Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 320



Urteilskopf

133 V 320

  43. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Bundesamt für Sozialversicherungen gegen D. sowie Obergericht des Kantons
Schaffhausen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  I 816/06 vom 19. April 2007

Regeste

  Art. 2 FZA; Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 lit. a der
Verordnung Nr. 1408/71; Art. 9 Abs. 3, Art. 13 und Art. 80a IVG:
Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71;
Anspruch auf medizinische Massnahmen eines an angeborener Epilepsie
(Geburtsgebrechen Nr. 387 GgV Anhang) leidenden, mit seinen Eltern in der
Schweiz wohnenden Kindes niederländischer Staatsangehörigkeit; Verbot der
nach Staatsangehörigkeit unterschiedlichen Behandlung.

  Ungeachtet der Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Ansprüchen
fällt der Familienangehörige eines niederländischen Erwerbstätigen in Bezug
auf Leistungen bei Geburtsgebrechen in den persönlichen Geltungsbereich der
Verordnung Nr. 1408/71 (E. 5.1-5.5).

  Medizinische Massnahmen zur Behandlung eines Geburtsgebrechens sind als
Leistungen bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung
Nr. 1408/71 zu qualifizieren (E. 5.6).

Sachverhalt

  A.- Der am 27. Januar 1997 geborene D. ist niederländischer
Staatsangehöriger und wohnt mit seinen Eltern seit 1. August 2004 in der
Schweiz. Im November 2004 meldete er sich wegen einer seit Geburt
bestehenden Epilepsie (Geburtsgebrechen Nr. 387) bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (medizinische Massnahmen) an. Mit
Verfügung vom 3. Mai 2005, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 20. Juli
2005, lehnte die IV-Stelle Schaffhausen das Begehren ab.

  B.- Die von D. hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des
Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 18. August 2006 gut, hob den
Einspracheentscheid auf und verpflichtete die IV-Stelle, D. medizinische
Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 387 zuzusprechen.

  C.- Das Bundesamt für Sozialversicherungen erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen
Entscheids.

  D. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während die IV-Stelle auf einen Antrag verzichtet.

  Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Die angeborene Epilepsie begründet grundsätzlich einen Anspruch auf
die zur Behandlung notwendigen medizinischen Massnahmen (Art. 13 IVG; Ziffer
387 GgV Anhang [SR 831.232.21]). Wäre der Beschwerdegegner Schweizer Bürger,
würde er die versicherungsmässigen Voraussetzungen (Art. 6 IVG) für
derartige Leistungen erfüllen, während er als niederländischer
Staatsangehöriger, wie unbestritten ist, weder die Voraussetzungen gemäss

Art. 6 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 3 IVG noch diejenigen gemäss Art. 11 des
Abkommens vom 27. Mai 1970 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft
und dem Königreich der Niederlande über Soziale Sicherheit (SR
0.831.109.636.2) erfüllt. Vorinstanz und Beschwerdegegner leiten den
Anspruch jedoch ab aus dem Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit
(FZA; SR 0.142.112.681) bzw. aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates
vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (nachfolgend: Verordnung Nr.
1408/71; SR 0.831.109.268.1), was nach Auffassung des beschwerdeführenden
Bundesamtes unzutreffend ist.

Erwägung 3

  3.  Gemäss Art. 2 FZA dürfen die Staatsangehörigen einer Vertragspartei,
die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei
aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäss den Anhängen I, II und
III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Nach Art.
8 FZA regeln die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit gemäss Anhang II. Im Anhang II kommen die Vertragsparteien
überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte, auf die Bezug genommen
wird, anzuwenden, wozu namentlich auch die Verordnung Nr. 1408/71 gehört.
Diese Verordnung gilt gemäss ihrem Art. 2 Abs. 1 unter anderem für
Arbeitnehmer und Selbstständige, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates
sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Ihr sachlicher
Geltungsbereich umfasst gemäss Art. 4 alle Rechtsvorschriften über Zweige
der sozialen Sicherheit, die unter anderem Leistungen bei Krankheit und
Mutterschaft (Abs. 1 lit. a) sowie Leistungen bei Invalidität
einschliesslich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der
Erwerbsfähigkeit bestimmt sind (Abs. 1 lit. b), erfassen. Die Personen, die
im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die diese Verordnung gilt,
haben gemäss Art. 3 Abs. 1 der Verordnung die gleichen Rechte und Pflichten
aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die
Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen der
Verordnung nichts anderes vorsehen. Sofern die streitige Leistung in den
Geltungsbereich

