/2002 vom 7. Februar
2003, E. 3.2, publ. in: ZBGR 85/2004 S. 95 f.). Dass den angeführten
Entscheiden Dienstbarkeiten unter Privaten zugrunde gelegen hatten, ist aus der
hier massgebenden Sicht ohne Belang. Von einer Nichtigkeit der strittigen
Dienstbarkeit aus den von der Beklagten angeführten Gründen kann nach dem
Gesagten keine Rede sein.

3. Die Beklagte bringt sodann vor, die Klägerin habe im Sinne von Art. 736 Abs.
1 ZGB seit Jahrzehnten alles Interesse an der uralten Gemeindeservitut
verloren, so dass ihr ein Anspruch auf deren Löschung zustehe.

3.1 Den geltend gemachten Interessenverlust glaubt sie vorab mit dem
Inkrafttreten des modernen öffentlichen Bau-, Raumplanungs- und Umweltrechts
begründen zu können, das einer Anrufung der Servitut keinen Raum mehr lasse.
Wie das Obergericht hervorhebt und die Beklagte übrigens selbst nicht
verschweigt, sind nach dem geltenden öffentlichen (städtischen) Baurecht (Art.
24c Abs. 3 BZO) in Gebieten, wo ein Wohnanteil von mindestens 50 %
vorgeschrieben ist, sexgewerbliche Salons oder vergleichbare Einrichtungen
nicht zulässig. Nach den von der Beklagten nicht beanstandeten Feststellungen
der Vorinstanz liegt ihr Grundstück in der Quartiererhaltungszone QII mit einem
Wohnanteil von 50 %. Dem Inhalt und dem Umfang der Dienstbarkeit nach ist das
klägerische Interesse an deren Ausübung unter den angeführten Umständen
keineswegs untergegangen: Was öffentlichrechtlich verboten ist, kann aus der
Sicht des Privatrechts nicht inhaltlich überholt sein bzw. unzeitgemäss
geworden sein (vgl. BGE 130 III 554 E. 2 S. 556).
Soweit die Beklagte (in formeller Hinsicht) geltend macht, die privatrechtliche
Dienstbarkeit sei überflüssig, weil das öffentliche Baurecht eine entsprechende
Bestimmung enthalte, verdient ihr Standpunkt keinen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 2
ZGB): Es geht nicht an,
BGE 134 III 341 S. 346
unter Hinweis auf das öffentlichrechtliche Verbot, das heute für den Betrieb
eines Etablissements der in Frage stehenden Art gilt, die rückwirkende
Aufhebung des seit 1909 ununterbrochen bestehenden privatrechtlichen Verbots
gleichen Inhalts zu verlangen, um die (Rechts-)Lücke ausnützen zu können, wie
sie sich nach den Feststellungen im bundesgerichtlichen Urteil vom 5. Mai 2003
ergab, als der Salon im ersten Obergeschoss der beklagtischen Liegenschaft
eingerichtet wurde. Unbehelflich ist das Vorbringen der Beklagten, die
verwaltungsrechtlichen Instanzen hätten rechtskräftig festgestellt, dass die
Nutzung des ersten Obergeschosses als Erotiksalon Bestandesgarantie geniesse:
Da gemäss Art. 24c Abs. 3 BZO im Quartier, wo das beklagtische Grundstück
liegt, sexgewerbliche Salons nicht zulässig sind, steht die Dienstbarkeit nicht
im Widerspruch zum öffentlichen Recht. Dass die genannte Regelung erst nach dem
Einrichten des Sexsalons in der beklagtischen Liegenschaft in Kraft trat und
jener deshalb nicht darunterfiel, kann nicht zur Folge haben, dass - aufgrund
einer Bestandesgarantie - das Betreiben des strittigen Etablissements
schlechthin zulässig wäre und der Zivilrichter von einer entsprechenden
Tatsache auszugehen hätte. Die Nichtanwendung der einschlägigen
öffentlichrechtlichen Nutzungsbeschränkungen auf den umstrittenen Betrieb
bedeutet nicht, dass damit auch privatrechtliche Nutzungsbeschränkungen ausser
Kraft gesetzt worden wären. Vielmehr ist der Rechtszustand massgebend, wie er
ohne die Nutzungsbeschränkung durch die städtische Bauordnung bestand und
weiterhin besteht, wozu auch das strittige Gemeindeservitut und das darin
sinngemäss enthaltene Verbot des Betriebs sexgewerblicher Einrichtungen
gehören. Aus dieser Sicht hat die Klägerin an der Dienstbarkeit nach wie vor
ein Interesse.

