Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 37



Urteilskopf

133 V 37

  6. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S. R.
gegen 28 Krankenkassen, alle handelnd durch santésuisse Graubünden, und
Schiedsgericht Graubünden, Kranken- und Unfallversicherung
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  K 6/06 vom 9. Oktober 2006

Regeste

  Art. 56 KVG: Wirtschaftlichkeit der Behandlung.

  Für die Prüfung der Wirtschaftlichkeitsfrage ist grundsätzlich der
Gesamtkostenindex massgebend (Änderung der Rechtsprechung; E. 5.3).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 37

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

  5.

  5.3  Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie könne aufgrund ihrer
breiteren Ausbildung (Innere Medizin, Gynäkologie, Pädiatrie und ORL) viele
Leistungen direkt erbringen, ohne die Patienten an Spezialärzte oder
Spitäler zu überweisen, wie im Übrigen auch die Blaue Kommission des Bündner
Ärztevereins (in ihrem Entscheid vom 11. November 2003) anerkannt habe. Sie
rügt, das Schiedsgericht habe dieses Argument verworfen, ohne das von ihr
beantragte Beweisverfahren durchgeführt zu haben. Auch bei den Medikamenten
sei ihr Index unterdurchschnittlich. Bei einer Gesamtbetrachtung lägen die
von ihr verursachten (direkten und veranlassten)

Kosten (Gesamtkostenindex von 119 [2001] bzw. 110 Punkten [2002]) innerhalb
des Toleranzrahmens.

  5.3.1  Im angefochtenen Entscheid wird anerkannt, dass die veranlassten
Kosten bei der Beschwerdeführerin mit einem Index von 95 Punkten im Jahr
2001 und von 82 Punkten im Jahr 2002 unterdurchschnittlich ausgefallen sind.
Nach Auffassung der Vorinstanz vermag die Beschwerdeführerin daraus indessen
nichts zu ihren Gunsten abzuleiten, weil sie nicht in der Lage ist, den
Beweis zu erbringen, dass die Einsparungen in den veranlassten Kosten kausal
mit den durch die besondere Behandlung bei den direkten Arztkosten
anfallenden Mehrkosten zusammenhängen.

  5.3.2  Nach der bisherigen Rechtsprechung ist die Wirtschaftlichkeit der
Behandlung für die Bereiche der Arzt- und Medikamentenkosten getrennt zu
beurteilen (nicht veröffentlichtes Urteil vom 29. Oktober 1993, K 101/92, E.
8). Dass Mehraufwendungen in einem Leistungsbereich Minderaufwendungen in
einem anderen Leistungssegment gegenüberstehen, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht indessen unter dem Titel der kompensatorischen
Einsparungen, allerdings "nur in sehr beschränktem Masse", wie wiederholt
festgehalten wurde, berücksichtigt. Im in RKUV 1986 Nr. K 654 S. 3
auszugsweise publizierten (unter der Herrschaft von Art. 23 KUVG ergangenen)
Urteil vom 5. September 1985, K 49/84, hatte sich das Eidgenössische
Versicherungsgericht erstmals mit der Frage zu befassen, ob eine
Kompensation zwischen einem überhöhten Fallwert bei den direkten Arztkosten
(Index von 143) und unterdurchschnittlichen Medikamentenkosten (Index von
16) möglich sei. Dabei verneinte es die Frage mit der Begründung, dass
selbst wenn ein sachlicher Zusammenhang zwischen niedrigen
Medikamentenkosten (als Folge einer zurückhaltenden Verschreibungspraxis)
und hohen Arztkosten (als Folge einer intensiveren persönlichen Betreuung
durch den Arzt) bejaht würde, dies eine Kompensation nur in sehr
beschränktem Masse zu rechtfertigen vermöchte (nicht publizierte E. 5a).
Diese Rechtsprechung wurde in E. 4c des in RKUV 1988 Nr. K 761 S. 92 nur mit
den Leitsätzen wiedergegebenen Urteils vom 19. Oktober 1987, K 97/85,
bestätigt. In dieselbe Richtung zielt schliesslich das nicht veröffentlichte
Urteil vom 29. Oktober 1993, K 101/92, in dessen E. 8 ausgeführt wurde, dass
die im Bereich der Medikamentenverschreibung geübte Zurückhaltung keinen
oder nur sehr bedingten Rückschluss auf die übrige Tätigkeit des Arztes
zulasse und selbst

wenn ein Kausalzusammenhang zwischen unterdurchschnittlichen
Medikamentenkosten und hohen Arztkosten zu bejahen wäre, dies eine
Kompensation nur in sehr beschränktem Masse rechtfertigen würde. Unter
Hinweis auf die fehlende Überprüfungsmöglichkeit mangels Vorliegens
statistischer Daten wurde auch dem Argument eines Arztes, seine
Behandlungsweise ermögliche die Vermeidung einiger stationärer
Spitalaufenthalte, in BGE 119 V 455 E. 5a nicht gefolgt. In einem kürzlich
ergangenen Urteil vom 1. März 2006, K 142/05, E. 8.2.1, ging das
Eidgenössische Versicherungsgericht auf das von einer Ärztin vorgebrachte
Argument der kompensatorischen Einsparung im Zusammenhang mit
unterdurchschnittlichen Medikamentenkosten schon deshalb nicht weiter ein,
weil die Medikamentenkosten jedenfalls durch deutlich überdurchschnittliche
Arzt- und veranlasste Kosten "mehr als kompensiert" waren.