der Verordnung fällt, hat somit der Beschwerdegegner als Angehöriger eines
EU-Mitgliedstaates darauf unter den gleichen Voraussetzungen wie ein
Schweizer Bürger Anspruch, selbst wenn er die vom Gesetz für ausländische
Staatsangehörige vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl. Art. 80a
IVG; BGE 131 V 390 E. 5.2 S. 397 und E. 7.2 S. 401 mit Hinweisen).

Erwägung 4

  4.

  4.1  Die Vorinstanz erwog, der Leistungsansprecher falle als
Familienangehöriger eines in der Schweiz wohnenden niederländischen
Erwerbstätigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr.
1408/71. Zwar bestünden für Familienangehörige nur abgeleitete, und keine
eigenen, ausschliesslich den Arbeitnehmern zustehenden Ansprüche; die
Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten gelte jedoch nicht
für Familienleistungen im Sinne der Art. 72 ff. der Verordnung. Die
medizinischen Massnahmen zur Behandlung eines Geburtsgebrechens seien als
Leistung bei Krankheit gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung zu
qualifizieren und würden demnach auch in den sachlichen Geltungsbereich der
Verordnung fallen. Der Leistungsansprecher habe daher gemäss Art. 3 der
Verordnung Nr. 1408/71 Anspruch auf eine diskriminierungsfreie Behandlung,
d.h. auf die gleiche Behandlung wie Schweizer Bürger, zumal auch Art. 48 der
Verordnung, der eine Leistungsverweigerung bei Versicherungs- oder
Wohnzeiten von weniger als einem Jahr vorsehe, auf Krankheitskosten bzw.
medizinische Massnahmen zur Behandlung eines Geburtsgebrechens nicht
anwendbar sei.

  4.2  Das beschwerdeführende Bundesamt macht demgegenüber geltend, der
Beschwerdegegner falle als nie erwerbstätig gewesenes Kind eines
niederländischen Staatsangehörigen bezüglich der beantragten medizinischen
Massnahmen nicht unter den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr.
1408/71, da es sich dabei weder um abgeleitete Rechte noch um Ansprüche auf
Sachleistungsaushilfe im Rahmen der Krankenversicherung, sondern um eigene
Ansprüche des Versicherten handle. Auch in der Botschaft zum FZA sei
festgehalten worden, dass frühinvalide Personen als Nichterwerbstätige
gälten, die von den Koordinierungsregeln nicht erfasst würden.

  4.3  Der Beschwerdegegner bringt vor, bei den streitigen Ansprüchen handle
es sich um abgeleitete Rechte, die auch den Familienangehörigen

zustünden und aufgrund von Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71
diskriminierungsfrei zu gewähren seien. Des Weitern sehe Art. 18 der
Verordnung vor, dass die im EU-Ausland zurückgelegten Versicherungszeiten an
die in der Schweiz zurückgelegten Zeiten anzurechnen seien. Zudem stünden
ihm gemäss BGE 132 V 184 E. 5.2.2 S. 192 die medizinischen Leistungen auch
dann zu, wenn es sich um eigene Rechte handelte. Das Diskriminierungsverbot
ergebe sich sodann schon unmittelbar aus Art. 2 FZA sowie Art. 3 und 9
Anhang I FZA.

Erwägung 5

  5.

