Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 96



Urteilskopf

133 V 96

  14. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S.
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen B. und Verwaltungsgericht
des Kantons Freiburg (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  U 337/05 vom 16. Oktober 2006

Regeste

  Art. 38 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 2 und Art. 82 Abs. 2 ATSG;
Art. 30 und 7 Abs. 2 des Gesetzes vom 23. Mai 1991 über die
Verwaltungsrechtspflege des Kantons Freiburg (VRG/FR): Fristenstillstand im
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren.

  Auf dem Gebiet der obligatorischen Krankenpflege- und Unfallversicherung,
der Militär- sowie der Arbeitslosenversicherung (E. 4.3.2) bleiben die bei
Inkrafttreten des ATSG gültig gewesenen, positiven oder negativen kantonalen
Regelungen zur Rechtspflege (hier: Art. 30 VRG/FR; E. 4.4.2) während der
Übergangsfrist von Art. 82 Abs. 2 ATSG oder bis zur vorzeitigen Anpassung an
das ATSG auf das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren anwendbar. Weder der
unechte Vorbehalt von Bundesrecht im Sinne von Art. 7 Abs. 2 VRG/FR (E.
4.4.5) noch der Grundsatz des Vertrauensschutzes (E. 4.4.6) vermögen an
diesem Ergebnis etwas zu ändern.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.

  4.3
  4.3.1  Vor Inkrafttreten des ATSG waren die Bestimmungen der Art. 20 bis
24 VwVG im kantonalen Rechtspflegeverfahren kraft bundesrechtlicher Verweise
nicht nur auf dem Gebiete der AHV/IV (Art. 96 AHVG und Art. 81 IVG, je in
der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung; nachfolgend: alt Art.),
sondern auch der EO (alt Art. 29 EOG), der Familienzulagen in der
Landwirtschaft (alt Art. 22 Abs. 3 FLG; vgl. ZAK 1992 S. 154) und seit
Inkrafttreten des alt Art. 9a ELG am 1. Januar 1998 auch der EL anwendbar.
Auf diesen Gebieten galt auch auf kantonaler Ebene - nur, aber immerhin, in
Bezug auf die nach Tagen bestimmten Fristen - eine im Übrigen verglichen mit
Art. 38 Abs. 4 ATSG identische Fristenstillstandsordnung, so dass insoweit
das Bundessozialversicherungsrecht keinen Raum liess für eine abweichende
kantonalrechtliche Regelung (SVR 2004 EL Nr. 2 S. 6 E. 2.3; Urteile vom 6.
April 2006, I 803/05, E. 1.3.1 und vom 8. März 2006, I 941/05, E. 3.1).

  4.3.2  Dies im Gegensatz zu den Gebieten der obligatorischen
Unfallversicherung (vgl. dazu BGE 131 V 326 E. 4.1), der Militärversicherung
(vgl. alt Art. 104-106 MVG), der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(Art. 86 f. KVG) und der Arbeitslosenversicherung (vgl. zu den letzten
beiden Bereichen das Urteil vom 8. März 2006, I 941/05, E. 3.2.1), wo vor
Inkrafttreten des ATSG eine bundesrechtliche Verweisungsnorm fehlte, wonach
die Bestimmungen über die Fristen gemäss VwVG auch im kantonalen
Beschwerdeverfahren anwendbar seien. Hier konnten die Kantone folglich eine
von Art. 22a VwVG abweichende Fristenstillstandsregelung treffen, welche
gegebenenfalls bis zum Ablauf der fünfjährigen Übergangsfrist von Art. 82
Abs. 2 ATSG oder bis zur vorzeitigen Anpassung der kantonalen Vorschriften
anwendbar bleibt (vgl. zur Praxis betreffend die negativen kantonalen
Regelungen BGE 131 V 322 ff. E. 5; Urteil vom 6. April 2006, I 803/05, E.
1.3.2).

