Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 637



Urteilskopf

133 V 637

  81. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen gegen R. sowie Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
  8C_179/2007 vom 25. September 2007

Regeste

  Art. 66 Abs. 4 BGG; Gerichtskosten; Kostenbefreiung.

  Arbeitslosenkassen fallen nicht unter die Befreiung von Gerichtskosten im
Rahmen von Art. 66 Abs. 4 BGG (E. 4).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 637

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.

  4.1  Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 f. BGG). Nach Art. 66 Abs.
1 BGG werden die Gerichtskosten in der Regel der unterliegenden Partei
auferlegt. Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie den mit
öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel
keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen
Wirkungskreis und, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das
Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen
Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist (Art. 66 Abs. 4 BGG). Es
stellt sich demnach die Frage, ob der unterliegenden Arbeitslosenkasse die
Gerichtskosten aufzuerlegen sind.

  4.2  Bereits unter dem alten Recht durften gemäss Art. 156 Abs. 2 des
Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG; BS 3 S. 531) "dem Bund, Kantonen oder Gemeinden, die
in ihrem amtlichen Wirkungskreis und ohne dass es sich um ihr
Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen, oder gegen
deren Verfügungen in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt wird", in
der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden. Dieser Text findet sich
bereits als Art. 156 Abs. 2 in der Botschaft des Bundesrates zum OG vom 9.
Februar 1943 (BBl 1943 I 97, S. 208). Er wurde mit geringen sprachlichen
Änderungen aus Art. 221 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 22. März 1893 über die
Organisation der Bundesrechtspflege übernommen (BBl 1893 I 1107, 1165). Nach
der Rechtsprechung hatten Arbeitslosenkassen unter der Herrschaft des OG in
kostenpflichtigen Verfahren (z.B. in Verfahren um prozessuale Fragen)
allfällige Gerichtskosten zu tragen (vgl. etwa Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts C 162/04 vom 20. Januar 2005, C 38/05 vom 7. April
2005 oder C 28/05 vom 13. Dezember 2005).

  4.3  Die Grundsätze der Kostentragungspflicht vor Bundesgericht (Art. 66
BGG) sind weitgehend vom bisherigen Recht übernommen worden (Botschaft des
Bundesrates vom 28. Februar 2001, BBl 2001 S. 4202, 4305). Kostenpflichtig
ist gemäss Art. 66 BGG grundsätzlich die unterliegende (Abs. 1) oder die
unnötig Kosten verursachende (Abs. 3) Partei. Diese Regelung kennt
ausdrücklich erwähnte Ausnahmen: Von den Gerichtskosten befreit sind Bund,
Kantone und Gemeinden sowie - neu - die mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben
betrauten Organisationen, sofern sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis
handeln und es nicht um ihr Vermögensinteresse geht (Abs. 4). Das
Bundesgericht kann die Gerichtskosten anders verteilen oder auf die
Kostenerhebung verzichten, wenn es die Umstände rechtfertigen (Abs. 1
zweiter Satz). Zudem kann es auf die Erhebung der Gerichtskosten ganz oder
teilweise verzichten, wenn ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich
erledigt wird (Abs. 2). Aus dem Vergleich des Wortlauts von Art. 156 Abs. 2
OG und Art. 66 Abs. 4 BGG wird deutlich, dass die bisher für Bund, Kantone
und Gemeinden geltende Kostenbefreiung auf die Organisationen mit
öffentlich-rechtlichen Aufgaben erweitert werden sollte. Dieser Begriff fand
sich bisher bereits in Art. 159 Abs. 2 OG, so dass die zu dieser Bestimmung
ergangene Rechtsprechung übernommen werden kann (vgl. SEILER/VON
WERDT/GÜNGERICH, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, N. 46 zu Art. 66
BGG).

  4.4  In Abweichung vom bisherigen Art. 134 OG hat der Gesetzgeber
sämtliche Verfahren vor Bundesgericht für kostenpflichtig erklärt und für
das Sozialversicherungsrecht lediglich einen reduzierten Gebührenrahmen
vorgesehen (Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG).

  4.5  Während die kantonalen Arbeitsämter, welchen Aufgaben im Sinne von
Art. 85 AVIG übertragen sind, als kantonale Amtsstellen ohne Weiteres dem
Begriff "Kanton" zuzuordnen sind, ist die Ausgangslage bei den
Arbeitslosenkassen anders, da der Gesetzgeber nebst den kantonalen (Art. 77
AVIG) auch private (Art. 78 AVIG) Arbeitslosenkassen vorsieht. Nach Art. 79
Abs. 2 AVIG kommt sowohl den kantonalen wie auch den privaten
Arbeitslosenkassen keine Rechtspersönlichkeit zu; sie können jedoch nach
aussen in eigenem Namen handeln und als Partei auftreten. Damit bestimmt
sich ihre Zuordnung nach ihrem jeweiligen Träger: Die kantonalen
Arbeitslosenkassen, deren Träger die Kantone sind (Art. 77 Abs. 2 AVIG),
fallen demnach unter den Begriff "Kanton" im Sinne von Art. 66 Abs. 4 BGG;
die privaten Arbeitslosenkassen, deren Träger Arbeitgeber- oder
Arbeitnehmerorganisationen sein können (Art. 78 Abs. 1 AVIG), zählen
hingegen zu den mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten
Organisationen.

  4.6  Den kantonalen und privaten Arbeitslosenkassen ist gemeinsam, dass
sie bei Leistungsstreitigkeiten Aufgaben in ihrem amtlichen Wirkungskreis
erfüllen (Art. 81 Abs. 1 AVIG; vgl. SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, a.a.O., N.
49 zu Art. 66 BGG). Dabei verfolgen sie eigene Vermögensinteressen (vgl.
SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, a.a.O., N. 54 zu Art. 66 BGG). Sie sind für die
Auszahlung der Leistungen zuständig (Art. 81 Abs. 1 lit. c AVIG). Somit
fallen Arbeitslosenkassen nicht unter den Ausnahmetatbestand von Art. 66
Abs. 4 BGG. Dies steht in Einklang sowohl mit der bisherigen, mit dem BGG
grundsätzlich nicht geänderten Praxis, wonach die Arbeitslosenkassen in
kostenpflichtigen Verfahren Gerichtskosten zu tragen haben (vgl. E. 4.2 in
fine sowie E. 4.3), als auch mit der Einführung der Kostenpflicht für
sämtliche Sozialversicherungsverfahren vor Bundesgericht (vgl. E. 4.4).

  4.7  Nach dem Gesagten sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Arbeitslosenkasse aufzuerlegen.