  5.1  Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut. Im Text von Art. 2 Abs.
1 der Verordnung Nr. 1408/71 wird zwar zwischen Arbeitnehmern und
Selbstständigerwerbenden einerseits sowie deren Familienangehörigen
andererseits unterschieden. Hingegen lässt sich dem Wortlaut nicht
entnehmen, dass den Familienangehörigen nur abgeleitete, nicht aber eigene
Rechte zustünden.

  5.2  Der bis 21. Juni 1999 ergangenen, gemäss Art. 16 Abs. 2 FZA vom
Bundesgericht bei der Anwendung des Abkommens zu berücksichtigenden
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) lässt
sich Folgendes entnehmen:
  5.2.1  In einem Fall, in welchem der Familienangehörige auch
Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates war, entschied der EuGH, dass
aufgrund von Art. 2 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1408/71 den
Familienangehörigen eines Arbeitnehmers im Rahmen des sachlichen
Geltungsbereichs die gleichen Rechte zustehen müssen wie den
Staatsangehörigen des eigenen Landes, dass mithin Beihilfen an ein
behindertes Kind eines Wanderarbeitnehmers unter den gleichen
Voraussetzungen gewährt werden müssen wie den eigenen Staatsangehörigen
(Urteil des EuGH vom 17. Juni 1975 in der Rechtssache 7-75, Eheleute F.,
Slg. 1975, S. 679).

  5.2.2  Im Urteil des EuGH vom 23. November 1976 in der Rechtssache 40-76,
Kermaschek, Slg. 1976, S. 1669, wurden - in einem Sachverhalt, in welchem
die familienangehörige Person selber nicht Staatsangehörige eines
Mitgliedstaates war - im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71
den Familienangehörigen nur abgeleitete Rechte zugestanden, d.h. solche, die
sie als Familienangehörige eines Erwerbstätigen erworben haben. Demzufolge
konnten sich behinderte Familienangehörige nicht auf die Verordnung Nr.
1408/71 berufen, um Beihilfen zu erlangen, die nach nationalem

Recht den Behinderten aus eigenem Recht zustanden, jedoch nur den eigenen
Staatsangehörigen gewährt wurden (Urteil des EuGH vom 8. Juli 1992 in der
Rechtssache C-243/91, Taghavi, Slg. 1992, I-4401, Randnr. 9). Diese
Rechtsprechung wurde in der Folge auch angewendet, wenn der
Familienangehörige selber die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates
besass (Urteil des EuGH vom 27. Mai 1993 in der Rechtssache C-310/91,
Schmid, Slg. 1993, I-3011, Randnr. 13).

  5.2.3  Die Tragweite dieser Rechtsprechung beschränkte der EuGH im Urteil
vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996,
I-2097, auf Ansprüche, die nach dem nationalen Recht nur Arbeitnehmern, die
Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, und nicht deren
Familienangehörigen gewährt werden, wie namentlich die
Arbeitslosenleistungen; demgegenüber wurde das Altersversorgungssystem der
(nie erwerbstätig gewesenen) Witwe eines Wanderarbeitnehmers dem
Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 unterstellt, weil die
Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten für den
hinterbliebenen Ehegatten zu einem Ausschluss vom Schutz durch das
grundlegende Gebot der Gleichbehandlung führen würde (Randnr. 23 f., 34, 43
f.; vgl. BGE 132 V 184 E. 5.2.2 S. 192). Insoweit wird also nicht mehr
zwischen eigenen und abgeleiteten Ansprüchen unterschieden.

