Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 472



Urteilskopf

133 V 472

  58. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S. gegen
IV-Stelle Luzern sowie Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  I 735/05 vom 23. Juli 2007

Regeste

  Art. 8 Abs. 1 und 2, Art. 9 BV; Art. 9 ATSG; Art. 42 Abs. 3 IVG; Art. 37
Abs. 3 lit. e und Art. 38 IVV; Bundesgesetz über die Beseitigung von
Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG; SR 151.3): Bedarf
an lebenspraktischer Begleitung, Regelmässigkeit; Kostenfaktor.

  Rz. 8053 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der
Invalidenversicherung (KSIH, in der seit 1. Januar 2004 gültigen Fassung)
beinhaltet keine Verletzung des Gebots der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8
Abs. 1 BV), des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV), des
Willkürverbots (Art. 9 BV) oder des BehiG (E. 5.3.1).

  Das Gesetz macht den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung nicht davon
abhängig, ob die lebenspraktische Begleitung kostenlos erfolgt oder nicht
(E. 5.3.2).

Sachverhalt

  A.- Der 1960 geborene S. arbeitete seit 1. April 1993 bis 28. Februar 2001
als Redaktor bei der Firma Q. AG. Seit September 2000 wohnte er in einer
Wohnung des Hilfsvereins X. (nachfolgend Hilfsverein). Am 9. Januar 2001
meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Dr.
med. W., Psychiatrie/Psychotherapie FMH, stellte am 17. April 2001 folgende
Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit: bipolare affektive
Störung mit gegenwärtig mittelgradiger depressiver Episode (familiäre
Belastung); Hinweise für ängstlich-vermeidende und abhängige Persönlichkeit.
Am 13. Juni 2002 diagnostizierte er als Änderung eine verstärkte
Angstproblematik (Zukunfts- und Existenzängste, Angst vor
Menschenansammlungen). Nach wie vor bestünden starke Stimmungs- und
Antriebsschwankungen sowie eine latente Suizidalität. Theoretisch sei der
Versicherte zu 25-30 % arbeitsfähig; die Arbeitsvermittlung sei aber bisher
erfolglos gewesen. Mit Verfügung vom 17. September 2002 sprach die IV-Stelle
dem Versicherten ab 1. Februar 2002 eine ganze Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 100 % zu. Weiter gewährte sie berufliche Massnahmen in
Form einer Ausbildung bei der Institution Y. (geschützte Werkstätte) vom 13.
Januar 2003 bis 11. April 2003. Seit 14. April 2003 ist der Versicherte für
diese Institution stundenweise tätig. Im Rahmen einer Rentenrevision zog die
IV-Stelle einen Bericht des Dr. med. W. vom 30. August 2003 bei. Am 24.
Oktober 2003 schloss der Versicherte mit der Institution Z. einen ab 1.
Januar 2004 gültigen Aufenthaltsvertrag betreffend eine 2-Zimmerwohnung ab.
Mit Verfügung vom 19. November 2003 bestätigte die IV-Stelle den Anspruch
auf die bisherige Rente bei einem Invaliditätsgrad von 95,78 %. Am 23. März
2004 meldete sich der Versicherte bei der Invalidenversicherung zum Bezug
einer Hilflosenentschädigung an. Die IV-Stelle

holte einen Abklärungsbericht vom 3. August 2004 über die Abklärung an Ort
und Stelle vom 6. Juli 2004 ein. Mit Verfügung vom 7. September 2004
verneinte sie den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Die dagegen
erhobene Einsprache, mit welcher der Versicherte einen Bericht des Dr. med.
W. zuhanden der Krankenkasse vom 13. August 2004 auflegte, wies die IV-Selle
mit Entscheid vom 3. Februar 2005 ab.

  B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern mit Entscheid vom 12. September 2005 ab.

  C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Versicherte die
Aufhebung des kantonalen Entscheides, des Einspracheentscheides und der
Verfügung und die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung leichten Grades
ab 1. Januar 2004.

  Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

  Mit Eingabe vom 17. Januar 2006 hält der Versicherte an seinem Antrag
fest. Er macht neu geltend, es sei auch zu berücksichtigen, ob die
lebenspraktische Begleitung die versicherte Person etwas koste, was bei ihm
der Fall sei, oder ob sie unentgeltlich erfolge. Er legt neu Bestätigungen
vom 12. Januar 2006 über seinen Aufenthalt bei der Institution Z. sowie des
Psychiatriezentrums B. vom 13. Januar 2006 über seine Hospitalisationen in
der Psychiatrischen Klinik C. auf.

  Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

  5.

  5.2  (...) Nach Rz. 8053 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über
Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) ist die
lebenspraktische Begleitung regelmässig, wenn sie über eine Periode von drei
Monaten gerechnet im Durchschnitt mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt
wird. (...)

  5.3  (...)
  5.3.1  Insbesondere ist in Rz. 8053 KSIH keine Verletzung des Gebots der
rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV), des Diskriminierungsverbots
(Art. 8 Abs. 2 BV), des Willkürverbots (Art. 9 BV) oder des Bundesgesetzes
vom 13. Dezember 2002 über die Beseitigung

von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG; SR 151.3)
ersichtlich (vgl. die dazu ergangene Rechtsprechung: BGE 131 V 9 ff.; 130 I
352 ff.). Entgegen der Auffassung des Versicherten ist Rz. 8053 KSIH seit 1.
Januar 2004 gültig und damit auf alle Fälle betreffend
Hilflosenentschädigung im Rahmen lebenspraktischer Begleitung anwendbar.
Weiter ist der Vorinstanz beizupflichten, dass Rz. 8053 KSIH mit der Wertung
des Gesetzgebers übereinstimmt, wonach der Anspruch auf
Hilflosenentschädigung nicht bereits bei jeder Form und Dauer der
Inanspruchnahme lebenspraktischer Begleitung gegeben sein soll, sondern
vielmehr einen bestimmten minimalen Schweregrad der Hilflosigkeit
voraussetzt, damit eine entsprechende Entschädigung durch die
Invalidenversicherung gerechtfertigt ist (BGE 133 V 450 E. 6). Wenn Rz. 8053
das zeitliche Mindesterfordernis an lebenspraktischer Begleitung (im
Durchschnitt zwei Stunden pro Woche über eine Periode von drei Monaten) für
alle Versicherten gleich und unabhängig von der Höhe ihres Rentenanspruchs
definiert, ist dies entgegen dem Beschwerdeführer nicht zu beanstanden,
zumal der im Rahmen der Berentung relevante Invaliditätsgrad (vgl. Art. 16
ATSG in Verbindung mit Art. 28 IVG) keinen Bemessungsfaktor für den Bedarf
an lebenspraktischer Begleitung darstellt. Nichts anderes ergibt sich aus
Art. 42 Abs. 3 Satz 2 IVG und Art. 38 IVV, wonach für die Annahme einer
Hilflosigkeit mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente gegeben sein
muss, wenn nur die psychische Gesundheit beeinträchtigt ist. Denn dieses
Erfordernis wurde eingeführt, um sicherzustellen, dass nur Personen in den
Genuss der Hilflosenentschädigung auf Grund der Notwendigkeit
lebenspraktischer Begleitung kommen, die das Rentenverfahren durchlaufen
haben, in dessen Rahmen ihr Gesundheitszustand gründlich überprüft wurde
(Votum von Frau Bundesrätin Dreifuss, AB 2002 S 760). Psychisch behinderte
Versicherte haben mithin keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung auf
Grund lebenspraktischer Begleitung, wenn der für eine Viertelsrente
erforderliche Invaliditätsgrad von 40 % nicht erreicht wird (vgl. Art. 28
Abs. 1 IVG).

  Nach dem Gesagten lässt sich das gemäss Rz. 8053 KSIH verlangte zeitliche
Minimalerfordernis an lebenspraktischer Begleitung nicht beanstanden.

  5.3.2  Nicht gefolgt werden kann dem Einwand des Versicherten, das BSV und
die IV-Stelle müssten zumindest auch den Kosten- und nicht nur den
Zeitfaktor berücksichtigen. Denn nach Art. 42

Abs. 3 IVG ist die Beeinträchtigung der Gesundheit das Kriterium, nach dem
sich bestimmt, ob Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung auf Grund
lebenspraktischer Begleitung besteht. Rz. 8053 KSIH bezieht sich auf dieses
Kriterium, indem darin definiert wird, welche zeitliche Intensität die
Begleitung gesundheitsbedingt mindestens aufweisen muss. Hingegen macht das
Gesetz den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung nicht davon abhängig, ob
die lebenspraktische Begleitung kostenlos erfolgt oder nicht.