Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 326



Urteilskopf

134 III 326

55. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Nichtigkeitsbeschwerde)
5C.287/2006 vom 6. Dezember 2007

Regeste

Art. 10, 46 IPRG; ausländischer Scheidungsprozess. Abgrenzung und
Voraussetzungen der Zuständigkeit schweizerischer Gerichte zur Anordnung von
vorsorglichen Massnahmen und von Eheschutzmassnahmen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 327

BGE 134 III 326 S. 327
Y. und X. heirateten im Jahre 1997. Die Ehefrau (Y.) lebt in der Schweiz und
ist Schweizer Bürgerin. Der Ehemann ist schweizerisch-tschechischer
Doppelbürger.
Am 4. Juli 2005 reichte X. in Prag/Tschechien die Scheidungsklage ein. Y.
gelangte am 18. Oktober 2005 an das Amtsgericht Hochdorf und ersuchte um
Regelung des Getrenntlebens. Mit Entscheid vom 19. Juni 2006 stellte der
Amtsgerichtspräsident II von Hochdorf im Rahmen von Eheschutzmassnahmen fest,
dass die Parteien zum Getrenntleben berechtigt seien; weiter wurde die eheliche
Wohnung der Ehefrau zur Benützung zugewiesen und der Ehemann zur Zahlung von
abgestuften Unterhaltsbeiträgen an die Ehefrau verpflichtet.
Gegen den Entscheid des Amtsgerichtspräsidenten erhob X. Rekurs beim
Obergericht des Kantons Luzern mit der Begründung, der Amtsgerichtspräsident
sei zur Entscheidung nicht zuständig; weiter rügte er die Berechnung seiner
Unterhaltspflicht. Mit Entscheid vom 29. September 2006 verwarf das Obergericht
die Unzuständigkeitseinrede und setzte die Unterhaltsbeiträge geringfügig im
Sinne der Rekursanträge herab.
X. führt mit Eingabe vom 14. November 2006 eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt dem Bundesgericht, den Entscheid des
Obergerichts des Kantons Luzern vom 29. September 2006 aufzuheben.
Y. als Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

3. Das Obergericht ist im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, dass die
schweizerischen Gerichte gemäss Art. 10 IPRG zuständig sind, während des in
Tschechien hängigen Scheidungsverfahrens vorsorgliche Massnahmen anzuordnen.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte und
rügt eine Verletzung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit
(Art. 68 Abs. 1 lit. e OG).
BGE 134 III 326 S. 328

3.1 Die Beschwerdegegnerin hat in der Schweiz - ihrem Wohnsitzstaat -
Eheschutzmassnahmen verlangt, nachdem der Beschwerdeführer im Ausland die
Scheidungsklage eingereicht hatte. Damit liegt ohne weiteres ein
internationales Verhältnis im Sinne von Art. 1 Abs. 1 IPRG vor. Die
Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte und Behörden richtet sich nach dem
IPRG, zumal hierfür zwischen der Schweiz und der Tschechischen Republik kein
dem Bundesgesetz vorgehender Staatsvertrag besteht (Art. 1 Abs. 1 lit. a, Abs.
2 IPRG).

3.2 Es ist zu Recht unbestritten, dass sich die Zuständigkeit schweizerischer
Gerichte zum Erlass von Massnahmen nicht auf Art. 62 Abs. 1 IPRG stützen lässt,
da in der Schweiz kein Scheidungsverfahren hängig ist. Für Massnahmen
betreffend die ehelichen Rechte und Pflichten - worunter die von der
Beschwerdeführerin anbegehrten Eheschutzmassnahmen gemäss Art. 172 ff.
grundsätzlich fallen - sind die Gerichte in der Schweiz als Wohnsitzstaat eines
der Ehegatten zuständig (Art. 46 IPRG). Sobald die Klage eines Ehegatten auf
Scheidung beim zuständigen Gericht rechtshängig gemacht worden ist, können
Eheschutzmassnahmen für die Zeit nach Eintritt der Rechtshängigkeit nicht mehr
getroffen werden, sondern nur noch vorsorgliche Massnahmen während des
Scheidungsverfahrens angeordnet werden (BGE 129 III 60 E. 2 S. 61 mit
Hinweisen). Das Bundesgericht hat entschieden, dass diese für
Binnensachverhalte geltende Regel auch in internationalen Verhältnissen
grundsätzlich massgebend ist (Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991, E. 2c, SJ
1991 S. 463). Vorliegend hat die Beschwerdegegnerin das Gesuch um
Eheschutzmassnahmen in der Schweiz als Wohnsitzstaat zu einem Zeitpunkt (am 18.
Oktober 2005) gestellt, als die Scheidungsklage in Prag (seit dem 4. Juli 2005)
bereits hängig war. Damit sind die schweizerischen Gerichte zur Anordnung von
Eheschutzmassnahmen grundsätzlich nicht mehr zuständig.