  5.2.4  In der Folge hat der EuGH einerseits die Weitergeltung der
Rechtsprechung Kermaschek (welche zwischen abgeleiteten und eigenen
Ansprüchen differenziert) für die Arbeitslosenentschädigung bestätigt
(Urteil vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C-189/00, Ruhr, Slg. 2001,
I-8225, Randnr. 12 und 21 f.; Urteil vom 21. Februar 2006 in der Rechtssache
C-286/03, Hosse, Slg. 2006, I-1771, Randnr. 53). Andererseits hat er
festgehalten, dass (im Sinne der Rechtsprechung Cabanis-Issarte) in Bezug
auf Familienleistungen (Art. 4 Abs. 1 lit. h sowie Art. 72 ff. der
Verordnung Nr. 1408/71) die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten
Ansprüchen nicht anwendbar ist (Urteile vom 10. Oktober 1996 in den
Rechtssachen C-245/94 und C-312/94, Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895,
Randnr. 32 f.; vom 15. März 2001 in der Rechtssache C-85/99, Offermanns,
Slg. 2001, I-2261, Randnr. 34; vom 5. Februar 2002 in der Rechtssache
C-255/99, Humer, Slg. 2002, I-1205, Randnr. 51 f.). Zu den
Familienleistungen gehören Leistungen, die dem Unterhalt der Familie dienen
(Urteil Offermanns, a.a.O.,

Randnr. 38 ff.), z.B. Alimenten- oder Unterhaltsbevorschussungen (Urteile
Humer, a.a.O., Randnr. 33; Offermanns, a.a.O., Randnr. 49), woran der
Umstand nichts ändert, dass die Leistungen dem Kind und nicht dem Elternteil
zustehen (Urteil Humer, a.a.O., Randnr. 50). In Bezug auf die anderen
Leistungen gemäss Art. 4 der Verordnung Nr. 1408/71, die weder
Arbeitslosenentschädigungen noch Familienleistungen sind, hat sich der EuGH
bis zum 21. Juni 1999, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich zur Frage
geäussert, ob darauf die Kermaschek- oder die Cabanis-Issarte-Rechtsprechung
anwendbar ist. In den Urteilen vom 3. Oktober 1996 (Rechtssache C-126/95,
Hallouzi-Choho, Slg. 1996, I-4807, Randnr. 30) und vom 15. Januar 1998
(Rechtssache C-113/97, Babahenini, Slg. 1998, I-183, Randnr. 24) hat er aus
einer ähnlich lautenden Bestimmung in den Abkommen zwischen der EWG und
Marokko bzw. Algerien das Verbot einer auf der Staatsangehörigkeit
beruhenden Ungleichbehandlung in Bezug auf Alters- oder
Behindertenleistungen an Familienangehörige abgeleitet, wobei er allerdings
ausgeführt hat, dass sich der persönliche Geltungsbereich gemäss diesen
Abkommen nicht mit demjenigen von Art. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 decke.
Im Urteil vom 29. Oktober 1998 in der Rechtssache C-185/96, Griechische
Republik, Slg. 1998, I-6601, führt der EuGH, ohne zwischen eigenen und
abgeleiteten Rechten zu unterscheiden, unter Hinweis auf das zit. Urteil
Cabanis-Issarte aus, Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 könne auch von den
Familienangehörigen angerufen werden (Randnr. 28). Unter Bezugnahme auf das
zit. Urteil Eheleute F. führt er im Urteil vom 3. Juni 1999 in der
Rechtssache C-211/97, Gomez-Rivero, Slg. 1999, I-3219, aus, den
Familienangehörigen eines Arbeitnehmers müssten die gleichen Rechte zustehen
wie den Staatsangehörigen des gleichen Landes, ebenfalls ohne zwischen
eigenen und abgeleiteten Rechten zu differenzieren (Randnr. 26).

  5.3  In der schweizerischen Lehre wird zum Teil - ohne auf die
Rechtsprechung Cabanis-Issarte einzugehen - die Unterscheidung von eigenen
und abgeleiteten Rechten weitergeführt (MARIA VERENA BROMBACHER STEINER, Die
soziale Sicherheit im Abkommen über die Freizügigkeit der Personen, in:
Felder/Kaddous [Hrsg.], Accords bilatéraux Suisse - UE, Basel 2001, S. 353
ff., 360) und daraus gefolgert, dass z.B. Leistungen für Geburtsgebrechen
nicht vom FZA, sondern allenfalls von den bilateralen Abkommen mit einzelnen
Staaten abgedeckt seien (Beatrix de Cupis, Les prestations de l'AVS et de
l'AI, in: Erwin Murer [Hrsg.], Das Personenverkehrsabkommen

