Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 446



Urteilskopf

133 V 446

  56. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Bundesamt für Sozialversicherungen und L. gegen IV-Stelle Bern sowie
Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  I 218/06 / I 259/06 vom 23. Juli 2007

Regeste

  Art. 44 und Art. 55 Abs. 1 ATSG; Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57
Abs. 2 BZP: Anhörung zu den Fragen an den medizinischen Gutachter im
Abklärungsverfahren.
  Art. 44 ATSG regelt die Mitwirkungsrechte bei der Anordnung eines
medizinischen Gutachtens im sozialversicherungsrechtlichen
Abklärungsverfahren insofern abschliessend, als das Bundesgesetz der
versicherten Person keinen Anspruch einräumt, sich vorgängig zu den
Gutachterfragen der Verwaltung zu äussern (E. 7).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 7

  7.  Wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren stellt die
Beschwerdeführerin den Antrag, es seien ihr die an den Gutachter zu
richtenden Fragen vorgängig bekannt zu geben, da sie sonst die
Mitwirkungsrechte gemäss Art. 44 ATSG nicht wahrnehmen könne. Die Vorinstanz
ist in diesem Punkt auf die Beschwerde nicht eingetreten.

  7.1  Gemäss der bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Rechtsordnung
war die IV-Stelle von Bundesrechts wegen nicht verpflichtet, bei der
Formulierung der Expertenfragen den versicherten Personen Mitwirkungsrechte
einzuräumen und ihre Meinung zur geplanten Fragestellung einzuholen.
Vorbehalten blieb ein allenfalls weiter gehender Anspruch gestützt auf
kantonales Recht. In jedem Fall zu gewährleisten waren die Minimalgarantien
gemäss Art. 29 Abs. 2 BV, wonach der versicherten Person Gelegenheit zu
geben ist, nach Erstellen des Gutachtens Stellung zu nehmen und allenfalls
Ergänzungsfragen zu unterbreiten. Begründet wurde diese Rechtsprechung
damit, dass die nach Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57 ff. BZP bei der
Einholung von Sachverständigengutachten zu beachtenden Mitwirkungsrechte der
Verfahrensbeteiligten (vgl. BGE 120 V 357) im Administrativverfahren der
kantonalen IV-Stellen nicht zur Anwendung kämen (vgl. BGE 125 V 401 und die
Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 88/01 vom 28. August 2003; I
565/01 vom 18. April 2002 und I 218/00 vom 14. Juni 2000). Zu prüfen ist, ob
sich unter der Herrschaft des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG
diesbezüglich etwas geändert hat.

  7.2  Der unter der Überschrift "Gutachten" im Abschnitt
Sozialversicherungsverfahren stehende Art. 44 ATSG enthält keine Vorschrift
zur strittigen Frage der vorgängigen Bekanntgabe und der Mitwirkungsrechte
bei der Formulierung von Expertenfragen. Nach Art. 55 Abs. 1 ATSG bestimmen
sich in den Art. 27 bis 54 ATSG

oder in den Einzelgesetzen nicht abschliessend geregelte Verfahrensbereiche
nach dem VwVG. Vorausgesetzt ist somit zum Mindesten eine teilweise Regelung
des Teilbereiches durch das ATSG. Massgebend ist, ob dieses eine
abschliessende Regelung enthält, was aufgrund einer Auslegung der
massgebenden Bestimmungen zu ermitteln ist. Ist das Vorliegen einer
abschliessenden Regelung zu bejahen, fällt die Anwendung des VwVG ausser
Betracht. Mit dem in Art. 55 Abs. 1 ATSG verwendeten Kriterium der
"abschliessenden" Regelung wird sodann zum Ausdruck gebracht, dass eine
bereits vorliegende Normierung des ATSG durch Heranziehen der
VwVG-Bestimmungen zusätzlich konkretisiert wird. Hingegen schliesst die
getroffene Ordnung aus, dass eine eingehendere Regelung des VwVG (vgl. dazu
Art. 4 VwVG) im Anwendungsbereich des ATSG übernommen wird. Es sind somit
nur jene VwVG- Bestimmungen ergänzend anzuwenden, die - innerhalb eines im
ATSG nicht abschliessend geregelten Verfahrensbereiches - eine Frage
ergänzend (jedoch weder vom ATSG oder den Einzelgesetzen abweichend noch
bloss eingehender regeln) beantworten (KIESER, ATSG-Kommentar, N. 5 ff. zu
Art. 55 ATSG).

