Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 545



Urteilskopf

133 V 545

  68. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. M.
gegen IV-Stelle Luzern sowie Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
(Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
  9C_237/2007 vom 24. August 2007

Regeste

  Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 41 IVG (in Kraft gestanden bis 31. Dezember
2002); Art. 28 Abs. 1 IVG: Revisionsvoraussetzung eines erheblich geänderten
Invaliditätsgrades.

  Bei den Renten der Invalidenversicherung kann auch eine geringfügige
Änderung des Sachverhalts Anlass zu einer Revision geben, sofern sie zu
einer Über- oder Unterschreitung eines Schwellenwertes führt (E. 6 mit
Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung).

  Die Revision betrifft Änderungen in den persönlichen Verhältnissen der
versicherten Person (gesundheitliche Umstände, erwerbliche Faktoren).
Geringfügige Änderungen statistischer Daten führen dagegen nicht zu einer
Revision von Invalidenrenten, selbst wenn durch solche Veränderungen ein
Schwellenwert über- oder unterschritten wird (Präzisierung der
Rechtsprechung; E. 7).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 6

  6.

  6.1  Eine Revision der Invalidenrente setzt voraus, dass sich der
Invaliditätsgrad erheblich ändert (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Sie kann nicht nur
bei einer Änderung des Gesundheitszustandes, sondern auch bei einer
Veränderung der erwerblichen Komponente erfolgen. Geht man mit der
Beschwerdeführerin beim neuen Einkommensvergleich wie bei demjenigen gemäss
Verfügung vom 22. September 2003 vom Wert gemäss der Tabelle TA1 "Total
Privater Sektor" der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) aus, so ergibt sich ein
Invaliditätsgrad

von 59,7 % gegenüber 59,45 % in der ursprünglichen Verfügung. Die absolute
Änderung von 0,25 % ist als solche nicht erheblich. Sie würde sich
allerdings rentenwirksam auswirken, indem sich auf Grund der Rundungsregeln
(vgl. BGE 130 V 121 E. 3.3 S. 123 f.) neu ein Invaliditätsgrad von 60 %
anstatt 59 % ergäbe und damit eine Dreiviertelsrente an Stelle einer halben
Rente resultierte. Fraglich und zu entscheiden ist, ob eine absolut gesehen
geringe Änderung des Invaliditätsgrades, die sich aber rentenwirksam
auswirken würde, "erheblich" im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG ist.

  6.2  Bei den prozentgenauen Renten (Unfallversicherung nach UVG,
Militärversicherung) wird Erheblichkeit einer Änderung angenommen, wenn sich
der Invaliditätsgrad um 5 % ändert (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U
267/05 vom 19. Juli 2006, E. 3.3; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, N. 15 zu Art.
17 ATSG; JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Militärversicherungsgesetz, Bern 2000,
N. 15 f. zu Art. 44 MVG). In der Invalidenversicherung, wo die Rente
abgestuft nach gewissen Schwellenwerten bemessen wird (Art. 28 Abs. 1 IVG),
galt unter aArt. 41 IVG als Anlass zur Rentenrevision jede wesentliche
Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den
Rentenanspruch zu beeinflussen (BGE 130 V 343 E. 3.5; Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts I 708/03 vom 3. Januar 2005, E. 3; I 238/02 vom 20.
März 2003, publ. in: SVR 2003 IV Nr. 25 S. 76). Demgemäss konnte auch eine
Änderung des Invaliditätsgrades von beispielsweise 2 % Anlass zu einer
Revision geben, wenn dadurch die Schwelle zu einer höheren oder tieferen
Rente überschritten wurde (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I
571/03 vom 9. Januar 2004, E. 3.1).

  6.3  Art. 17 ATSG wollte an der bisherigen Rechtsprechung nichts ändern
(BGE 130 V 343 E. 3.5.4 S. 352). Dafür spricht nebst der historischen
(KIESER, ATSG-Kommentar, N. 1, 7 und 8 zu Art. 17 ATSG) auch die
systematische Auslegung: Während Abs. 1 von Art. 17 auf die erhebliche
Änderung des Invaliditätsgrades abstellt, verlangt Abs. 2 eine erhebliche
Änderung des Sachverhalts. Daraus lässt sich folgern, dass im Rahmen von
Abs. 1 keine erhebliche Änderung des Sachverhalts verlangt ist, sondern eine
erhebliche Änderung des Invaliditätsgrades auch dann genügt, wenn sie auf
eine geringfügige Änderung des Sachverhalts zurückzuführen ist; dabei kann
Erheblichkeit - resultatbezogen - bereits dann angenommen werden, wenn die
prozentuale Veränderung zwar nicht gross ist, aber zum Überschreiten des
Schwellenwertes führt. Auch