  5.3.3  Sprechen keine entscheidenden Gründe zu Gunsten einer
Praxisänderung, ist die bisherige Praxis beizubehalten. Gegenüber dem
Postulat der Rechtssicherheit lässt sich eine Praxisänderung grundsätzlich
nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis,
veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen
entspricht. Nach der Rechtsprechung ist eine bisherige Praxis zu ändern,
wenn sie als unrichtig erkannt oder wenn deren Verschärfung wegen
veränderter Verhältnisse oder zufolge zunehmender Missbräuche für
zweckmässig gehalten wird (BGE 131 V 110 E. 3.1; 130 V 372 E. 5.1, 495 E.
4.1; 129 V 373 E. 3.3; 126 V 40 E. 5a; 125 I 471 E. 4a, je mit Hinweisen).

  Eine Änderung der in E. 5.3.2 dargestellten Rechtsprechung drängt sich in
dem Sinne auf, dass im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle grundsätzlich
eine Gesamtbetrachtung Platz zu greifen hat und dementsprechend auf den die
Arzt-, die Medikamenten- und - soweit möglich - die veranlassten Kosten
berücksichtigenden Gesamtkostenindex abzustellen ist. Denn nach BGE 130 V
379 f. E. 7.4 und 7.5 erstreckt sich das Wirtschaftlichkeitsgebot auf
sämtliche Teile der ärztlichen Behandlung und findet für alle gesetzlichen
Leistungen, insbesondere auch in Bezug auf die Verordnung von Arzneimitteln,
Analysen sowie von Mitteln und Gegenständen oder die Anordnung von
Leistungen anderer Leistungserbringer, Anwendung. Aus diesem Grunde
unterliegen der Rückerstattungspflicht des Arztes oder der Ärztin wegen
unwirt  5.3.5

Wenn der Gesamtkostenindex entscheidend ist, kann es nicht ausschlaggebend
sein, ob ein Kausalzusammenhang zwischen Reduktionen bei den einen Kosten
und Mehrausgaben bei anderen Kosten nachgewiesen ist. Auch innerhalb der
direkten Arztkosten wird ein solcher nachgewiesener Kausalzusammenhang nicht
verlangt. Abgesehen davon wäre es kaum möglich (worauf auch GEBHARD EUGSTER,
Wirtschaftlichkeitskontrolle ambulanter ärztlicher Leistungen mit
statistischen Methoden, Bern 2003, S. 251 f., hinweist), einen solchen
Nachweis tatsächlich zu erbringen. Es entspricht allgemeiner
Lebenserfahrung, dass beispielsweise ein vermehrter Abklärungs-, Beratungs-
und Behandlungsaufwand sich in tieferen Medikamentenkosten niederschlagen
kann (vgl. auch EUGSTER, a.a.O., S. 255 f. Rz. 751). Wenn ein solcher
Zusammenhang tatsächlich besteht, ist dies im Rahmen der vorzunehmenden
Gesamtbetrachtung grundsätzlich zu berücksichtigen. Es geht nicht an, durch
praxisfremde Anforderungen an einen Kausalnachweis die falschen Anreize, die
durch eine getrennte Betrachtung von Arzt-, Medikamenten- und veranlassten
Kosten entstehen, zu perpetuieren. Demgegenüber rechtfertigt sich eine
Gesamtbetrachtung nicht, wenn konkrete Anzeichen bestehen, dass die
niedrigen Kosten im einen Bereich auf äussere Umstände zurückzuführen sind,
die dem Arzt oder der Ärztin gewissermassen unverdient zugute kommen. Solche
Umstände sind jedoch im Falle der niedrige veranlasste Kosten aufweisenden
Beschwerdeführerin nicht dargetan.

  5.3.6  Eine wirkliche Gesamtbetrachtung müsste allerdings auch die durch
Überweisung an Spezialärzte und Spitäler veranlassten Kosten einbeziehen,
welche Daten nicht erhoben worden sind. Die Beschwerdeführerin hat immerhin
in ihrer Klageantwort geltend gemacht, dass bei ihr auch die Zahl der
Überweisungen an Spezialisten und Spitäler unterdurchschnittlich sei, und
entsprechende Beweisanträge gestellt. Ihr Vorbringen wird untermauert durch
die Feststellung der Blauen Kommission im Entscheid vom 11. November 2003,
wonach die Beschwerdeführerin wenig Kosten für Zuweisungen an Spezialärzte
und Spitäler generiere. Unter diesen Umständen geht es nicht an, auf die
Erhebung der beantragten Beweise zu verzichten und der Beschwerdeführerin
vorzuwerfen, sie habe ihre Behauptungen nicht bewiesen. Dies gilt umso mehr,
als für den entsprechenden Nachweis nicht unbedingt eine aufwändige
Einzelfallanalyse erforderlich wäre, sondern statistische Angaben, welche am
ehesten von den Krankenversicherern beschafft

werden können, genügten (vgl. CHRISTIAN SCHÜRER, Honorarrückforderung wegen
Überarztung bei ambulanter ärztlicher Behandlung - Materiellrechtliche
Aspekte, in: Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], Wirtschaftlichkeitskontrolle in
der Krankenversicherung, St. Gallen 2001, S. 85 und 89).

  Da nach den Akten keine Hinweise bestehen, dass die Beschwerdeführerin
durch die Überweisung an Spezialärzte und Spitäler überdurchschnittliche
Kosten verursacht hat, bleibt der Gesamtkostenindex von 119 Punkten im Jahr
2001 bzw. 110 Punkten im Jahr 2002 massgebend, welcher innerhalb des gemäss
angefochtenem Entscheid auf 130 Punkte festzusetzenden Toleranzrahmens
liegt. Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz die Beschwerdeführerin zu
Unrecht zur Rückerstattung von Fr. 93'757.70 für die Jahre 2001 und 2002
verpflichtet.