3.3 Die Zuständigkeit des schweizerischen Eheschutzrichters ist allerdings
vorbehalten, wenn von vornherein, d.h. bereits bei Einleitung des
Eheschutzverfahrens offensichtlich ist, dass ein im Ausland ergangenes
Scheidungsurteil in der Schweiz nicht anerkannt werden kann (vgl. BGE 86 II 303
E. 3 S. 310; WALTER BÜHLER/KARL SPÜHLER, Berner Kommentar, N. 9 zu Art. 145
ZGB; MICHEL CZITRON, Die vorsorglichen Massnahmen während des
Scheidungsprozesses, Diss. St. Gallen 1995, S. 170; ANDREAS BUCHER, Le couple
en droit international privé, Basel 2004, Rz. 184). Vorliegend sind die
BGE 134 III 326 S. 329
Wohnsitzverhältnisse des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Einleitung der
Scheidungsklage in seinem Heimatstaat umstritten. Diese können für die
Anerkennbarkeit des in Tschechien ergangenen Scheidungsurteils zwar
entscheidend sein (vgl. Art. 65 IPRG sowie Art. 2 des Übereinkommens vom 1.
Juni 1970 über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen [SR
0.211.212.3]), doch erlaubt hier die blosse Strittigkeit der
Wohnsitzverhältnisse nicht, bereits im Rahmen der Einreichung des
Eheschutzbegehrens die offensichtliche Unzuständigkeit des Scheidungsgerichts
in Tschechien anzunehmen, und das ausländische Scheidungsverfahren daher als
unbeachtlich zu erklären. Somit bleibt es dabei, dass sich vorliegend die
Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Anordnung von
Eheschutzmassnahmen nicht auf Art. 46 IPRG stützen lässt. Bleibt zu prüfen, ob
eine Zuständigkeit gemäss Art. 10 IPRG in Frage kommt, wonach die
schweizerischen Gerichte und Behörden vorsorgliche Massnahmen treffen, auch
wenn sie für die Entscheidung in der Hauptsache nicht zuständig sind.

3.4 Nichts anderes lässt sich aus dem von beiden Parteien sowie dem Obergericht
erwähnten BGE 104 II 246 ableiten. Mit diesem Urteil entschied das
Bundesgericht, dass die Zuständigkeit des schweizerischen Eheschutzrichters
nicht schon mit der Einleitung des Scheidungsverfahrens im Ausland entfällt,
sondern erst dann, wenn der ausländische Richter vorsorgliche Massnahmen für
die Dauer des Prozesses angeordnet hat und diese in der Schweiz vollstreckbar
erklärt worden sind. Solange dies nicht erfolgt ist, besteht nach dem erwähnten
Urteil die Zuständigkeit des schweizerischen Richters weiter, "derartige
Massnahmen" anzuordnen (BGE 104 II 246 E. 3 S. 248 am Ende). Mit diesem vor
Inkrafttreten des IPRG ergangenen Urteil wurde zum Ausdruck gebracht, dass es
in solchen Fällen der schweizerischen Rechtsordnung obliegt, für einen
lückenlosen Schutz zu sorgen (BGE 104 II 246 E. 3 S. 247). In der Lehre wurde
zu Recht erkannt, dass es sich insoweit (d.h. nach Einleitung der
Scheidungsklage im Ausland) inhaltlich um vorsorgliche Massnahmen (aArt. 145,
Art. 137 ZGB) handelt, welche in der Schweiz während des im Ausland hängigen,
grundsätzlich anerkennbaren (E. 3.3) Scheidungsverfahrens angeordnet werden
(BÜHLER/SPÜHLER, a.a.O., N. 416 und 9 zu Art. 145 ZGB; ANDREAS BUCHER, Droit
international privé suisse, Bd. II: Personnes, famille, successions, Basel
1992, Rz. 538; DANIEL CANDRIAN, Scheidung und Trennung im internationalen
Privatrecht der Schweiz, Diss. St. Gallen 1994, S. 67; DANIEL TRACHSEL,
BGE 134 III 326 S. 330
Konkurrierende Zuständigkeiten in internationalen Familienrechtsfällen - einige
praktische Hinweise, AJP 2003 S. 450). Nach Inkrafttreten des IPRG hat das
Bundesgericht im Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991 (E. 2c und 5a, SJ 1991 S.
463, 465) bestätigt, dass der in BGE BGE 104 II 246 ausgesprochene Grundsatz
eines lückenlosen Rechtsschutzes, d.h. die Gewährleistung des notwendigen und
unverzüglichen Schutzes durch Massnahmen in internationalen Scheidungen bei
derTragweite von Art. 10 IPRG zu berücksichtigen ist. Das Obergericht hat zu
Recht angenommen, dass Art. 10 IPRG eine schweizerische Massnahmenzuständigkeit
begründenkann, wenn - wie hier - die Scheidungsklage vor einem ausländischen
Gericht hängig ist.