mit der EU und seine Auswirkungen auf die soziale Sicherheit der Schweiz,
Bern 2001, S. 141 ff., 148 f.). BETTINA KAHIL-WOLFF (La coordination
européenne des systèmes nationaux de sécurité sociale, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht, Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007, S. 149
ff., 180 Rz. 36) stellt unter Hinweis auf die Rechtsprechung Cabanis-Issarte
Leistungen bei Krankheit den Familienleistungen gleich, scheint aber für
Leistungen der Invalidenversicherung die Weitergeltung der
Kermaschek-Rechtsprechung zu bejahen, zitiert dafür allerdings nur Urteile,
die vor dem Urteil Cabanis-Issarte ergangen sind. Später bejaht sie aber den
persönlichen Anwendungsbereich für Leistungen der IV, namentlich
Eingliederungsmassnahmen (KAHIL-WOLFF, Das EuGH-Urteil in der Rechtssache
Hosse und andere Entwicklungen rund um die Verordnung 1408/71, in: SZS 2007
S. 78 ff., 81 f.). Das (damalige) Eidgenössische Versicherungsgericht hat in
BGE 132 V 184 E. 5.3 S. 192 die Frage nach der Tragweite der
Cabanis-Issarte-Rechtsprechung offengelassen.

  5.4  In der gemeinschaftsrechtlichen Lehre wird die Weitergeltung der
Kermaschek-Rechtsprechung auch für Leistungen bei Berufskrankheiten und
Arbeitsunfällen bejaht (Prodromos Mavridis, La sécurité sociale à l'épreuve
de l'intégration européenne, Athen 2003, S. 317 Fn. 794; Jürgen Stahlberg,
Europäisches Sozialrecht, Bonn 1997, S. 201). Bei diesen Leistungen handelt
es sich - ähnlich wie bei den Arbeitslosentschädigungen - um Ansprüche, die
den versicherten Arbeitnehmern zustehen, nicht den Familienangehörigen.
Demgegenüber stehen die Leistungen bei Geburtsgebrechen den Kindern bzw.
Jugendlichen persönlich zu, also Personen, welche typischerweise nicht
Arbeitnehmer sind. Es handelt sich somit nicht um Leistungen, welche nach
dem nationalen Recht nur Arbeitnehmern gewährt werden. Gemäss dem Urteil
Cabanis-Issarte findet demnach die Rechtsprechung Kermaschek auf diese
Leistungen keine Anwendung und die Unterscheidung zwischen eigenen und
abgeleiteten Ansprüchen ist insoweit nicht massgebend.

  5.5  Damit ergibt sich, dass der Beschwerdegegner als Familienangehöriger
eines niederländischen Erwerbstätigen in Bezug auf die Leistungen bei
Geburtsgebrechen ungeachtet der Unterscheidung zwischen eigenen und
abgeleiteten Ansprüchen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung
Nr. 1408/71 fällt und sich damit grundsätzlich auf das Verbot einer nach
Staatsangehörigkeit unterschiedlichen Behandlung berufen kann (Art. 3 der
Verordnung

Nr. 1408/71; Urteile Griechische Republik, a.a.O., Randnr. 28, und
Gomez-Rivero, a.a.O., Randnr. 26). Der Hinweis des beschwerdeführenden
Bundesamtes auf die Aussage in der Botschaft vom 23. Juni 1999 zur
Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG,
wonach Leistungen für Frühinvalide von den Koordinationsregeln nicht erfasst
würden (BBl 1999 S. 6128 ff., 6342), ändert daran nichts, zumal diese
Aussage im Zusammenhang mit dem Export von ausserordentlichen Renten steht
(vgl. dazu auch BGE 131 V 390 E. 7 S. 401) und nicht auf das Verbot der
direkten Diskriminierung hinsichtlich Sachleistungen bezogen werden kann.