  7.3  Das VwVG regelt die Frage nicht selber, sondern verweist in Art. 19
VwVG für das Beweisverfahren ergänzend auf die sinngemässe Anwendung von
Art. 37, 39 bis 41 und 43 bis 61 BZP. Gemäss Art. 57 Abs. 2 BZP gibt der
Richter den Parteien Gelegenheit, sich zu den Fragen an die Sachverständigen
zu äussern und Abänderungs- und Ergänzungsanträge zu stellen. Diese
Bestimmung bezieht sich in erster Linie auf das Gerichtsverfahren (vgl. auch
Art. 40 OG) und gilt nur "sinngemäss" für das Verwaltungsverfahren, was
erlaubt, den systembedingten Unterschieden Rechnung zu tragen. Der Wortlaut
von Art. 44 ATSG ist hinsichtlich der Anwendbarkeit dieser Bestimmungen im
Zusammenhang mit dem Gutachterrecht im sozialversicherungsrechtlichen
Abklärungsverfahren nicht schlüssig. Den Gesetzesmaterialien lässt sich dazu
ebenfalls keine klärende Antwort entnehmen. KIESER führt in seiner Übersicht
der gestützt auf Art. 55 Abs. 1 ATSG anwendbaren Bestimmungen des VwVG die
Verweisungsnorm von Art. 19 VwVG nicht an (vgl. a.a.O., N. 9 zu Art. 55
ATSG; enthalten ist sie dagegen in der Zusammenstellung von PHILIPPE GERBER,
Les relations entre la loi fédérale sur la partie générale du droit des
assurances sociales et la loi fédérale sur la procédure administrative, in:
AJP 2002 S. 1313 f.).

  7.4  Im sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahren obliegt die
Leitung des Verfahrens dem Versicherungsträger (Grundsatz des
Amtsbetriebes); dieser hat einen Sozialversicherungsfall hoheitlich zu
bearbeiten (vgl. Art. 43 ATSG) und mit dem Erlass einer materiellen
Verfügung zu erledigen (vgl. Art. 49 Abs. 1 ATSG). Partizipatorische, auf
präventive Mitwirkung im Rahmen der Gutachtensbestellung abzielende
Verfahrensrechte stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zum Gebot des
raschen und einfachen Verfahrens (vgl. Art. 61 lit. a ATSG). Anzustreben ist
ein vernünftiges Verhältnis zwischen den Mitwirkungsrechten im
Verwaltungsverfahren und dem Ziel einer raschen und korrekten Abklärung
(vgl. BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 109). Es kann daher nicht Sinn und Zweck von
Art. 44 ATSG sein, dass sich die Parteien vor oder zusammen mit der
Gutachtensanordnung über die Fragen zuhanden der medizinischen
Sachverständigen zu einigen hätten, geschweige denn, diese in einer
anfechtbaren Zwischenverfügung festzulegen wären, zumal auch die Anordnung
eines Gutachtens nicht Verfügungsgegenstand zu bilden hat (vgl. BGE 132 V
93). Dies spricht dafür, dass Art. 44 ATSG für das
Sozialversicherungsverfahren mit Bezug auf die Parteirechte hinsichtlich der
Fragen an die Sachverständigen abschliessend ist und die darüber
hinausgehende Regelung von Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57 Abs. 2 BZP
keine Anwendung findet. Die Rechte der versicherten Person bleiben insofern
gewahrt, als sie sich im Rahmen des rechtlichen Gehörs zum Beweisergebnis
wird äussern und erhebliche Beweisanträge wird vorbringen können (Art. 29
Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG; vgl. BGE 132 V 368 zum Gehörsanspruch im
sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren).

  7.5  Dies schliesst indessen nicht aus, dass zur besseren Akzeptanz in der
Praxis den Parteien die Expertenfragen vorgängig zur Stellungnahme
unterbreitet werden (vgl. MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, Kommentar zum Gesetz
vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern [VRPG],
Bern 1997, N. 25 zu Art. 19 VRPG, welches im Übrigen ebenfalls keinen
Anspruch einräumt, sich zu den Expertenfragen zu äussern). So sieht
beispielsweise Rz. 2082 des vom Bundesamt für Sozialversicherungen
herausgegebenen Kreisschreibens über das Verfahren in der
Invalidenversicherung (KSVI) im Kapitel "Medizinische Gutachten" und unter
der Überschrift "Auftragserteilung an die begutachtende Stelle" vor: "Falls
die versicherte Person Fragen stellen möchte, leitet die

IV-Stelle diese unverändert an die begutachtende Stelle weiter. Die
IV-Stelle hält in der Regel an ihrer Fragestellung fest." Gemäss Rz. 2077
KSVI sind die Modalitäten einer Begutachtung soweit möglich mit den
versicherten Personen zu besprechen.

  7.6  Die Beschwerdeführerin begründet ihren Antrag damit, nur wenn die
Fragen vorgängig genannt würden, könne sie überprüfen, ob mit Blick auf die
bereits vorliegenden Berichte ein weiteres Gutachten notwendig sei, der
vorgesehene Arzt dafür fachlich kompetent sei und ob die in Aussicht
genommenen Fragen geeignet seien, die noch bestehenden Unklarheiten zu
beseitigen. Diese Bedenken materieller Natur können nicht Gegenstand eines
Ablehnungsgesuches sein, sondern sind allenfalls im Rahmen der materiellen
Würdigung der medizinischen Unterlagen vorzubringen (BGE 132 V 93 E. 6.5 S.
108 f.). Das Nichteintreten des kantonalen Gerichts erweist sich daher als
zutreffend.