  4.4
  4.4.1  In Bundessozialversicherungsstreitigkeiten waren bisher (vor
Einführung des ATSG) die Kantone zuständig für die Organisation und
weitgehend auch für das Verfahren der erstinstanzlichen Rechtspflege (vgl.
HANS PETER TSCHUDI, Die Stellung der Kantone im Sozialversicherungsrecht,
in: SZS 1994 S. 161 ff., insbesondere S. 177; Parlamentarische Initiative
Allgemeiner Teil Sozialversicherung, Bericht der Kommission des Ständerates
vom 27. September 1990, in: BBl 1991 II 185 ff., insbesondere S. 264). Das
am 1. Januar 2003 in Kraft getretene ATSG stützt sich auf die Art. 112 Abs.
1, Art. 114 Abs. 1 und Art. 117 Abs. 1 BV. Die in der Bundesverfassung
enthaltenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes schliessen auch die
Ermächtigung des Bundes mit ein, darüber zu entscheiden, ob die Verwaltungs-
und Rechtsprechungsfunktionen im betreffenden Sachbereich dem Bund oder den
Kantonen zustehen, sofern die Bundesverfassung nicht einen Vorbehalt zu
Gunsten der Kantone vorsieht (HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches
Bundesstaatsrecht, 6. Aufl., Zürich 2005, S. 310 Rz. 1082). Auf dem Gebiet
des gestützt auf die verfassungsmässige Kompetenzgrundlage des Bundes
erlassenen ATSG bleiben die Kantone hinsichtlich ihrer Verwaltungs- und
Rechtsprechungsfunktionen nach Massgabe der nachträglich derogatorischen
Kraft der Bundeskompetenz als Regelfall (vgl. dazu HÄFELIN/HALLER, a.a.O.,
S. 313 Rz. 1092) nur solange und soweit zuständig und autonom, als der Bund
von seiner Ermächtigung zum Erlass von Verfahrensbestimmungen im Rahmen
seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch macht (vgl. PIERRE TSCHANNEN,
Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 2004, § 20 Rz. 28 S.
284 f.). Soweit der Bund den Vollzug eines Gesetzes den Kantonen überträgt,
ist er ermächtigt, von diesen zu beachtende Verfahrensbestimmungen
aufzustellen (UELI KIESER, Das Verwaltungsverfahren in der
Sozialversicherung, Zürich 1999, S. 32 N. 58).

  Der Bundesrat hat in seiner vertieften Stellungnahme vom 17. August 1994
zur parlamentarischen Initiative Sozialversicherungsrecht (BBl 1994 V 942)
beantragt, dass sich das Verfahren vor kantonalen und eidgenössischen
Beschwerdebehörden, mit Ausnahme des Eidgenössischen Versicherungsgerichts,
vollumfänglich nach VwVG bestimme. Entgegen dieser Auffassung entschied sich
der Gesetzgeber des ATSG dafür, die erstinstanzliche Rechtspflege zwar nicht
vollständig dem kantonalen Gestaltungsbereich zu entziehen (Parlamentarische

Initiative Sozialversicherungsrecht, Bericht der Kommission des Nationalrats
für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, in: BBl 1999 V
4537), aber doch in den wesentlichen Punkten (Art. 56-61) weitgehend
bundesgesetzlich im ATSG zu ordnen. Die Verfahrensbestimmungen sollten im
Sinne der Bürgerfreundlichkeit im ATSG koordiniert werden (BGE 131 V 311 E.
4.3 mit Hinweisen). Zum Zwecke der Verwirklichung des gesetzgeberisch im
ATSG verdichteten Willens zur Verfahrensharmonisierung (BGE 131 V 321 E.
4.5) hat der Bundesgesetzgeber den Kantonen die fünfjährige Anpassungsfrist
von Art. 82 Abs. 2 ATSG eingeräumt. Es liegt in der Natur einer solchen
Frist, dass bis zur Anpassung der kantonalen Rechtspflegebestimmungen die
noch nicht harmonisierten kantonalen Verfahrensregeln weiter anwendbar
bleiben (vgl. z.B. zu der mit Art. 82 Abs. 2 ATSG vergleichbaren
Anpassungsvorschrift von Art. 72 Abs. 1 des Steuerharmonisierungsgesetzes
[StHG; SR 642.14] BGE 123 II 592 E. 2d).

