Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 201



Urteilskopf

133 V 201

  27. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. G.
gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern sowie Verwaltungsgericht des Kantons
Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  H 73/06 vom 26. Januar 2007

Regeste

  Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG: Beitragspflicht nichterwerbstätiger Personen.
  Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG ist auch anwendbar, sobald die
nichterwerbstätige versicherte Person nach Eintritt des ersten
Versicherungsfalles Alter bei ihrem erwerbstätigen Ehegatten genügend
Einkommen ausweist, um in den Genuss der maximalen Altersrente entsprechend
den erworbenen Beitragsjahren bei Vollendung des 64. oder 65. Altersjahres
zu kommen (Präzisierung der Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 49; E. 4.3).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.

  2.1  Die Versicherten sind beitragspflichtig, solange sie eine
Erwerbstätigkeit ausüben. Für Nichterwerbstätige beginnt die Beitragspflicht
am 1. Januar nach Vollendung des 20. Altersjahres und dauert bis zum Ende
des Monats, in welchem Frauen das 64. und Männer das 65. Altersjahr
vollendet haben (Art. 3 Abs. 1 AHVG). Die eigenen Beiträge gelten als
bezahlt, sofern der Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des
Mindestbeitrages bezahlt hat, u.a. bei nichterwerbstätigen Ehegatten von
erwerbstätigen Versicherten (Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG).

  2.2  Im Urteil H 127/03 vom 29. Oktober 2003 (BGE 130 V 49) hat das
ehemalige Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden: Die Tatsache,
dass eine versicherte Person, die eine Altersrente der AHV bezieht,
weiterhin ein Erwerbseinkommen erzielt und Beiträge in mindestens der
doppelten Höhe des Mindestbeitrages entrichtet, führt nicht zur Befreiung
des nichterwerbstätigen Ehegatten von der Beitragspflicht. Art. 3 Abs. 3
lit. a AHVG ist in diesen Fällen nicht anwendbar (BGE 130 V 49 E. 3.2.2 S.
51).

  In Anwendung dieser Rechtsprechung hat die Ausgleichskasse
Nichterwerbstätigenbeiträge für 2003 erhoben, was das kantonale Gericht
bestätigt hat.

Erwägung 3

  3.  In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eine Präzisierung der
Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 49 beantragt. Danach soll Art. 3 Abs. 3 lit.
a AHVG seinem Wortlaut entsprechend ebenfalls zur Anwendung gelangen, wenn
dem nichterwerbstätigen Ehegatten nach der Einkommensteilung - bei Eintritt
des zweiten Versicherungsfalles Alter (vgl. Art. 29quinquies Abs. 3 lit. a
und Abs. 4 lit. a

AHVG) - auch unter Berücksichtigung der nach Eintritt des ersten
Versicherungsfalles erworbenen Beitragsjahre ohne Gutschrift des hälftigen,
nicht rentenbildenden Einkommens des andern erwerbstätigen Ehegatten, eine
(maximale) Vollrente zustehe. In solchen Fällen werde der Sinn und Zweck des
Splitting nicht verletzt und eine Abweichung vom klaren Gesetzeswortlaut
lasse sich deshalb auch nicht begründen. Die Beschwerdeführerin habe
aufgrund ihrer Beiträge und Beitragsjahre in jedem Fall Anspruch auf eine
(maximale) Vollrente. Sie habe daher für 2003 keine
Nichterwerbstätigenbeiträge zu bezahlen.

  Das kantonale Gericht hat die beantragte Präzisierung der Rechtsprechung
mit der Begründung abgelehnt, BGE 130 V 49 lasse für eine Differenzierung im
dargelegten Sinne keinen Raum.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Es steht ausser Frage, dass nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 lit.
a AHVG (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 1 erster Satz
AHVG) die eigenen Beiträge einer nichterwerbstätigen Person auch als bezahlt
zu gelten haben, wenn deren erwerbstätiger Ehegatte Anspruch auf eine
Altersrente hat und Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des
Mindestbeitrages entrichtet. Das Gesetz differenziert nicht danach, ob der
erwerbstätige Ehegatte eine Altersrente (vor-)bezieht oder nicht. Das
damalige Eidgenössische Versicherungsgericht sah jedoch einen triftigen
Grund, vom klaren Gesetzeswortlaut abzuweichen und Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG
bei nichterwerbstätigen Ehegatten von erwerbstätigen Bezügern einer
Altersrente nicht anzuwenden, im Umstand, dass gemäss Art. 29quinquies Abs.
3 lit. a und Abs. 4 lit. a AHVG e contrario die nach Eintritt des
Versicherungsfalles Alter beim zuerst rentenberechtigten Ehegatten erzielten
beitragspflichtigen Einkommen nicht der Teilung und gegenseitigen je
hälftigen Anrechnung ("Splitting") unterliegen (vgl. BGE 127 V 361,
insbesondere S. 366 E. 5; ferner BGE 129 V 124). Gälten auch für diese
Zeiten die Beiträge der nichterwerbstätigen Person als durch den
erwerbstätigen Ehegatten bezahlt, würden ihr zwar nach Art. 29ter Abs. 2
lit. b AHVG die entsprechenden Jahre als Beitragsjahre angerechnet. Es
könnten ihr indessen keine rentenbildenden Erwerbseinkommen im Sinne von
Art. 29quater lit. a AHVG (durch Splitten des vom anderen Ehegatten
erzielten Einkommens) gutgeschrieben werden. Das entspräche indessen nicht
der mit der Einführung des Splitting im Rahmen der 10. AHV-Revision
verfolgten Zielsetzung, dass im