die Lehre bejaht mehrheitlich eine Revision bei geringfügigen Änderungen des
Invaliditätsgrades, sofern sie rentenrelevant sind (KIESER, ATSG-Kommentar,
N. 15 zu Art. 17 ATSG; KIESER, in: Schaffhauser/Schlauri, Revision von
Dauerleistungen in der Sozialversicherung, S. 57 f.; THOMAS LOCHER,
Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, S. 255 Rz. 9;
JEAN-LOUIS DUC, L'assurance-invalidité, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., S. 1496 Fn.
335; jedoch kritisch gegenüber Revisionen bei geringfügigen Änderungen
namentlich der nicht-gesundheitlichen Faktoren FRANZ SCHLAURI, Die
Militärversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR],
Soziale Sicherheit, 2. Aufl., S. 1117).

Erwägung 7

  7.  Nach dem Gesagten ist daran festzuhalten, dass im Rahmen von Art. 17
Abs. 1 ATSG bei den auf Schwellenwerten beruhenden Renten der
Invalidenversicherung auch eine geringfügige Änderung des Sachverhalts
Anlass zu einer Revision geben kann, sofern sie zu einer Überschreitung des
Schwellenwertes führt.

  7.1  Dabei bedarf es der folgenden Differenzierung: Das Institut der
Revision ist von seinem Sinn und Zweck her zugeschnitten auf Änderungen in
den persönlichen Verhältnissen der versicherten Person. Dazu gehören nebst
den gesundheitlichen Umständen auch die erwerbsmässigen Faktoren, wenn sie
sich im konkreten Fall ändern. Vorliegend ist die Änderung des
Invaliditätsgrades jedoch nicht auf Veränderungen im konkreten Umfeld der
versicherten Person zurückzuführen, sondern allein auf eine Änderung in den
statistischen Gegebenheiten, indem die statistischen LSE-Tabellenlöhne TA1
("Total Privater Sektor", Anforderungsniveau 4 Frauen) zwischen 2002 und
2004 weniger stark zugenommen haben als der Nominallohnindex, auf welchem
die Aufrechnung des hypothetischen Valideneinkommens beruht, und zudem der
Tabellenlohn im Jahre 2004 nicht mehr auf 41,7, sondern nur noch auf 41,6
Stunden umgerechnet wird. Derartige rein extern verursachte Veränderungen
widerspiegeln nicht persönliche Verhältnisse der versicherten Person,
sondern allgemeine wirtschaftliche Entwicklungen, mit denen Gesunde wie
Invalide stets rechnen müssen (vgl. SCHLAURI, a.a.O., S. 1117).

  7.2  Hinzu kommt das praktische Problem, dass Änderungen der genannten Art
alle zwei Jahre beim Erscheinen neuer LSE-Werte auftreten können. Würde dies
allein als Revisionsgrund genügen,

so wären grundsätzlich alle zwei Jahre sämtliche Renten, die im Grenzbereich
eines Schwellenwertes liegen, daraufhin zu überprüfen, ob sich auf Grund der
geänderten statistischen Daten der Invaliditätsgrad erheblich geändert hat.
Es liegt auf der Hand, dass dies zu einem unverhältnismässigen Aufwand
führen würde. Würde eine solche Überprüfung nur bei besonderem Anlass
vorgenommen (zum Beispiel wenn wie hier eine Änderung des
Gesundheitszustandes beantragt und untersucht wird), so entstünde die Gefahr
einer rechtsungleichen Behandlung, ebenso wenn die Änderung nur auf Antrag
erfolgte. Zudem liesse sich so möglicherweise der Aufwand nicht entscheidend
verringern, weil damit zu rechnen wäre, dass Versicherte systematisch solche
Anträge stellen würden.

  7.3  Die Rechtsprechung ist deshalb dahingehend zu präzisieren, dass
geringfügige Änderungen allgemeiner statistischer Daten, die ausserhalb des
Umfelds der versicherten Person liegen, nicht zu einer Revision von
Invalidenrenten führen, selbst wenn durch solche Veränderungen der
Schwellenwert über- oder unterschritten würde. Dies gilt gleichermassen für
die Begründung oder Erhöhung eines Rentenanspruchs wie für eine Reduktion
oder Aufhebung. Im Durchschnitt ändert eine solche Praxis nichts zu Gunsten
oder zu Ungunsten der Versicherten. Im Einzelfall wird sie sich freilich
entweder zu Gunsten oder zu Ungunsten der versicherten Person auswirken;
doch ist dies im Interesse einer praktikablen Handhabung in Kauf zu nehmen.