  4.4.2  Nach Art. 30 Abs. 1 des Gesetzes vom 23. Mai 1991 über die
Verwaltungsrechtspflege des Kantons Freiburg (VRG; Systematische
Gesetzessammlung des Kantons Freiburg [SGF] 150.1) stehen die nach Tagen
oder Monaten bestimmten gesetzlichen oder behördlichen Fristen still vom
Gründonnerstag bis und mit dem Sonntag nach Ostern (lit. a) und vom 24.
Dezember bis und mit dem 5. Januar (lit. b); in den Sachen, die in die
Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts fallen, stehen die Fristen auch vom
15. Juli bis und mit dem 15. August still (Art. 30 Abs. 2 VRG). Art. 30 VRG
ist gemäss der im Internet zugänglichen Datenbank der freiburgischen
Gesetzgebung mindestens seit 1. Juli 1996 in unverändertem Wortlaut gültig.
Bis zum Inkrafttreten des ATSG (am 1. Januar 2003) richtete sich der
Fristenstillstand im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren nach UVG - wie in
Erwägung 4.3.2 und 4.4.1 eingangs dargelegt - nach dem jeweiligen kantonalen
Verwaltungsrechtspflegeerlass, im Kanton Freiburg somit nach Art. 30 VRG.

  4.4.3  Soweit der kantonal vorgesehene Fristenstillstand gemäss Art. 30
Abs. 1 VRG nicht nur auf nach Tagen, sondern auch nach Monaten bestimmte
Fristen anwendbar ist, besteht im Vergleich zu Art. 38 Abs. 4 ATSG kein
Anpassungsbedarf. Demgegenüber kennt die genannte kantonale Vorschrift in
Abweichung von Art. 38 Abs. 4 ATSG andere Fristenstillstandszeiten. Sieht
Art. 30 Abs. 1 VRG über Weihnachten/Neujahr einen Fristenstillstand von 13
Tagen vor, verlängert sich eine Frist in Anwendung von Art. 38 Abs. 4

lit. c ATSG über Weihnachten/Neujahr um 15 Tage. Satz 1 von Art. 82 Abs. 2
ATSG verpflichtet die Kantone dazu, ihre vom ATSG abweichenden Bestimmungen
über die Rechtspflege innerhalb von fünf Jahren nach Inkrafttreten, also bis
zum 31. Dezember 2007, dem ATSG anzupassen. Nachdem gemäss BGE 131 V 323 E.
5.2 "bisherige kantonale Vorschriften" im Sinne von Art. 82 Abs. 2 ATSG auch
negative kantonale Regelungen umfassen, gilt der intertemporalrechtliche
Vorbehalt des Art. 82 Abs. 2 ATSG zu Gunsten kantonalen Rechts (BGE 131 V
314) nicht nur mit Blick auf eine im Vergleich zum ATSG auf kantonaler Ebene
(noch) fehlende Fristenstillstandsbestimmung, sondern auch hinsichtlich
einer während der Übergangsfrist einstweilen noch von Art. 38 Abs. 4 ATSG
abweichenden positivrechtlichen kantonalen Regelung des Fristenstillstandes.
Demzufolge bleibt die bezüglich Dauer und Kalenderperiode des
Fristenstillstandes nicht mit Art. 38 Abs. 4 ATSG übereinstimmende kantonale
Vorschrift im Sinne von Art. 30 Abs. 1 VRG bis zum unbenutzten Ablauf der
Übergangsfrist nach Art. 82 Abs. 2 ATSG oder bis zur vorzeitigen Anpassung
an Art. 38 Abs. 4 ATSG im Bereich der in Erwägung 4.3.2 genannten
Bundessozialversicherungszweige unverändert anwendbar. Dieses Ergebnis steht
entgegen der vorinstanzlichen Vernehmlassung vom 10. Oktober 2005 nicht im
Widerspruch zu Sinn und Zweck des ATSG (BGE 131 V 327 E. 4.3 mit Hinweis).
Daran ändert auch der Hinweis auf das vor Erlass der Grundsatzentscheide BGE
131 V 314 und 325 ergangene Urteil vom 5. Juli 2004 (H 93/04) nichts.

  4.4.4  Was unter "bisherigen kantonalen Vorschriften" im Sinne von Art. 82
Abs. 2 ATSG zu verstehen ist, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in
BGE 131 V 323 E. 5.2 verbindlich entschieden. Der Bundesgesetzgeber machte
mit dem Erlass des ATSG von der ihm auf dem Gebiet des
Bundessozialversicherungsrechts von Verfassungs wegen zustehenden
Gesetzgebungskompetenz Gebrauch, um unter anderem in den Art. 56 bis 61 ATSG
das Rechtspflegeverfahren auf kantonaler Ebene einheitlich zu ordnen und
damit auch den Fristenstillstand abschliessend zu regeln (vgl. dazu hienach
E. 4.4.6). Übergangsrechtlich schreibt Art. 82 Abs. 2 ATSG den Kantonen vor,
ihre Rechtspflegebestimmungen innerhalb von fünf Jahren seit Inkrafttreten
an das ATSG anzupassen und bis dahin ihre bisherigen Vorschriften
anzuwenden. Unter den gegebenen Umständen ist demzufolge in der gemäss
angefochtenem Entscheid erfolgten sofortigen Anwendung von Art. 38 Abs. 4
ATSG auf das