3.5 Der Beschwerdeführer behauptet allerdings, dass die Vorinstanz die
Voraussetzungen zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen in der Schweiz zu
Unrecht als erfüllt betrachtet habe.

3.5.1 Im bereits erwähnten Urteil aus dem Jahre 1991 hat das Bundesgericht (vor
dem Hintergrund des in BGE 104 II 246 festgelegten Grundsatzes) Fallgruppen
aufgezählt, in welchen in Bezug auf Scheidungssachen ein Rechtsschutzinteresse
für den Erlass von vorsorglichen Massnahmen gestützt auf Art. 10 IPRG besteht.
Dies ist der Fall, (1.) wenn das vom ausländischen Gericht anzuwendende Recht
keine dem Art. 137 ZGB (aArt. 145 ZGB) vergleichbare Regelung kennt; (2.) wenn
Massnahmenentscheide des ausländischen Scheidungsgerichts am schweizerischen
Wohnsitz der Partei(en) nicht vollstreckt werden können; (3.) wenn Massnahmen
zur Sicherung künftiger Vollstreckung in Vermögensobjekte in der Schweiz
angeordnet werden sollen; (4.) wenn Gefahr in Verzug ist, oder (5.) wenn man
nicht damit rechnen kann, dass das ausländische Gericht innert angemessener
Frist entscheidet (Urteil 5C.243/1990 vom 5. März 1991, E. 5a und b, SJ 1991 S.
465 f.). Diese Rechtsprechung zum Erlass vorsorglicher Massnahmen gestützt auf
Art. 10 IPRG für den Fall, dass im Ausland eine Scheidungsklage hängig ist,
wird in der Lehre bestätigt (IVO SCHWANDER, AJP 1992 S. 409, 2001 S. 609;
BUCHER, Le couple, a.a.O., Rz. 340; PAUL VOLKEN, in: Zürcher Kommentar zum
IPRG, 2. Aufl. 2004, N. 10 zu Art. 62 IPRG; BERNARD DUTOIT, Commentaire de la
loi fédérale du 18 décembre 1987, 4. Aufl. 2005, N. 2 zu Art. 62 IPRG; LUKAS
BOPP, in: Basler Kommentar, Internationales Privatrecht, 2. Aufl., 2007, N. 10
zu Art. 62 IPRG), und es gibt keinen Anlass, diese in Frage zu stellen.

3.5.2 Der Einwand des Beschwerdeführers, die Voraussetzungen zum Erlass von
vorsorglichen Massnahmen in der Schweiz seien
BGE 134 III 326 S. 331
vorliegend nicht erfüllt, geht fehl. Der Beschwerdeführer übergeht, dass die
nicht erwerbstätige Beschwerdegegnerin (geboren 1947) in ihrem Begehren vom 18.
Oktober 2005 an das Amtsgericht neben Unterhaltsbeiträgen die Zuweisung der
ehelichen Wohnung verlangt hatte mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe
den Bankauftrag für monatliche Mietzinszahlungen bereits per Ende Mai 2005
widerrufen. Bei dieser Sachlage kann dem Obergericht nicht vorgeworfen werden,
dass es die Frage, ob vom ausländischen Gericht innert Frist eine entsprechende
Entscheidung erwartet werden könne, nicht weiter erörtert hat. Wenn - wie hier
- die Bezahlung des Mietzinses für die Wohnung seit mehreren Monaten in Frage
steht und die Beschwerdegegnerin als Gesuchstellerin über kein Erwerbseinkommen
verfügt, ist nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht von einer in Verzug
stehenden Gefahr ausgegangen ist und dem Massnahmenrichter erlaubt hat, sofort
über die eheliche Wohnung und die Unterhaltsbeiträge zu entscheiden. Es liegt
keine Verletzung von Art. 10 IPRG vor, wenn das Obergericht die schweizerische
Zuständigkeit zum Erlass von vorsorglichen Massnahmen und das
Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin angenommen hat. Dass das Gericht
in Prag mit Urteil vom 5. September 2006 angeblich die Scheidung ausgesprochen
haben soll, ändert im Übrigen nichts daran, dass die schweizerischen Gerichte
zuständig sind, während des seit 4. Juli 2005 im Ausland hängigen
Scheidungsverfahrens vorsorgliche Massnahmen anzuordnen.

3.6 Nach dem Dargelegten liegt keine Verletzung der Regeln über die
internationale Zuständigkeit bzw. kein Nichtigkeitsgrund gemäss Art. 68 Abs. 1
lit. e OG vor. Zwar hat der erstinstanzliche Richter als Eheschutzrichter
entschieden und hat das Obergericht dies durch Abweisung des Rekurses
geschützt, obwohl es die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte - zu Recht
- auf Art. 10 IPRG stützte. Dies allein kann aber nicht zur Aufhebung des
angefochtenen Entscheides führen, wird doch zu Recht nicht geltend gemacht, die
vom erstinstanzlichen Richter getroffenen Anordnungen hätten nicht auch als
vorsorgliche Massnahmen erlassen werden können.