3.2 Die Beklagte ist ferner der Ansicht, die Klägerin habe das Interesse an der
Ausübung der Dienstbarkeit ebenfalls deshalb verloren, weil dem von der
Vorinstanz festgehaltenen Sinn und Zweck, den "C.-Platz" als gehobenes
Wohnquartier zu schützen, insofern keine Bedeutung mehr zukomme, als der durch
den Strassenverkehr in der fraglichen Zone verursachte Lärm heute sehr gross
sei und der "C.-Platz" sich zu einem hektischen Verkehrsknotenpunkt und zu
einem lebhaften Gewerbezentrum entwickelt habe. Der Hinweis auf die
eingetretene Änderung des Quartiercharakters ist unbehelflich. Er ändert nichts
daran, dass nach den öffentlichrechtlichen Bestimmungen der Wohnanteil im
fraglichen Gebiet eine sexgewerbliche Nutzung ausschliesst. Von einem Verlust
des Interesses am zivilrechtlichen Verbot kann auch aus dieser Sicht keine Rede
sein.
BGE 134 III 341 S. 347

4.

4.1 Des Weiteren bringt die Beklagte vor, das Verbot ein "unsittliches" Gewerbe
zu betreiben, sei als Inhalt einer Dienstbarkeit nicht zulässig. Einer
Dienstbarkeit mit einem derart vagen Moralbegriff hätte wegen mangelnder
Bestimmtheit von Anfang an die Eintragung in das Grundbuch verweigert werden
müssen. Das im Grundbuch eingetragene Recht und die eingetragene Last müssten
ihrem Inhalt nach für Dritte klar erkennbar sein, was hier nicht zutreffe.

4.2 Soweit die von der Beklagten angesprochene Frage sich überhaupt nach
Bundesrecht beurteilt und damit hier zu prüfen ist (dazu nicht publ. E. 6.2),
ist darauf hinzuweisen, dass beispielsweise das Bezirksgericht Zürich eine
gleichlautende Formulierung als hinreichend bestimmt betrachtet hat (Urteil vom
17. Januar 1936, publ. in: ZBGR 17/1936 S. 265 ff. und SJZ 33/1936-37 Nr. 23 S.
123 f.; offenbar zustimmend LIVER, a.a.O., N. 97 und 193 zu Art. 730 ZGB; a.M.
HEINZ REY, Berner Kommentar, N. 91 zu Art. 730 ZGB). Auch wenn heutzutage wohl
eine andere Umschreibung gewählt würde, ist der in jenem Entscheid vertretenen
Auffassung beizupflichten. Es besteht in der Tat ein genügender
Bestimmtheitsgrad. Ein gewisser Auslegungsspielraum liegt in der Natur von
Dienstbarkeiten der in Frage stehenden Art. So kann angesichts der Vielfalt
heutiger Bewirtungsformen etwa auch der Begriff "Gastwirtschaftsbetrieb" (vgl.
BGE 87 I 311 ff.) oder der Begriff "lärmendes, gesundheitswidriges oder
ekelerregendes Gewerbe" (vgl. BGE 88 II 145 ff.) auslegungsbedürftig sein. Der
in der beklagtischen Liegenschaft eingerichtete Betrieb lässt sich auf jeden
Fall nach wie vor unter den in der strittigen Dienstbarkeit gewählten Begriff
"unsittliches Gewerbe" subsumieren.