Unterschied zu früher alle Nichterwerbstätigen grundsätzlich
beitragspflichtig sein sollen (BGE 130 V 49 E. 3.2.2 S. 50).

  4.2  Hauptgrund für das Eidgenössische Versicherungsgericht, Art. 3 Abs. 3
lit. a AHVG entgegen seinem klaren Wortlaut bei nichterwerbstätigen
Ehegatten erwerbstätiger Rentenbezüger nicht anzuwenden, war somit die
Erhöhung des für die Berechnung der Altersrente massgebenden
durchschnittlichen Jahreseinkommens nach Art. 30 AHVG. Dieses Ziel ist
indessen nicht mehr erreichbar, sobald die nichterwerbstätige Person nach
Eintritt des ersten Versicherungsfalles Alter bei ihrem (weiterhin)
erwerbstätigen Ehegatten genügend Einkommen für den Anspruch auf die
entsprechend den erworbenen Beitragsjahren bei Vollendung des 64. (bis 31.
Dezember 2004: 63.) oder 65. Altersjahres nach Art. 21 Abs. 1 AHVG maximale
Altersrente ausweist. Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG entgegen seinem klaren
Wortlaut auch in solchen Fällen nicht anzuwenden, erforderte einen ebenso
klar erkennbaren abweichenden Willen (qualifiziertes Schweigen) des
Gesetzgebers, was jedoch nicht zutrifft (vgl. zur Entstehungsgeschichte
dieser Vorschrift BBl 1990 II 150 sowie AB 1991 S 254 f., 1993 N 212 f. und
248, 1994 S 546 und 593).

  4.3  Im Sinne des Dargelegten ist BGE 130 V 49 E. 3.2.2 am Ende S. 51 zu
präzisieren. Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG ist auch anwendbar, sobald die
nichterwerbstätige Person nach Eintritt des ersten Versicherungsfalles Alter
bei ihrem erwerbstätigen Ehegatten genügend Einkommen ausweist, um in den
Genuss der entsprechend den erworbenen Beitragsjahren bei Vollendung des 64.
oder 65. Altersjahres nach Art. 21 Abs. 1 AHVG ihr zustehenden maximalen
Altersrente zu kommen.

  4.4  Das Bundesamt für Sozialversicherungen beantragt in seiner
Vernehmlassung sogar eine Praxisänderung in dem Sinne, dass Art. 3 Abs. 3
lit. a AHVG ausnahmslos bei allen nichterwerbstätigen Versicherten
anzuwenden ist, deren erwerbstätiger Ehegatte eine Altersrente bezieht. Zur
Begründung weist die Aufsichtsbehörde u.a. auf die erste Botschaft vom 21.
Dezember 2005 zur 11. AHV-Revision (Neufassung; BBl 2006 S. 1957 ff.) hin.
In dieser Revisionsvorlage schlägt der Bundesrat einen neuen Art. 3 Abs. 4
lit. b AHVG vor, wonach Absatz 3 auch Anwendung findet für die
Kalenderjahre, in denen der erwerbstätige Ehegatte eine Altersrente bezieht
oder aufschiebt (BBl 2006 S. 2003 und 2045). Es besteht indessen kein
Anlass, in diesem Sinne zu entscheiden, umso weniger,

als National- und Ständerat die Beratung der Vorlage noch nicht in Angriff
genommen haben. Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin unter
Berücksichtigung der anrechenbaren Einkommen bis zum Eintritt des
Versicherungsfalles Alter bei ihrem Ehegatten im Juli 2002 sowie der Anzahl
Beitragsjahre bei Vollendung des 63. Altersjahres im Januar 2004 ebenso wie
ihr Ehemann Anspruch auf die maximale Vollrente hätte, als Folge der
Plafonierung jedoch lediglich 75 % der einfachen Höchstrente von Fr. 2'110.-
ausbezahlt erhält. Damit sind aber nach dem Gesagten die Voraussetzungen für
eine Beitragsbefreiung gegeben.