erstinstanzliche Beschwerdeverfahren ab Inkrafttreten des ATSG bei
Weitergeltung der bisherigen kantonalen Vorschrift im Sinne von Art. 30 VRG
eine Verletzung von Bundesrecht zu erblicken. Denn die Vorinstanz hat damit
zu Unrecht während der fünfjährigen Übergangsfrist anstelle der massgebenden
kantonalen Fristenstillstandsbestimmung (Art. 30 Abs. 1 lit. b VRG) Art. 38
Abs. 4 lit. c ATSG angewendet.

  4.4.5  An diesem Ergebnis ändert sich auch unter Berücksichtigung von Art.
7 VRG nichts. Diese Bestimmung, welche gemäss der im Internet zugänglichen
Datenbank der freiburgischen Gesetzgebung mindestens seit 1. Juli 1996 in
unverändertem Wortlaut gültig ist, lautet wie folgt:

    (Abs.1) "Vorbehalten bleiben die kantonalen Bestimmungen, die dieses
    Gesetz ergänzen oder näher ausführen, sowie diejenigen, die davon
    abweichen und durch ein Gesetz oder gestützt auf ein Gesetz erlassen
    worden sind."

    (Abs. 2) "Vorbehalten bleiben zudem die bundesrechtlichen Bestimmungen,
    insbesondere diejenigen im Bereich der Sozialversicherungen, sowie die
    interkantonalen und internationalen Vereinbarungen."

  Die Kompetenzordnung der Bundesverfassung ist zwingender Natur, weshalb
die Übertragung kantonaler Aufgaben auf den Bund ohne entsprechende
Verfassungsänderung als unzulässig gilt (TSCHANNEN, a.a.O., § 21 Rz. 15 S.
298). Nach dem auf verfassungsmässiger Grundlage beruhenden, kompetenzgemäss
erlassenen ATSG (E. 4.4.1 hievor) haben die Kantone gemäss ausdrücklichem
und unmissverständlich klarem Wortlaut von Art. 82 Abs. 2 ATSG ihre
Vorschriften über die Rechtspflege dem ATSG innerhalb von fünf Jahren nach
seinem Inkrafttreten anzupassen (vgl. auch BGE 131 V 322 E. 5.1). Art. 7
Abs. 2 VRG kommt mit Blick auf das ATSG insofern nur deklaratorische
Bedeutung im Sinne eines unechten Vorbehalts zu (vgl. TSCHANNEN, a.a.O., §
21 Rz. 22 S. 300), als diese Bestimmung lediglich zum Ausdruck bringt, dass
das ATSG - einschliesslich dessen Übergangsbestimmungen von Art. 82 ATSG -
infolge des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 49
Abs. 1 BV; vgl. dazu BGE 130 I 86 E. 2 mit Hinweisen) Vorrang hat vor
gegebenenfalls davon abweichendem kantonalem Recht (zum Vorrang des
Bundesrechts vgl. auch AUER/MALIVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel
suisse, volume I, Bern 2006, S. 367 Rz. 1035 mit Hinweisen). Der Vorrang des
Bundesrechts gilt ohnehin von Verfassungs wegen (Art. 49 Abs. 1 BV),

und zwar unabhängig davon, ob das kantonale Recht einen solchen Vorbehalt
kennt oder nicht.