  5.6  Voraussetzung für die Anwendung von Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71
ist weiter, dass die fragliche Leistung in den sachlichen Geltungsbereich
gemäss deren Art. 4 fällt.

  Die Vorinstanz ist mit Recht davon ausgegangen, dass die Leistungen bei
Geburtsgebrechen zu den "Leistungen bei Krankheit oder Mutterschaft" im
Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung Nr. 1408/71 gehören. Zwar
werden diese Leistungen nach schweizerischem Recht in erster Linie von der
Invalidenversicherung gedeckt. Die in Art. 4 der Verordnung Nr. 1408/71
enthaltenen Leistungsumschreibungen sind jedoch nicht nach Massgabe des
innerstaatlichen Rechts, sondern nach gemeinschaftsrechtlichen Kriterien zu
verstehen (BGE 132 V 46 E. 3.2.3 S. 49). Da die Bestimmungen über die
Invalidität in Titel III Kapitel 2 der Verordnung Nr. 1408/71 einzig
Geldleistungen regeln, sind medizinische Sachleistungen, mit Einschluss von
Pflegekosten, welche bei Krankheit oder Mutterschaft erbracht werden, als
Leistungen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung zu betrachten,
unabhängig von der Art der Rechtsvorschriften, in denen diese Leistungen
vorgesehen sind (Urteile des EuGH vom 10. Januar 1980 in der Rechtssache
69-79, Jordens-Vosters, Slg. 1980, S. 75, Randnr. 6-9; vom 5. März 1998 in
der Rechtssache C-160/96, Molenaar, Slg. 1998, I-843, Randnr. 23-25; Urteil
Hosse, a.a.O., Randnr. 44; URSULA HOHN, Rechtsprobleme bei der Umsetzung des
Koordinationsrechts in der Krankenversicherung, in: Thomas Gächter [Hrsg.],
Das europäische Koordinationsrecht der sozialen Sicherheit und die Schweiz,
Zürich 2006, S. 61 ff., 77 f.; EDGAR IMHOF, Eine Anleitung zum Gebrauch des
Personenfreizügigkeitsabkommens, in: Hans-Jakob Mosimann [Hrsg.], Aktuelles
im Sozialversicherungsrecht, Zürich 2001, S. 19 ff., 81). Geburtsgebrechen
stellen eine besondere Form von

Krankheit dar (Art. 3 Abs. 2 ATSG; THOMAS LOCHER, Grundriss des
Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, S. 111, 228). Die zu ihrer
Behandlung notwendigen medizinischen Massnahmen sind daher Leistungen bei
Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung Nr. 1408/71
(gleicher Auffassung: KAHIL-WOLFF, a.a.O., in: SZS 2007 S. 78 ff., 83; vgl.
auch BGE 132 V 46 E. 3.2.3 S. 49 f. in Bezug auf Hilfsmittel). Diese
Qualifikation rechtfertigt sich umso eher, als Leistungen bei
Geburtsgebrechen subsidiär auch durch die obligatorische
Krankenpflegeversicherung gedeckt werden (Art. 27 KVG).

  5.7  Sind somit die Voraussetzungen des persönlichen und sachlichen
Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71 gegeben, ist gemäss deren Art. 3
eine auf die Staatsangehörigkeit abstellende Ungleichbehandlung unzulässig.
Weil schweizerische Staatsangehörige in der Lage des Beschwerdegegners
Anspruch auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen haben, muss
dasselbe somit auch für den Beschwerdegegner gelten, auch wenn er die für
ausländische Staatsangehörige geltenden gesetzlichen Vorschriften nicht
erfüllt. Dies gilt aufgrund von Art. 94 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr.
1408/71 auch in intertemporaler Hinsicht (BGE 132 V 46 E. 3.2.1 S. 48; 131 V
390 E. 3.2 S. 395).