  Bei Art. 7 Abs. 2 VRG handelt es sich nach dem klaren Wortlaut auch nicht
um eine Verweisungsnorm. Wie es sich im Hinblick auf eine allfällige
dynamische (vgl. dazu MARTIN BERTSCHI, Auf der Suche nach dem einschlägigen
Recht im öffentlichen Personalrecht, in: ZBl 2004 S. 617 ff., insbesondere
S. 621 f.) Aussenverweisung (vgl. dazu VIKTOR LIEBER, Kommentar zum
Schweizerischen Zivilgesetzbuch [Zürcher Kommentar], Zivilgesetzbuch,
Einleitung 1. Teilband: Art. 1-7 ZGB, 3. Aufl., Zürich 1998, N. 23 zu Art.
7) im kantonalen Verwaltungsrechtspflegeerlass (etwa des Inhalts: "für den
Fristenstillstand gelten die einschlägigen Vorschriften des Bundesrechts")
verhielte, braucht hier - insbesondere mit Blick auf die verbreitet
geäusserte Zurückhaltung gegenüber der Anwendung solcher Verweisungsnormen
(BERTSCHI, a.a.O., S. 622; vgl. auch VPB 41 [1977] Nr. 110 S. 110 E. 2b) -
nicht näher geprüft zu werden. Immerhin ist auf die Bedenken insbesondere
hinsichtlich der dynamischen Verweisung bezüglich Gewaltenteilung,
Rechtssicherheit, Demokratie und Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund
und Kantonen (THOMAS POLEDNA, Annäherungen ans Obligationenrecht, in:
Helbling/Poledna [Hrsg.], Personalrecht des öffentlichen Dienstes, Bern
1999, S. 214 ff.; ALEXANDER RUCH, Recht der Technik - Rechtstechnik, in: ZBl
1995 S. 1 ff., insbesondere Fn. 27 S. 8 mit Hinweisen, wonach die dynamische
Verweisung in Deutschland verfassungsrechtlich als unzulässig gilt) sowie
auf den "Gesetzgebungsleitfaden" des Bundesamtes für Justiz (2. Aufl., Bern
2002 [veröffentlicht unter der Internet-Adresse: www.ofj.admin.ch], S. 352)
hinzuweisen, wonach auf Bundesebene eine dynamisch-direkte Verweisung auf
Grund der geltenden verfassungsrechtlichen Lage grundsätzlich als unzulässig
erachtet wird.

  Mit Art. 7 Abs. 2 VRG vergleichbare Bestimmungen materiellrechtlicher oder
formellrechtlicher Natur, wie sie auf kantonaler Ebene verbreitet
anzutreffen sind, haben jedenfalls in Sachgebieten, welche das Bundesrecht
abschliessend normiert hat (BGE 130 I 86 E. 2.2 mit Hinweisen), keinen
eigenen Regelungsgehalt. Der Bundesgesetzgeber hat mit dem Erlass von Art.
60 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 38 ATSG die Frage des im
erstinstanzlichen bundessozialversicherungsrechtlichen Beschwerdeverfahren
zu beachtenden Fristenstillstandes abschliessend kodifiziert (BGE 131 V

307 E. 4.1). Davon abweichende - positive oder negative kantonale Regelungen
(vgl. dazu BGE 131 V 323 E. 5.2) - bleiben auf dem Gebiete derjenigen
Bundessozialversicherungszweige, auf welchen sich das erstinstanzliche
Beschwerdeverfahren schon vor Inkrafttreten des ATSG nach kantonalem Recht
gerichtet hatte (vgl. E. 4.3.2 hievor), innerhalb der fünfjährigen
Übergangsfrist solange anwendbar, bis der kantonale Gesetzgeber seine
Vorschriften nach Massgabe von Art. 82 Abs. 2 ATSG angepasst hat.

  4.4.6  Eine neue Praxis ist grundsätzlich sofort und in allen hängigen
Verfahren anzuwenden. Der verfassungsrechtliche Grundsatz des
Vertrauensschutzes (vgl. Art. 9 BV und Urteil X. vom 7. April 2005,
1P.701/2004, E. 4.2) kann jedoch gegebenenfalls bei einer
verfahrensrechtlichen Änderung der Rechtsprechung dazu führen, dass eine
Praxisänderung im Anlassfall noch nicht angewendet wird, wenn der Betroffene
einen Rechtsverlust erleiden würde, den er hätte vermeiden können, wenn er
die neue Praxis bereits gekannt hätte (BGE 122 I 59 E. 3c/bb S. 59). Dies
kann bei Änderungen der Rechtsmittelfristen (BGE 132 II 159 E. 5.1 mit
Hinweisen) oder von Formvorschriften für die Einlegung eines Rechtsmittels
zutreffen, nicht aber, wenn die Zulässigkeit des Rechtsmittels als solche in
Frage steht (BGE 122 I 60 E. 3 c/bb mit Hinweisen; Urteile vom 27. März
2006, 1P.83/2006, E. 1.5.3 und vom 8. Juli 2003, 5P.83/2003, E. 2.1). In BGE
94 I 16 E. 1 (vgl. auch BGE 122 I 60 E. 3c/bb) präzisierte das
Bundesgericht, dass die eine Fristberechnung modifizierende Praxisänderung
immer dann als willkürlich erscheint, wenn sie ohne Vorankündigung eintritt
und zur Verwirkung eines Rechts führt. Dies trifft auf den vorliegenden Fall
nicht zu. Wie gezeigt (E. 4.4.2 hievor), war im Kanton Freiburg die
Fristenstillstandsbestimmung von Art. 30 VRG schon vor Inkrafttreten des
ATSG auf Beschwerdeverfahren nach UVG anwendbar. Die Dauer dieses bereits
vor dem 1. Januar 2003 geltenden kantonalrechtlichen Fristenstillstandes
gemäss Art. 30 VRG wurde weder durch Einführung des ATSG noch durch die
Rechtsprechung gemäss BGE 131 V 305, 314 und 325 verkürzt. Zu Recht macht
der Beschwerdegegner denn auch nicht geltend, er sei im Vertrauen auf eine
feststehende bekannte Praxis des kantonalen Gerichts davon ausgegangen, dass
Art. 38 Abs. 4 ATSG ab Inkrafttreten am 1. Januar 2003 sofort auf das
erstinstanzliche Beschwerdeverfahren in Sozialversicherungssachen zur
Anwendung gelange. Der Rechtsuchende erlitt demnach keinen Rechtsverlust,
wenn er sich hinsichtlich

der Fristenstillstandsregelung bei der Berechnung der Rechtsmittelfrist im
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren an die bisher und übergangsrechtlich
im Rahmen von Art. 82 Abs. 2 ATSG anhaltend geltende kantonale Rechtsordnung
hielt. Insoweit steht der fortgesetzten Anwendbarkeit des Art. 30 VRG
während der Dauer der Übergangsfrist im Sinne von Art. 82 Abs. 2 ATSG der
Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht entgegen.

  In seiner Beschwerdeantwort wiederholt der Versicherte seinen bereits im
vorinstanzlichen Verfahren vertretenen Standpunkt, wonach er sich mit
Inkrafttreten "des ATSG und dessen an Deutlichkeit und Bestimmtheit kaum zu
überbietenden Art. 38 [...] auf dessen Geltung [habe] verlassen" dürfen. Die
Aufnahme dieser Regelung in das ATSG schaffe eine genügende
Vertrauensgrundlage. Dieser Auffassung kann schon deshalb nicht gefolgt
werden, weil mit dem ATSG am 1. Januar 2003 nicht nur Art. 38, sondern in
demselben Erlass auch die nach ihrem Wortlaut ebenfalls unmissverständlich
klare Übergangsbestimmung im Sinne von Art. 82 Abs. 2 ATSG in Kraft trat,
wonach während der Übergangsfrist bis zur Anpassung der erstinstanzlichen
Rechtspflegebestimmungen an das ATSG die bisherigen kantonalen Vorschriften
anwendbar bleiben. Gerade bei Einführung eines neuen Gesetzes wie dem ATSG
verdienen die entsprechenden Übergangsbestimmungen hinsichtlich der
Ermittlung des anwendbaren Rechts besondere Aufmerksamkeit. Anders als im
Fall gemäss Urteil vom 8. Mai 2006 (U 113/06) kann sich demnach der
Beschwerdegegner nicht auf eine im Sinne von Art. 9 BV nach Treu und Glauben
geschützte Vertrauensgrundlage berufen, zumal bei Einreichung der
vorinstanzlichen Beschwerdeschrift vom 12. Februar 2004 noch keine
Grundsatzurteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts zur Frage der
massgebenden Fristenstillstandsregelung ergangen waren.

  4.4.7  Zusammenfassend folgt aus dem Gesagten, dass das Verwaltungsgericht
des Kantons Freiburg hier statt der massgebenden kantonalen
Fristenstillstandsbestimmung im Sinne von Art. 30 VRG zu Unrecht Art. 38
Abs. 4 ATSG zur Anwendung gebracht und damit unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung gemäss BGE 131 V 324 E. 5.3 die bundesrechtliche
Übergangsvorschrift von Art. 82 Abs. 2 ATSG verletzt hat. Diesem Ergebnis
stehen weder Art. 7 Abs. 2 VRG (E. 4.4.5 hievor) noch der Vertrauensschutz
(E. 4.4.6 hievor) entgegen.